Gendiagnostik

Stratifizierte Pharmakotherapie - was heute schon möglich ist

Von Peter Ditzel | Mit einer "One size fits all"-Therapie, einer Arzneitherapie, die Patienten mit gleichem Krankheitsbild mit einer Standardtherapie behandeln will, kommt man heute nicht mehr weit. Während man eine Therapie schon seit Langem ans Alter, ans Gewicht des Patienten anpasst, berücksichtigt man seit vielen Jahren zum Beispiel auch klinische Parameter wie Funktionswerte von Nieren und Leber und errechnet die geeignete Dosierung. Heute geht man einen Schritt weiter: man versucht, die Pharmakotherapie zu personalisieren, zu individualisieren. Im Vordergrund steht die Erkenntnis, nicht eine Krankheit zu behandeln, sondern den Patienten. Möglich wird dies durch die Erfolge in der Genanalyse, mit deren Hilfe man feststellen kann, ob ein Arzneistoff beim Patienten überhaupt wirken kann und ob der Patient mit Unverträglichkeitsreaktionen darauf antwortet.

Als vor einigen Jahren die Begriffe der individualisierten oder personalisierten Medizin geprägt wurden, war die Euphorie mindestens so groß wie die Erwartungshaltung, die mit diesen Begriffen verknüpft wurde. Die Begriffe erweckten Vorstellungen von einer auf jeden einzelnen Patienten zugeschnittenen personalisierten Medizin und von individuell hergestellten "maßgeschneiderten" Arzneimitteln, was weder praktikabel noch ökonomisch wäre. Solche Begriffe und Vorstellungen führten zu Verwirrungen. Heute unterscheidet man genauer, zumindest in Fachkreisen.

Da es hier um eine Arzneimitteltherapie geht, sollte man zunächst eher mit dem Begriff der Pharmakotherapie arbeiten und nicht mit dem Wort Medizin. Und dann ist zwischen einer stratifizierten und einer personalisierten Pharmakotherapie zu unterscheiden.

  • Bei einer stratifizierten Pharmakotherapie werden über bestimmte Merkmale (Biomarker, Enzyme) Untergruppen von Patienten definiert werden, für die dann an diese Merkmale angepasste Therapieschemata erarbeitet werden. Dabei bedient man sich aus dem vorhandenen Arzneischatz und wählt daraus diejenigen Arzneimittel aus, die zu den molekularen Krankheitscharakteristika passen und zur individuellen Enzymausstattung des Patienten. Vor allem interessieren hier solche Enzyme, die für die Aufnahme, die Verteilung, den Abbau und die Ausscheidung von Arzneimitteln verantwortlich sind.
  • Bei der personalisierten Pharmakotherapie wird dagegen mit einem spezifischen Arzneimittel behandelt, das nur für eine Person angefertigt wurde und für diese geeignet ist. Ein Beispiel hierfür ist die Herstellung einer Tumorvakzine, bei der dem Tumor Material entnommen wird, das in vitro aufbereitet und dem Patienten als Vakzine zurückgespritzt wird.

Stratifizierte Pharmakotherapie bedeutet die passende Therapie für die richtige Patientengruppe zur richtigen Zeit. Die Arzneitherapie wird an die individuellen Patientenprobleme angepasst.

Suche nach Biomarkern

Um nun entscheiden zu können, ob ein Arzneimittel zu einer bestimmten Gruppe von Patienten passt, sucht man nach Biomarkern, also charakteristischen biologischen Merkmalen, die objektiv gemessen werden können und die eine Aussage erlauben, ob ein Arzneistoff überhaupt wirken kann, ob er verstoffwechselt wird oder eher unzumutbare Nebenwirkungen hervorruft. Dabei unterscheidet man im Wesentlichen prädiktive Biomarker und pharmakokinetische/pharmakodynamische Biomarker.

Ein prädiktiver Biomarker gibt Auskunft darüber, ob ein Patient auf einen Wirkstoff überhaupt anspricht. Um dies festzustellen, werden Zielstrukturen für Wirkstoffe untersucht, beispielsweise Enzyme, Ionenkanäle und Rezeptoren.

Solche Strukturen können allerdings Mutationen aufweisen, die die Wirkung der Arzneistoffe beeinflussen können. Hier unterscheidet man erworbene Mutationen, die nur in krankem Gewebe vorkommen (z. B. Überexpression von Herceptin-Rezeptoren im Tumorgewebe des Brusttumors), von den ererbten Mutationen, die in jeder Zelle vorhanden sind und auch aus allen Zellen nachgewiesen werden können. Dabei handelt es sich beispielsweise um Mutationen in Genen, die für Proteine codieren, die eingenommene Arzneimittel chemisch verändern, um sie beispielsweise für die Ausscheidung vorzubereiten oder um Prodrugs in die Wirkform zu überführen. Solche therapierelevanten Mutationen können sich beispielsweise auf die Metabolisierung eines Statins oder eines Thrombozytenaggregationshemmers auswirken.

"Individuell und plausibel"

Dass der Apotheker im Rahmen der stratifizierten Pharmakotherapie eine besondere Rolle übernimmt, dafür macht sich Prof. Dr. Theo Dingermann, Institut für Pharmazeutische Biologie, Universität Frankfurt, stark (siehe hierzu auch das DAZ-Gespräch zur stratifizierten Pharmakotherapie am Ende dieses Beitrags). Seine Vorstellung: Wenn das aktuelle Paradigma der evidenzbasierten Medizin noch "prospektiv und doppelblind" lautet, so könnte das Paradigma in Zukunft "individuell und plausibel" heißen: also weg von einer Leitlinien-basierten Pharmakotherapie, hin zu einer Anpassung der Arzneitherapie an individuelle Patientenprobleme, so seine Aussage. Mit einer stratifizierten Pharmakotherapie auf Grundlage einer molekularen Diagnostik, die den Genotyp des Patienten darlegt, werden sich Wirksamkeit und Verträglichkeit vorhersagen lassen. Es können Subklassen von Patienten definiert werden, bei denen die herkömmliche Therapie nicht anspricht oder bei denen sich sogar schwere bis lebensbedrohliche Nebenwirkungen einstellen. Kennt man nun den Genotyp eines Patienten, lässt sich beispielsweise die Dosis individuell an diesen Typ anpassen. Dingermann setzt sich dafür ein, dass sich pharmakogenetisches Wissen stärker im Bewusstsein von Arzt und Apotheker verankern. Als Ziel der stratifizierten Pharmakotherapie formulierte er: "Das richtige Arzneimittel in der richtigen Dosis für den richtigen Patienten zur richtigen Zeit – hier muss der Apotheker als Arzneimittelfachmann nach dem Stand des Wissens Verantwortung übernehmen."


Die Gen-Ausstattung eines Menschen beeinflusst Proteine, die an der Absorption, der Verteilung, dem Metabolismus und der Sekretion beteiligt sind, aber auch die Zielstruktur, wie z. B. die Rezeptoren selbst.

Die Therapie effektiver machen

Das in der Arzneimitteltherapie bisher praktizierte "One-fits-all-Prinzip" führt dazu, dass je nach Indikationsgebiet 20 bis 80 Prozent der behandelten Patienten einen ungenügenden Nutzen aus ihren Arzneimitteln ziehen oder Nebenwirkungen ausgesetzt sind, die unter Umständen vermeidbar wären. Die Pharmaindustrie sieht daher in der stratifizierten Pharmakotherapie eine Weiterentwicklung auf dem Weg hin zu einer effektiveren Therapie, so Dr. Hagen Pfundner, Vorstand der Roche Pharma AG. Es sollen allerdings keine individuellen Therapien für jeden Patienten entwickelt werden. Ziel ist es vielmehr, Patientengruppen zu identifizieren, die von einer Therapie besonders profitieren, oder solche Patienten auszuschließen, die besonders starke Nebenwirkungen entwickeln. Auch er geht davon aus, dass in Zukunft mehr und mehr über Biomarker und Bioinformatik entschieden wird, welche Therapie für welche Patientengruppe geeignet ist.


Die stratifizierte Pharmakotherapie unterscheidet sich von der herkömmlichen Pharmakotherapie dadurch, dass man mithilfe einer stratifizierenden Diagnostik Gruppen von Patienten bildet, die nicht vom Arzneimittel A profitieren oder sogar unter unerwünschten Wirkungen leiden würden. Diese Patienten werden dann mit Wirkstoff B therapiert.

Stratifizierte Therapie in der Praxis

Einen festen Platz hat sich die stratifizierte Medizin bereits in der Rheumatologie erobert. Mit ihrer Hilfe lässt sich vorhersagen, ob ein Patient auf ein bestimmtes Arzneimittel zur Behandlung der Rheumatoiden Arthritis anspricht. Viele der hier eingesetzten modernen Arzneistoffe wie beispielsweise Rituximab, Toclizumab oder Abatacept sind teuer. Um zu vermeiden, dass solche Arzneimittel bei Patienten angewandt werden, deren Enyzmsystem und Metabolismus nicht mit diesen Stoffen zurecht kommen (Non-Responder), versucht man über entsprechende Biomarker und Tests die Effizienz zu verbessern. Durch den Einsatz solcher Tests konnten die Vorhersagen zur Wirksamkeit bereits von 30 auf 70 Prozent gesteigert werden, so die Erfahrungen aus Studien.

Auch in der Onkologie verspricht man sich viel vom Einsatz der stratifizierten Pharmakotherapie. Da die Individualität eines Tumors auch eine auf den einzelnen Patienten abgestimmte Vorgehensweise und Behandlung erfordert, kommt der stratifizierten Medizin eine besondere Bedeutung zu. Allerdings unterscheidet man hier zusätzlich die zielgerichtete von der stratifizierten Therapie. "Targeted therapies ("zielgerichtete Therapien) greifen so gezielt wie möglich in gestörte Regulationsvorgänge maligner (bösartiger) Zellen ein, zum Beispiel bei der Therapie des Nierenzellkarzinoms. Bei der stratifizierten Behandlung sucht man dagegen zunächst nach entsprechenden Biomarkern, gegen die sich die Therapie richten kann.

Ein Beispiel ist die Therapie des Mammakarzinoms, bei dem als Zielstruktur überexprimierte HER2-Rezeptoren vorhanden sein können. Auch beim Kolonkarzinom kennt man mittlerweile Biomarker wie das Kras-Gen. Tumore können ein normales Kras-Gen haben (Wildtyp-Kras) oder ein nicht normales, mutiertes Kras-Gen. Der Kras-Status eines Tumors kann das Ansprechen auf zielgerichtete Arzneimittel (EGFR-Antikörper) voraussagen, die den epidermalen Wachstumsfaktorrezeptor EGFR als Ziel haben. Denn nur ein nicht mutiertes Kras-Gen spricht auf die EGFR-Antikörper-Behandlung an.

Ein weiterer Schritt hin zu einer Individualisierung der Krebstherapie könnte in Zukunft die Impfung mit Tumorantigenen, also Strukturen von Krebszellen, sein, die den Körper zur Bildung tumorspezifischer Abwehrzellen anregt.


Personalisierte Diagnostik mit dem neuen PET-MRT


Hightech in Heidelberg Kombination von Magnetresonanz- und Positronen-Emissions-Tomographie
Fotos: DAZ/diz

Fortschritte gibt es nicht nur in der stratifizierten Therapie, sondern auch in der personalisierten Diagnostik. Im DKFZ Heidelberg steht seit November 2012 eines von weltweit erst 30 installierten Geräten, die eine nichtinvasive medizinische Bildgebung von hervorragender Auflösung erlauben. Das Gerät ermöglicht die Kombination der Magnetresonanz-Tomographie (MRT) mit der Positronen-Emissions-Tomographie (PET).

Im Vergleich zur Kombination von PET mit der Computertomographie (CT), die seit Jahren z. B. bei der Diagnostik onkologischer, entzündlicher und neurodegenerativer Erkrankungen etabliert ist, bietet die PET-MRT eine hohe räumliche Auflösung und scharfe Kontraste der Weichteile wie innere Organe, Muskulatur, Gehirn. Gleichzeitig ist durch Verzicht auf die CT die Strahlenbelastung deutlich reduziert. Wie Professor Schlemmer vom DKFZ Heidelberg anmerkt, lässt sich mit dieser Diagnostik erkennen, wo der Tumor sitzt, wie aggressiv er ist und ob er gestreut hat. Es lassen sich sogar innerhalb eines Tumors Areale unterschiedlicher Aggressivität erkennen. Mit der vorherigen Gabe von Radiotracern (besondere Radiopharmaka) lassen sich Tumorherde mithilfe der PET-MRT-Diagnostik finden.

Genaue Lokalisation und Größe des Tumors feststellbar durch personalisierte Diagnostik

Nach Einschätzung von Schlemmer reift diese neue Technik immer weiter aus, sie dürfte bei einer Vielzahl von Krankheitsbildern eingesetzt werden. Allerdings, so gibt er zu bedenken, sollte die Genauigkeit der Diagnosen und die Wirtschaftlichkeit ausreichend durch Studien belegt werden. Eine Untersuchung mit dem PET-MRT kostet etwa 4500 Euro, mit dem PET-CT dagegen etwa 1500 Euro. Hinzu kommt der Aufwand für die Entwicklung der Radiotracer, die eine Zulassung als Arzneimittel benötigen und somit hohe Entwicklungskosten verursachen.

Als Tandem: Diagnostikum und Arzneimittel

Auf ein definiertes Tandem von Arzneimittel und Diagnostikum setzt die pharmazeutische Industrie, wenn sie in Richtung stratifizierter Therapie denkt. Wie Dr. Sabine Sydow vom Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller (vfa, Abteilung bio), Berlin, erklärt, können mit der stratifizierten Therapie erfolglose Behandlungen eingespart werden. Schon heute liegt der Anteil an Studien, bei denen Arzneimittel über die Bestimmung von Biomarkern gezielt eingesetzt und dosiert werden, bei rund 20 Prozent, Tendenz steigend. Wie einer Internetseite des Verbands der Forschenden Arzneimittelhersteller (www.vfa.de/personalisiert) zu entnehmen ist, sind derzeit in Deutschland bereits 31 Wirkstoffe zugelassen, für die ein diagnostischer Vortest vorgeschrieben oder empfohlen ist. Dazu gehören beispielsweise im onkologischen Bereich Arzneistoffe wie Trastuzumab bei Brustkrebs oder Vemurafenib beim Melanom, vor deren Anwendung ein Test auf bestimmte Biomarker durchgeführt werden muss oder sollte.

Kostensenkungen werden nicht versprochen

Was die wirtschaftliche Seite betrifft, so ist die pharmazeutische Industrie selbst der Auffassung, dass eine stratifizierte Therapie nicht zwangsläufig Einsparungen nach sich zieht: "Wir versprechen keine Kostensenkung", heißt es aus den Reihen der forschenden Industrie, aber es soll ein Zusatznutzen und Kosteneffizienz geschaffen werden.

Dipl.-Ök. Martin Frank, Institut für Versicherungsbetriebslehre, Uni Hannover, hat sich die ökonomische Seite der stratifizierten Therapie angesehen. So bedeutet es auf der einen Seite eine Verschwendung, wenn ein Arzneimittel beispielsweise bei einem Non-Responder eingesetzt wird, bei dem es also nicht wirken kann oder unzumutbare Nebenwirkungen hervorruft. Eine gezielte Diagnostik könnte hier helfen, das für den Patienten passende Arzneimittel bzw. die passende Dosis zu ermitteln.

Auf der anderen Seite hat aber die Diagnostik ihren Preis. Und diese ist wiederum abhängig von der Sensitivität und Spezifität der Tests und davon, ob man gute Biomarker hat.

Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit die pharmazeutische Industrie Interesse an einer stratifizierten Therapie haben kann, da dadurch die verordnete Menge an Arzneimitteln und damit der Umsatz möglicherweise rückläufig wären. Ein Anreiz für die Pharmaindustrie könnten allerdings solche Arzneimittel für die stratifizierte Therapie sein, die obligatorisch einen Diagnostiktest verlangen und zusammen mit dem Arzneimittel in den Handel kommen (companion diagnostics). Franks Fazit: Sinkende Kosten in der Arzneimitteltherapie werden durch die stratifizierte Therapie nicht zu erwarten sein.

Tumor-Centrum: Erst Genanalyse, dann Therapie

Die größten Fortschritte bei der Umsetzung einer stratifizierten Therapie, einer maßgeschneiderten Diagnostik und Behandlung, sind im Bereich der Kebsmedizin zu sehen. Ein Grund dafür ist nach Aussage von Prof. Dr. Otmar D. Wiestler, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg, dass die Krebsforschung in den letzten Jahrzehnten viele Erkenntnisse über die individuellen Unterschiede gewonnen hat, auf welchen Wegen bei zwei unterschiedlichen Patienten eine Krebserkrankung entsteht.

Das Deutsche Krebsforschungszentrum hat bereits damit begonnen, bei einer zunehmenden Zahl von Krebspatienten, die im Nationalen Centrum für Tumormedizin (NCT) in Heidelberg behandelt werden, das komplette Erbgut der Krebszellen zu lesen. Prof. Wiestler: "Es werden alle 30.000 Gene analysiert, um eine umfassende Übersicht zu bekommen, welche Veränderungen im Erbgut bei diesen speziellen Patienten an der Entstehung der Krankheit beteiligt sind. Damit haben wir eine Handhabe, um zu fragen: Gibt es bei den bereits verfügbaren oder gerade in der Entwicklung befindlichen Medikamenten solche, die genau diese Veränderungen angehen, die wir bei dem Patienten gefunden haben? Wir möchten diese beiden Gebiete ganz konsequent zusammen bringen: Krebsgenom-Untersuchungen bei jedem Patienten und dann maßgeschneiderte Therapie, wann immer sie verfügbar ist."

Das DKFZ will sich daher an der Entwicklung solcher Arzneimittel beteiligen, die aufgrund von Forschungsergebnissen am DKFZ maßgeschneiderte Therapien erlauben. Die Strategie ist also: Entwicklung neuer zielgerichteter Behandlungsmöglichkeiten und umfassende Charakterisierung des Tumorgewebes bis zur Sequenzierung des gesamten Erbgutes. DKFZ, NCT und das Universitätsklinikum Heidelberg wollen so zu Pionieren der individualisierten Krebsmedizin werden.

Unterstützt wird diese Strategie durch das Heidelberger Institut für personalisierte Onkologie (HIPO). Ziel des HIPO ist es, für die individualisierte Behandlung von Krebspatienten ein Arsenal an diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen aufzubauen. Bis zum Jahr 2015 soll beispielsweise jedem der 10.000 Krebspatienten, die in Heidelberg behandelt werden, eine komplette Erbgutanalyse angeboten werden. Dafür müssen enorme Ressourcen für die Genomsequenzierung und die bioinformatische Analyse aufgebaut und angeboten werden. Die Untersuchungen müssen dann mit klinischer Expertise verknüpft werden. Hierfür will das HIPO die translationale Onkologie des NCT nutzen, ein Zweig der Onkologie, der den Fortschritt in der klinischen Krebstherapie beschleunigen will durch rasche Umsetzung neuester Forschungsergebnisse in klinische Studien.

Nach Einschätzung von Wiestler werden – mit der zunehmenden Zahl von neuen gezielt wirksamen Arzneimitteln und dem zunehmenden Einsatz molekularer Untersuchungen des Krebsgewebes betroffener Patienten – in den nächsten 10 bis 20 Jahren bei jedem Patienten solche Analysen und spezifisch wirksame Behandlungsmöglichkeiten der stratifizierten Medizin eingesetzt.

Der Krebsforscher fügte hinzu, dass man zunehmend darüber nachdenken müsse, welche Kombination unterschiedlicher Behandlungsverfahren für einen betroffenen Patienten sinnvoll ist: neue maßgeschneidert wirkende Arzneimittel, herkömmliche Zytostatika, Immuntherapie, innovative Verfahren der Strahlentherapie und chirurgische Ansätze. Wiestler: "Die Kunst wird darin bestehen, für den einzelnen Patienten herauszufinden, welche Kombination bei ihm wirkt."


"Personalisiert" – mal wörtlich genommen


Dass man den Begriff einer "personalisierten Arzneimitteltherapie" auch noch anders verstehen kann – und zwar ohne aufwendige Biomarker- und Genchip-Diagnostik – zeigen die Überlegungen von Prof. Dr. Walter E. Haefeli, Abt. Klinische Pharmakologie und Pharmaepidemiologie, Uniklinik Heidelberg. Er will den Modebegriff der "personalisierten Medizin" viel weiter verstanden wissen, nämlich als eine Arzneitherapie, die die persönlichen Umstände des Patienten berücksichtigt. Dazu gehören beispielsweise auch seine Lebensumstände, seine Ernährungsgewohnheiten. Ärzte und Apotheker können und sollten bei der Verordnung und Abgabe der Arzneimittel stärker berücksichtigen, welche Arzneiform sich für den Patienten am besten eignet. Hat der Patient beispielsweise Schluckbeschwerden, sind eher flüssige Arzneiformen, falls vorhanden, vorzuziehen. Oder leidet er unter Rheuma und hat rheumatische Finger, mit denen er nicht mehr richtig greifen kann, sollte auf ein leichtes Öffnen von Packungen geachtet werden und Tabletten verordnet werden, die keine Teilung erfordern. Schon heute ist es möglich, bei multimorbiden Patienten, die mehrere Arzneimittel einnehmen müssen, stärker auf mögliche Interaktionen mit anderen Arzneimitteln oder mit der Nahrung zu achten.

Vor allem sollte dem Patienten ein leicht verständlicher schriftlicher (!) Medikationsplan an die Hand gegeben werden, aus dem er jederzeit ersehen kann, wann er welches Arzneimittel einnehmen sollte und wofür bzw. wogegen es wirkt. Letztlich gehört auch dazu, den Patienten ausreichend zu motivieren, seine Arzneimittel korrekt einzunehmen. So lässt sich die Compliance stärken – eine Voraussetzung für jede Therapie. Fazit von Haefeli: Die individuellen Bedürfnisse des Patienten sollten in die "Personalisierung" mit einbezogen werden.

Totalsequenzierung – wer darf was wissen?

Ein Aspekt darf bei der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms, wie sie im Rahmen der zielgerichteten Behandlungsmöglichkeiten vorgenommen wird, allerdings nicht vergessen werden: die rechtlichen, ökonomischen und auch ethischen Fragen. Der Leiter der Abteilung Molekulare Genetik am DKFZ, Prof. Dr. Peter Lichter, macht darauf aufmerksam: Werden Tumorgenome komplett sequenziert, gewinnen die Forscher und Mediziner eine Menge an Informationen – viel mehr Informationen, als notwendig sind. Aus diesen Informationen lassen sich z. B. Risiken für weitere Erkrankungen ermitteln. Unter Umständen möchte der Patient diese so gewonnenen Informationen ebenfalls wissen oder auch nicht. Sollen solche Daten dann von vornherein gelöscht werden? Was ist, wenn der Patient zehn Jahre später vielleicht doch die Ergebnisse wissen will? Wem sollen die sensiblen Daten zugänglich sein? Sollen sie in internationalen Forschungsverbünden zur Verfügung stehen, in Datenbanken verschlüsselt und gesichert werden? Hinzu kommen ökonomische Fragen wie: Welche Tests werden von den Versicherungsträgern erstattet? Dennoch, Lichter ist überzeugt, dass sich die Totalsequenzierung von Krebszellen in absehbarer Zeit als diagnostisches Mittel etabliert.


Quellen:

Symposium "Personalisierte Medizin", LAK Baden-Württemberg, Heidelberg, 26. 9. 2012

Presseworkshop "Personalisierte Onkologie – die Zukunft der Krebsmedizin", Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg, 17. 1. 2013

Gespräch mit Professor Dingermann, Institut für Pharmazeutische Biologie, Biozentrum, Frankfurt

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