Wirtschaft

Kein Wachstum um jeden Preis – ein Zukunftstrend?

Bionorica-Dialog: Ökonomische Ziele und gesellschaftliche Verantwortung

BERLIN (diz) | Ist das Streben nach ökonomischem Wachstum wirklich der Königsweg für eine langfristige Wohlstandssicherung? Diese Frage stand im Mittelpunkt des Bionorica-Dialogs am 20. November 2013 in Berlin, zu dem der Phytohersteller zahlreiche Gäste eingeladen hatte. Prof. Dr. Michael Popp, Vorstandsvorsitzender von Bionorica, hatte zur Klärung dieser Frage den Historiker und Zukunftsforscher Prof. Dr. Horst Opaschowski gebeten. Der Zukunftswissenschaftler plädierte für einen nachhaltigen Wohlstand, für eine Zukunft der Verantwortung und nicht für Wachstum um jeden Preis.

Ein Credo von Bundeskanzler Ludwig Erhard lautete „Wohlstand für alle“. In der Nachkriegszeit konnte der zweite Kanzler der Bundesrepublik mit dem Versprechen punkten, dass sich immer mehr Menschen immer mehr Konsumgüter leisten können sollen. Allerdings zeichnete sich schon damals ab, dass dieser Weg rasch zur Maßlosigkeit führen konnte. Erhard musste den Appell zum Maßhalten nachschieben. Denn ein steigender Lebensstandard muss nicht zwangsläufig zu mehr Lebensqualität führen, wie sich herausstellte. So wisse man heute, erklärte Opaschowski, dass eine Wohlstandskrise schnell zu einer Krise der Lebensqualität führe. Die Folgen: Menschliche Beziehungen leiden, Wachstum geht zulasten von Natur und Umwelt. Daher, so der Zukunftswissenschaftler, ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts, Wohlstand neu zu definieren. Es sind Antworten zu finden auf die Frage: Was macht eigentlich ein gutes Leben aus? Als Beispiel nannte Opaschowski die Volksrepublik China. Dieses Land wird nicht umhin können, darüber nachzudenken, ob es weiterhin mit Wachstum um jeden Preis leben will. „Giftige Luft, die zu Atemnot führt – so riecht die Wohlstandsexplosion“, veranschaulichte es der Zukunftsforscher.

Von gestern: mein Haus, mein Auto, mein Boot

Auch in den westlichen Ländern fühlen sich viele Bürger mit dem ständigen Wachstum um jeden Preis nicht mehr wohl. Aktuelle Umfragen zeigen, dass die Menschen ihre Lebensqualität heute als schlechter einstufen als noch vor einigen Jahren. Die Menschen streben nach anderen Werten als nur nach Haus, Auto und Boot. Der Wunsch nach Sicherheit steht in der Werteskala heute weiter vorne als der Wunsch nach Freiheit. An vorderster Stelle allerdings findet sich der Wunsch, frei von Sorgen zu sein, wie Opaschowski aus eigenen Umfragen weiß. Wachstum sei kein Selbstzweck, sondern solle Wohlstand und Lebensqualität bringen. Opaschowskis Zwischenresümee: Das nur auf materielles Wohlstandsdenken fixierte Leben hat keine Zukunft mehr. Es ist ein grundlegender Perspektivenwechsel festzustellen: vom Wohlleben zum Wohlergehen. „Wohlergehen für alle“ wird bedeutsamer als „Wohlstand für alle“.

So wird auch Wohlstand viel differenzierter betrachtet als noch vor einigen Jahren. Man unterscheidet dabei ökonomischen, ökologischen, gesellschaftlichen und individuellen Wohlstand. Es geht nicht nur darum, immer mehr zu erwirtschaften, Wohlstand soll in den Augen der Menschen vor allem Sicherheit bringen. Die Wohlstandsformel in Bertolt Brechts Dreigroschenoper „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“ wird neu bewertet. Wohlstand wird, so Opaschowski, zu einer Frage des sozialen Wohlergehens.

Die Zukunftstrends

In Zukunft kann Wohlstand auch bedeuten, weniger Güter zu besitzen und doch besser zu leben. Eine Neubesinnung auf das Beständige findet statt. Und das ist immer weniger eine Frage des Geldes. Die Deutschen wollen – vor die Alternative gestellt – lieber glücklich als reich sein. Wohlstand im 21. Jahrhundert bedeutet daher: sorgenfrei, ohne Zukunftsangst leben zu können. Nach Auffassung von Opaschowski kristallisieren sich vier Zukunftstrends heraus:

1. Die neue Wachstumsagenda lautet: Streben nach einem besseren Leben. Ein Wachstum um jeden Preis ist dabei nicht mehr das Ziel. Vielmehr sollen Natur, Kultur und Familie mit dem materiellen Wachstum in Einklang gebracht werden.

2. Wohlstandspolitik als Wohlfahrtspolitik. Angestrebt wird ein Wohlergehen für alle. Wohlstand ist eine Frage des persönlichen Wohlergehens. Wohlstand ist auch mit wenigen Gütern möglich. Man legt mehr Wert auf nachhaltigen Wohlstand. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Den Menschen geht es in Zeiten zwischen Not und Überfluss am besten. Gefragt ist in Zukunft ein maßvolles Leben.

3. Gesundheitsorientierung als neue Zukunftsreligion. Die Gesundheit wird zum Megamarkt der Zukunft. In der immer älter werdenden Gesellschaft boomen Bio- und Gentechnologie, Forschungsindustrien und Pharmaforschung gegen Krebs, Alzheimer und Demenz sowie gesundheitsnahe Branchen. Das Gesundheitswesen nimmt beinahe die Form einer Kirche an. Gesundheit bekommt in Zukunft fast Religionscharakter. Es geht um das Sich-Wohlfühlen in der eigenen Haut, um Fitness, um Wellness. Die Gesundheit stellt den wichtigsten Wert im Leben dar.

4. Familie und Wahlfamilie als Zukunftstrend. Für drei Viertel der Deutschen ist die Ehe mit Familie und Kindern das erstrebenswerte Ziel. Dabei werden heute auch Freunde zur Familie gerechnet, es zeigt sich ein erweitertes Familienverständnis. Als Beispiel nannte der Zukunftswissenschaftler die Alten-WGs: Immer mehr ältere Menschen wollen nicht mehr in Altersheimen leben, sie ziehen gemeinsam in eine Wohnung oder in ein Haus und gründen eine Wohngemeinschaft.

Für Menschen ohne Partner, die als Single leben, bedeutet dies, verlässliche Netze zu knüpfen. Sie suchen sich lebenslange Begleiter und Freunde bis ins hohe Alter. Denn man hat festgestellt, so Opaschowski: „Wer sich um andere sorgt, lebt länger. Und wer sich nicht sozial verhält, setzt sein Leben aufs Spiel.“ Im Klartext: Ältere, die sich um ihre Enkel kümmern, verlängern ihre Lebenszeit. Generationenbeziehungen werden in Zukunft wichtiger als Partnerbeziehungen.

Neuer Wohlstandsmaßstab

Das Fazit: Wir brauchen einen neuen Wohlstandsmaßstab, der nicht nur von den Börsenkursen abhängig ist. Es wird eine Wohlstandswende kommen. Vielen wird es ökonomisch nicht mehr so gut gehen wie heute, viele werden ärmer sein als heute, aber nicht unglücklicher. Was in Zukunft mehr zählt, sind Ehrlichkeit, Einigkeit, Verantwortung, mehr Flexibilität, Gerechtigkeit, Gesundheit und Stressfreiheit. Die Zukunft muss eine Ära der Verantwortung werden. Offen bleibt, wie dann der einzelne leben will.

Opaschowski hat zur Beantwortung dieser Frage die zehn Gebote des 21. Jahrhunderts parat:

1. Bleib nicht dauernd dran; schalt doch mal ab.

2. Versuche nicht, permanent deinen Lebensstandard zu verbessern oder ihn gar mit Lebensqualität zu verwechseln.

3. Mach die Familie zur Konstante deines Lebens und ermutige Kinder zu dauerhaften Bindungen.

4. Knüpf dir ein verlässliches soziales Netz, damit dich Freunde und Nachbarn als soziale Konvois ein Leben lang begleiten können.

5. Definiere deinen Lebenssinn neu: Leben ist die Lust zu schaffen.

6. Genieße nach Maß, damit du länger genießen kannst.

7. Mach nicht alle deine Träume wahr; heb dir noch unerfüllte Wünsche auf.

8. Du allein kannst es, aber du kannst es nicht allein: Hilf anderen, damit auch dir geholfen wird.

9. Tu nichts auf Kosten anderer oder zulasten nachwachsender Generationen: Sorge nachhaltig dafür, dass das Leben kommender Generationen lebenswert bleibt.

10. Verdien dir deine Lebensqualität – durch Arbeit oder gute Werke: Es gibt nichts Gutes; es sei denn, man tut es.

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