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- DAZ 39/2013
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Praxis
Trau keinem über 25 …
Über Lagertemperaturen in Apotheken: nachgedacht und nachgerechnet
Die Lösung scheint auf der Hand zu liegen: Eine Klimatisierung mit Kühloption muss her. Das bedeutet Investitionen im fünfstelligen Bereich sowie beträchtliche Folgekosten für den Energieaufwand. Ob dieser Energieaufwand für die Kühlung bei nur 20 kWh pro m² Apothekenfläche und Jahr liegt oder auch bei einem Vielfachen, hängt sehr von den individuellen Gegebenheiten ab:
- vom Klimageschehen am Ort (Hamburg hat eben ein anderes Temperaturprofil als Freiburg),
- von der Gebäudestruktur und -substanz,
- von der Belüftung sowie
- vom Wärmeeintrag (u.a. durch die Beleuchtung und die EDV sowie durch die Personen in der Apotheke, von denen jede mit rund 100 Watt „heizt“).
Mit Investitionen Energie sparen
Dem Apothekenleiter sei erst einmal ans Herz gelegt, diesen Wärmeeintrag zu betrachten. Das hat insofern Charme, als sich die Investition in neue, energieeffiziente LED-Beleuchtungskörper rechnet und mit der Zeit sogar beträchtliche Kosten spart. Ein Sonnenschutz oder eine bessere Belüftung kommen ebenfalls als kostengünstige und kostensparende Maßnahmen infrage. So kann es gelingen, die geforderten Lagerbedingungen ohne zusätzlichen Energieaufwand einzuhalten und dabei sogar noch Energie zu sparen.
Nichtsdestotrotz dürfte in vielen Fällen eine Klimaanlage notwendig sein, und dann stehen durchaus viele tausend zusätzliche Kilowattstunden jährlich auf der Stromrechnung. Jede Kilowattstunde elektrischer Energie bedeutet beim gegenwärtigen Stromerzeugungs-Mix eine CO2-Emission von etwa 550 bis 600 g (das entspricht etwa 3 bis 5 km Autofahrt). Nebenbei: Der gesamte Energieaufwand für den Betrieb einer durchschnittlichen Apotheke schlägt heute mit etwa 300 bis 400 g CO2 je verkaufter Packung zu Buche (mit großen individuellen Abweichungen).
Angesichts der Tatsache, dass allenthalben Energieeinsparungen und CO2-Minimierungen eingefordert werden, lohnt es sich, den Sinn energieintensiver Maßnahmen kritisch zu hinterfragen. So stellt sich die Frage: Was bedeutet es eigentlich für die Arzneimittelsicherheit, wenn die geforderte Lagertemperatur nicht eingehalten wird? Wohlgemerkt: Wir reden vom „Generalalphabet“ und den üblichen Lagerräumen, die gemäß Apothekenbetriebsordnung stets unter 25 °C zu halten sind. Wir reden nicht über Kühlschranklagerung und Kühlkettenpflicht – die strikte Befolgung der Vorsichtsmaßnahmen für temperaturempfindliche Arzneimittel dürfte unstrittig sein. Im Folgenden geht es aber um die Masse des Warenlagers, um Arzneimittel, die beim Patienten dann gerne im Badezimmerschränkchen oder gar auf der Fensterbank ihr Restdasein fristen.
Temperaturabhängige Zersetzungsprozesse
Wir erinnern uns – der eine noch gut, der andere mit Grauen angesichts der umfänglichen Rechnerei – an Stabilitätstests und Zersetzungskinetiken, an „Stresstests“, mit denen es möglich ist, die Stabilität eines Wirkstoffs und eines kompletten Fertigarzneimittels vorherzusagen.
Die meisten Zersetzungsprozesse gehorchen einer Kinetik 1. Ordnung bzw. lassen sich in guter Näherung darauf zurückführen. Kennt man die Zersetzungsgeschwindigkeit bei verschiedenen Temperaturen, dann lässt sich mittels der Arrhenius-Gleichung eine Extrapolation auf die Geschwindigkeitskonstanten bei höheren oder niedrigeren Temperaturen vornehmen – zumindest solange sich nicht die Reaktionskinetik durchgreifend verändert oder anderweitige Zersetzungsprozesse ins Spiel kommen. Lange Rede, kurzer Sinn: Wenn man weiß, wie rasch sich ein Wirkstoff im jeweiligen Fertigarzneimittel bei beispielsweise 10 °C, 20 °C und 30 °C zersetzt, dann kann man daraus auf die Zwischentemperaturen oder auch (in Maßen) über den untersuchten Bereich hinaus Schlussfolgerungen ziehen. Und genau dies ist hier im Rahmen einer Simulation getan worden.
Worst-case-Szenario
In der Simulation geht es um zwei Arzneimittel, einen „Kurzläufer“ und einen „Langläufer“ mit einer deklarierten Mindesthaltbarkeitsfrist von 52 Wochen bzw. 260 Wochen. Die Arzneimittel enthalten einen instabilen Wirkstoff, sodass ihr Wirkstoffgehalt bis zum Ende der jeweiligen Frist auf exakt 90% fällt, und zwar bei einer konstanten Lagertemperatur von 25 °C und einer relativen Luftfeuchtigkeit von 60%. Dies entspricht „subtropischen“ Langzeittest-Lagerbedingungen bei den amtlich geforderten Stabilitätstests, sofern dort nicht von vornherein bei 30 °C und 65% r. F. getestet wird. In Abbildung 1 ist beispielhaft ein idealisiertes Arrheniusdiagramm – eine „perfekte“ Gerade – dargestellt, deren Steigung die Veränderung der Zerfallskonstanten mit der Temperatur und somit die (In-)Stabilität anzeigt. Bereits bei einer nur um 5 °C auf 30 °C erhöhten Lagertemperatur sinkt der Wirkstoffgehalt der Arzneimittel bis zum Ende der Frist auf 82,5%. Solche Arzneimittel erfüllen kaum die Minimalerfordernisse – und dürften aufgrund dieser Befunde wohl Probleme bei der Zulassung haben. Aber wir haben bewusst diesen „worst case“ gewählt und kein Arzneimittel, dessen Wirkstoffgehalt auch bei schlechten Lagerbedingungen deutlich über 90% bleibt.
Wie schaut es nun mit dem Wirkstoffgehalt der beiden Arzneimittel aus, wenn die Grenztemperatur von 25 °C nur hin und wieder überschritten wird? Hierzu werden zwei Szenarien durchgespielt:
- Die konstante Lagertemperatur von 25 °C wird im Sommerhalbjahr dreimal während drei, vier und dann noch einmal drei Wochen um 5 °C überschritten; insgesamt zehn Wochen im Jahr herrschen also konstant 30 °C.
- Es herrscht ein dem jahreszeitlichen Verlauf angepasstes Temperaturprofil von 21 bis 25 °C, unterbrochen von den o.a. Hitzephasen mit 30 °C während insgesamt zehn Wochen im Jahr (Abb. 2).
Unterschiede praktisch irrelevant
Die Ergebnisse der Simulation mögen überraschen: Höchstens 1,5% zusätzliche Wirkstoffeinbuße in beiden Arzneimitteln bedeutet die zehnwöchige Wärmebelastung (30 °C) im Jahr (Tab. 1, Szenarien A und B). Unter therapeutischen Aspekten ist eine solche Differenz völlig bedeutungslos. Falls es, wie praktisch zu erwarten, auch einmal kühlere Lagerphasen gibt (Szenario C), wird die Differenz marginal (0,36%). Entscheidend ist nämlich die „mittlere kinetische Temperatur“, die aufgrund des nichtlinearen Zusammenhangs zwischen Zersetzungsgeschwindigkeit und Temperatur vom arithmetischen Mittel abweicht. Deshalb sind dauerhafte (!) Überschreitungen der Grenztemperatur durchaus kritisch zu sehen (siehe Szenarien D und E in Tab. 1).
Einzelfallbetrachtung nötig
In diesem Zusammenhang könnten sich einige Kommissionierautomaten als problematisch entpuppen, insbesondere wenn sie in niedrigen, schlecht belüfteten Kellerräumen stehen. Der ständige Energieeintrag durch die Elektronik, bewegte Mechanik sowie die Beleuchtung bei gleichzeitig schlechter Belüftung lassen die Temperaturen bisweilen längere Zeit über die erlaubten 25 °C ansteigen, manchmal sogar außerhalb der Sommermonate.
Zum Rechnen
Interessenten erhalten die Stabilitätssimulation (in Excel) vom Autor – eine E-Mail genügt.
Und wie sind die gesetzgeberischen Initiativen zu beurteilen, die Lieferfahrzeuge der Pharmagroßhandlungen grundsätzlich zu klimatisieren? Eine Ausliefertour dauert nur wenige Stunden, und eine kurzzeitige Erwärmung spielt, wie bereits gesagt, unter kinetischen Aspekten kaum eine Rolle – ausgenommen sehr hohe Temperaturen, die z.B. zum Schmelzen von Zäpfchen oder zum Zusammenbruch galenischer Strukturen führen. Extreme Hitze, für die Fahrzeuge in praller Sonne freilich anfällig sind, muss also unbedingt vermieden werden. Ob dies europaweit zwingend Klimaanlagen voraussetzt, sei dahingestellt, zumindest erscheinen Zweifel angebracht. Ein weiteres kostenträchtiges Thema dürften konsequenterweise die Klimabedingungen in mancher Lagerhalle des Großhandels werden.
Probleme pragmatisch lösen
Wir sehen hier wieder das so beliebte „Mücke-und-Elefant-Spiel“: Aus der Mücke wird ein Elefant gemacht; doch hinterher ist das Geschrei groß, wenn zwar der Elefant unterhalten werden muss, die Kostenträger aber nur die Aufwendungen für eine Mücke bezahlen wollen. Ganz abgesehen von dem umweltpolitischen Aspekt, ob es opportun ist, einen hohen energetischen Aufwand für einen im Grunde vernachlässigbaren Zugewinn an Qualität und Sicherheit zu treiben.
Somit liegt die Lösung wie so oft in der pragmatischen Mitte: Es erscheint unter pharmazeutischen Aspekten vertretbar, gelegentliche und nicht allzu große Temperaturüberschreitungen im allgemeinen Warenlager zu akzeptieren. Handlungsbedarf besteht sicher dann, wenn deutlich zu warme Lagerbedingungen nicht nur kurzfristig auftreten.
Ein stures Beharren auf reinen Rechtspositionen mag andere Schlussfolgerungen nahelegen. Eine pharmazeutische Fachaufsicht sollte sich jedoch durch rechtliche und pharmazeutische Kompetenz auszeichnen – und durch das nötige Augenmaß.
Autor
Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, promoviert in Tübingen auf dem Gebiet der Pharmazeutischen Technologie. Hauptberuflich selbständig als Berater für Apotheken, Praxen und Industrie. Langjährige Lehrtätigkeit an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen, Studiengang Pharmatechnik, und an der FH Schmalkalden. Fach- und Softwareautor.
Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de
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