Essstörungen

Ich esse meine Suppe nicht ...

Was tun bei Anorexie und Bulimie?

Von Beate Fessler | Anorexie und Bulimie sind die häufigsten Essstörungen im Kindes- und Jugendalter. Und sie dürfen nicht unterschätzt werden! Immerhin liegt die Mortalität der Anorexie zwischen 5 und 15%. Psychische Komorbiditäten sind häufig. Die Ergebnisse intensiver Ursachenforschung sprechen inzwischen für ein multifaktorielles Geschehen, bei dem genetische, prä- und perinatale sowie soziale Faktoren von Bedeutung sind. Da die Patienten, aber auch deren Umfeld häufig die Augen vor den Tatsachen verschließen, werden Essstörungen meist erst spät diagnostiziert. Fatal, denn die Prognose ist umso besser, je früher therapeutisch eingegriffen wird.

Neben der bei der Anorexie notwendigen Ernährungstherapie ist bei Essstörungen die evidenzbasierte Psychotherapie die Behandlung der Wahl, möglichst eingebunden in ein komplexes Therapiekonzept, das auch soziales Kompetenztraining, Körpertherapie oder Tanztherapie einschließt. Bislang am wenigsten erforscht ist die Binge-eating-Störung, die mit unkontrollierten Essattacken und Übergewicht einhergeht.

Augen zu und durch: Das Motto mag in manchen Lebenssituationen richtig sein. Keinesfalls ist es das aber bei Verdacht auf eine Essstörung. Hier sollten Eltern, Geschwister, Lehrer, Sporttrainer, aber auch Ärzte und Apotheker hellwach sein und beide Augen aufmachen. Denn mit Blick auf die körperlichen Folgen, die psychischen Komorbiditäten und nicht zuletzt die bei Anorexie erhöhte Mortalität ist es immens wichtig, Essstörungen frühzeitig zu erkennen und adäquat zu intervenieren. Wie viele Jugendliche zumindest gefährdet sind, eine Essstörung zu entwickeln, zeigen Ergebnisse der KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts über das Kinder- und Jugendgesundheitsverhalten in Deutschland, an der 6600 Kinder und Jugendliche im Alter von elf bis 17 Jahren teilnahmen Bei insgesamt 22% der Kids fanden sich zumindest Hinweise auf ein gestörtes Essverhalten. Erwartungsgemäß besteht bei Mädchen häufiger der Verdacht auf eine Essstörung als bei Jungen (28,9% vs. 15,2%). Und: Mit steigendem Alter nehmen die Hinweise auf eine mögliche Essstörung bei den Jungen ab, bei den Mädchen dagegen zu. Doch längst nicht jeder Jugendliche mit Verdacht auf eine Essstörung erkrankt tatsächlich. Je nach Art der Essstörung liegt die Prävalenz zwischen 0,3 und 3%.

Die Alarmzeichen erkennen

Gerade in der Pubertät, in der es um Abgrenzung gegenüber den Eltern geht, gehen viele Jugendliche auch in Sachen Ernährung eigene Wege und probieren sich aus. Sie essen vegetarisch oder gar vegan, nur noch Fastfood oder Süßes, mal wird die Familie ausgiebig bekocht und dann wieder tagelang auf das gemeinsame Abendessen verzichtet. Merkwürdiges Essverhalten per se ist in diesem Alter daher noch kein Grund zur Sorge. Hellhörig werden sollte man allerdings, wenn das Mädchen oder der Junge sich immer zu dick findet, seinen Körper ablehnt, sich häufig mit schlanken Jugendlichen vergleicht, nur noch kontrolliert isst (z.B. zu bestimmten Uhrzeiten, nur „Gesundes“, jeden Bissen viele Male kaut), chaotisch isst oder auch Lebensmittel aus dem Kühlschrank verschwinden lässt oder im Kinderzimmer hortet. Risikogruppen für eine Essstörung sind:

  • junge Frauen mit niedrigem Körpergewicht,
  • unter- bzw. normalgewichtige Patientinnen mit Gewichtssorgen,
  • Frauen mit Zyklusstörungen oder Amenorrhoe,
  • Patientinnen mit Hinweisen auf eine Mangelernährung,
  • Patientinnen mit gastrointestinalen Symptomen,
  • Patientinnen mit wiederholtem Erbrechen,
  • Kinder mit einer Wachstumsstörung.

Im Wesentlichen lassen sich bei den Essstörungen drei Hauptformen unterscheiden:

  • Anorexie (Anorexia nervosa; Magersucht)
  • Bulimie (Bulimia nervosa)
  • Binge-eating-Störung (Essstörung mit Essattacken)

Dabei kreisen die Gedanken bei der Anorexie stetig um das Abnehmen, bei der Bulimie um das Essen.

Anorexie: Hungern mit und ohne „Purging“

Der Begriff „Anorexie“ leitet sich vom griechischen „anorektin“ ab, was „ohne Appetit sein“ bedeutet. Das trifft den Kern der Sache allerdings nicht. Denn die Patientinnen leiden nicht an Appetitlosigkeit, sondern versuchen den Appetit zu unterdrücken. Typisch ist ein starker Gewichtsverlust bzw. im Wachstum keine adäquate Gewichtszunahme, den die Betroffenen selbst verursachen. Bei der „restriktiven Magersucht“ wird dies durch Hungern und/oder übermäßige Bewegung erreicht. Beim „Purging-Typ“ werden zusätzlich gewichtsreduzierende Maßnahmen genutzt wie Erbrechen, Laxanzien oder entwässernde Medikamente. Beim „bulimischen Magersuchttyp“ werden Hungerphasen durch unregelmäßige Essattacken unterbrochen, einer drohenden Gewichtszunahme durch Erbrechen und Medikamentenmissbrauch entgegengewirkt. Im Unterschied zur Bulimie, bei der die Patientinnen normalgewichtig sind, haben die Patientinnen Untergewicht.

Anstieg der Anorexie - auch im Kindesalter

Die Anorexie ist die dritthäufigste chronische Erkrankung in der Adoleszenz. Etwa 40% aller Neuerkrankungen finden in der frühen bis mittleren Adoleszenz statt. Betroffen sind vor allem Mädchen. Jungen und Männer erkranken zehnmal seltener, dann aber oft schwerer. International geht man von einer Prävalenz zwischen 0,5 und 1% aus. Eine Untersuchung in Deutschland von 1998 stellte eine Häufigkeit von 0,3% bei Frauen von 14 bis 24 Jahren fest. Und die Tendenz ist steigend. Altersspezifische Inzidenzraten aus den Niederlanden zeigen bei den 14- bis 18-Jährigen nahezu eine Verdopplung von 56/100.000 in den Jahren 1985 bis 1989 auf 109/100.000 in den Jahren 2005 bis 2009. Bei den 20- bis 24-Jährigen blieb die Rate dagegen weitgehend unverändert bei etwa 35/100.000. Besondere Sorgen bereitet Professorin Dr. Beate Herpertz-Dahlmann, Aachen, der Anstieg der Anorexie im Kindesalter zwischen dem 9. und 13. Lebensjahr, der seit zwei bis drei Jahren beobachtet wird.

Schon Kinder leiden unter Magersucht

Zwar liegt der Inzidenzgipfel von Essstörungen in der Adoleszenz, doch zunehmend sind schon kleine Mädchen mit ihrem Körper nicht zufrieden, fühlen sich zu dick und wollen abnehmen. Über diese Problematik sprachen wir mit Prof. Dr. Beate Herpertz-Dahlmann, Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Aachen.

Prof. Dr. Beate Herpertz-Dahlmann

DAZ: Immer häufiger entwickeln inzwischen schon Kinder im Alter von neun bis zwölf Jahren eine Anorexie. Welche Ursachen werden für diese Altersverschiebung diskutiert?

Herpertz-Dahlmann: Grundsätzlich nimmt man heute an, dass eine strikte Diät als Auslöser für eine Essstörung bei genetisch vulnerablen Kindern und Jugendlichen angesehen werden kann. Als Ursache für den immer häufiger beobachteten frühen Beginn wird u.a. eine frühere Pubertät sowie der Einfluss der Medien bereits im Kindesalter diskutiert. Eindeutige Antworten darauf gibt es aber noch nicht.

DAZ: Wie lässt sich eine Essstörung bei Neunjährigen erkennen?

Herpertz-Dahlmann: Die Diagnostik bei neunjährigen Mädchen ist ganz ähnlich wie bei Adoleszenten. Sie fallen durch Gewichtsabnahme und Essensverweigerung auf. Allerdings fehlt, neben der Amenorrhoe, häufig die Körperschemastörung als diagnostisches Kriterium, sprich, die jungen Patientinnen halten sich nicht für zu dick. Vielfach können sie auch keinen Grund dafür angeben, weshalb sie abnehmen möchten.

DAZ: Wo liegen die besonderen Probleme in der Therapie?

Herpertz-Dahlmann: Die Therapie ist besonders schwierig, weil die Kinder aufgrund ihrer altersbedingten kognitiven und emotionalen Entwicklung zu Introspektion nur schlecht in der Lage sind. Sie haben Schwierigkeiten, bei sich selbst Ursachen und Probleme zu erkennen. Das erfordert vom Therapeuten eine völlig andere Herangehensweise und natürlich die intensive Einbeziehung der Eltern.

DAZ: Frau Professor Herpertz-Dahlmann, vielen Dank für das Gespräch!

Ätiologie: moderne Forschung entlastet die Mütter

Aktuelle Forschungsarbeiten zur Ätiologie der Anorexie zeigen eine multifaktorielle Genese. Und entlasten dadurch die Familie, insbesondere die Mütter. Wurde die Anorexie in den 1960er Jahren noch als Angst vor der weiblichen Sexualität, in den 1970er Jahren als Störung der Mutter-Kind-Interaktion, später der Familien-Interaktion interpretiert, ist inzwischen klar: soziokulturelle und neurobiologische Faktoren, aber wohl auch eine genetische Disposition sind an der Entwicklung dieses Krankheitsbildes beteiligt. Vieles deutet darauf hin, dass sich das Risiko für eine Essstörung vererbt. Die Wahrscheinlichkeit für weibliche Angehörige ersten Grades ebenfalls zu erkranken, liegt bei immerhin 10%. Die Konkordanzrate bei monozygoten Zwillingen wird mit 50 bis 60% angegeben. Ein Blick auf die Familienanamnese ist bei der Diagnose daher lohnenswert. Wahrscheinlich sind Gene beteiligt, die Botenstoffe regulieren mit Einfluss auf den Appetit oder den Energieverbrauch. Gemeinsam mit prä- und perinatalen Faktoren wie Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen kann eine genetische Disposition zu Persönlichkeitszügen führen, die das Risiko für eine Anorexie erhöhen. „Die typischen Persönlichkeiten sind eher ängstlich und perfektionistisch mit negativer Stimmungslage“, so Herpertz-Dahlmann. Zusätzlich kann das derzeitige Schlankheitsideal den Weg in die Anorexie ebnen. Denn es kann den Anstoß für eine strikte Diät geben. Sie wird als ein Auslöser für eine Essstörung bei (genetisch) vulnerablen Jugendlichen angesehen. Hinzu kommen als auslösende Faktoren die Anforderungen, die die Pubertät mit sich bringt, hormonelle Veränderungen, aber auch kulturelle Aspekte. So ist die Prävalenz höher in westlichen Gesellschaften, in oberen sozialen Schichten, aber auch in Subkulturen mit hohem Schlankheitsdruck wie etwa bei Sportlern. Magersucht kann auch als gewaltsame Trennung von den Eltern betrachtet werden, die meist besonders behütend sind. Je größer das Harmoniestreben und je größer die Kontrolle, umso schwieriger wird die Abnabelung für den Jugendlichen. Durch die Magersucht erhält er zumindest Kontrolle über seinen Körper und damit auch Macht. Die Anorexie gilt deshalb auch nicht mehr als Weigerung der Patientin zu essen, sondern als mangelnde Fähigkeit, den Bedarf der Nahrungszufuhr zu erkennen. „Die Patientinnen sind nicht verantwortlich für ihre Erkrankung“, so Herpertz-Dahlmann.

Folgenschwerer Kiloverlust

Die Folgen der Anorexie sind weitreichend, auf physischer und psychischer Ebene. Es kommt zu einer Unterversorgung mit Nährstoffen, Vitaminen und Mineralien. Wachstumsstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Osteoporose drohen. Mit dem veränderten Hormonhaushalt kann sich die pubertäre Entwicklung verzögern, die Menarche ausbleiben oder sich eine Amenorrhö entwickeln. Der mit der Anorexie einhergehende Östrogenmangel kann dazu führen, dass sich hippokampale Strukturen im Gehirn nicht adäquat entwickeln. Ein Risikofaktor für spätere psychische Erkrankungen. Obwohl sich die Prognose der adoleszenten Magersucht in den letzten Jahren deutlich verbessert hat, leidet ein großer Teil der ehemaligen Patientinnen im Erwachsenenalter an anderen psychischen Störungen. Ein Teil dieser Störungen ist möglicherweise Ausdruck einer „biologischen Narbe“, die durch die hormonellen Defizite und Dysfunktionen während der adoleszenten Hirnentwicklung bedingt sein können. Selbst wenn die magersüchtige Person ihr Gewicht normalisiert, können langfristig Schäden bleiben. 25% sind 18 Jahre nach Erkrankung arbeitslos aufgrund einer psychischen Störung, obwohl es sich eigentlich um eine intelligente Gruppe handelt, so Herpertz-Dahlmann. Auch die Mortalität ist erhöht mit einer Mortalitätsrate von 5 bis 15%. Häufigste Todesursache ist der Suizid. Damit hat die Anorexie die höchste Mortalität aller psychischen Erkrankungen. Beginnt die Anorexie in der Adoleszenz, aber nach Beginn der Pubertät, ist die Prognose insgesamt besser. Die Chancen auf Heilung liegen bei der Anorexie, die in der Adoleszenz beginnt, bei etwa 70%, 20% der Patientinnen chronifizieren. Deutlich schlechter ist die Prognose, wenn die Erkrankung sehr früh – vor dem 11. Lebensjahr – oder sehr spät – im frühen Erwachsenenalter, beginnt. Auch ein BMI unter 13 kg/m2 ist prognostisch ungünstig.

Niedriger Leptin-Spiegel – hoher Bewegungsdrang

Leptin ist ein Hormon des Fettgewebes. Es gilt als Signalmolekül, das dem Gehirn den Ernährungszustand vermittelt und spielt eine wichtige Rolle bei der Energie-Homöostase des Körpers. Typisch für das klinische Bild der Anorexie ist eine oft nicht zu beherrschende Hyperaktivität als Folge niedriger Leptin-Spiegel. Der Bewegungsdrang kommt durch den Hungerzustand, so Herpertz-Dahlmann: „Wir müssen deshalb den Patientinnen die Möglichkeit geben sich zu bewegen.“ Lässt sich die Hyperaktivität nicht beherrschen oder auch wenn das Denken erheblich auf Gewichtsängste und Essen ausgerichtet ist, kann für einen begrenzten Zeitraum und im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans ein Neuroleptikum wie Olanzapin gegeben werden. Nicht indiziert bei Anorexie sind Antidepressiva.

Im Fokus: aktuelles Gewicht und Gewichtsverlauf

Zur sicheren Diagnose von Essstörungen sollten Klassifikationssysteme herangezogen werden. Nach ICD-10 müssen für eine Anorexie folgende Kriterien erfüllt sein:

  • BMI ≤ 17,5 bzw. Körpergewicht mindestens 15% unter dem erwarteten Gewicht
  • selbst herbeigeführter Gewichtsverlust
  • Körperschemastörung (Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur und des Körpergewichts, Untergewicht wird bestritten)
  • Amenorrhö
  • verzögerte pubertäre Entwicklung (Wachstumsstörung, primäre Amenorrhö)

Werden diese Kriterien erfüllt, basiert die weiterführende Diagnostik auf Checklisten oder strukturierten Interviews. Häufig eingesetztes Fragebogenverfahren für klinische Essstörungen ist der Eating Disorder Examination Questonnaire (EDE-Q). Zudem müssen eine Reihe von Differenzialdiagnosen abgeklärt werden, denn nicht jede Gewichtsabnahme ist eine Anorexie. Selten kann gerade bei jüngeren Kindern ein Hirntumor die Ursache sein. Ausgeschlossen werden müssen auch glutensensitive Enteropathie, Morbus Crohn, primärer oder sekundärer Hypocortisolismus, Panhypopituitarismus (Morbus Simmonds) sowie eine Hyperthyreose.

Therapieziele: Mehr Gewicht – regelmäßige Menstruation

„Die Behandlung der Anorexie ist kein Spurt, sondern ein Marathonlauf“, machte Herpertz-Dahlmann deutlich. Aber sie kann gelingen. Erfolgversprechend ist ein integratives systemisches Therapiekonzept, an dem meist mehrere Ärzte verschiedener Fachrichtungen beteiligt sind: Haus- oder Kinderarzt, ambulanter Psychotherapeut, Ernährungsberater, eventuell auch ein Gynäkologe und ein Familientherapeut. Die vorrangigen Ziele: Gewichtszunahme und Menstruation. Denn Patientinnen mit Magersucht, die nicht menstruieren, haben eine schlechtere Gehirnleistung, und zwar auch langfristig. Das zeigte eine Untersuchung von 66 Frauen im mittleren Alter von 21 Jahren, die sich 6,5 Jahre nach Entlassung einem IQ-Test unterzogen. Verglichen mit gesunden Kontrollen waren sie in allen Bereichen wie kognitiver Effektivität, Denkvermögen oder Arbeitsgedächtnis, unterlegen. Besonders schlecht schnitten aber die Frauen ab, die ihre Menses nicht oder nicht regelmäßig hatten. Die Behandlung basiert laut Herpertz-Dahlmann auf vier Säulen:

1. somatische Rehabilitation, Ernährungstherapie und Psychoedukation

2. evidenzbasierte Psychotherapie (kognitive Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie)

3. Einbeziehung der Familie/Partner

4. medikamentöse Therapie der Komorbidität

Geht beides: Tagesklinik oder stationär

Richtwert für das anzustrebende Zielgewicht ist die 25. Altersperzentile, nach Möglichkeit mindestens die 10. Altersperzentile. Dabei muss das Zielgewicht regelmäßig dem Wachstum angepasst werden. Notwendig ist auch regelmäßiges Wiegen, am besten durch den betreuenden Arzt selbst. Ob die Behandlung vollstationär oder in einer Tagesklinik stattfindet, scheint unerheblich. So zeigte die Erfassung des Menstruationsstatus zwölf Monate nach Therapiebeginn keinen Vorteil der vollstationären Therapie (n = 85) gegenüber der Tagesklinik (n = 87): 23% bzw. 32% hatten keine Menstruation, 14% bzw. 16% hatten ihre Tage regelmäßig. Die Tagesklinik kann laut Herpertz-Dahlmann psychologisch sogar besser sein. Eine stationäre Behandlung ist aber notwendig bei rapidem oder anhaltendem Gewichtsverlust, gravierendem Untergewicht (< BMI 15 kg/m2, < 3. Perzentile bei Kindern und Jugendlichen), erfolgloser ambulanter Behandlung über mehr als drei Monate, ausgeprägter psychischer Komorbidität oder ausgeprägten familiären Konflikten.

Keine generelle Vitamin-Substitution

Um eine Gewichtszunahme von 100 g/Tag zu erreichen, müssen über die Erfordernisse des Arbeitsumsatzes hinaus zusätzlich etwa 800 bis 1200 kcal täglich aufgenommen werden. Eine Eisen-Substitution ist nur in wenigen Ausnahmefällen bei nachgewiesener Eisenmangelanämie sinnvoll. Zink sollte nur bei typischen Hautveränderungen bestimmt und gegebenenfalls substituiert werden. Es besteht auch keine generelle Indikation zur Vitamin-Substitution. Bei klinischen Zeichen von Vitamin-Mangelzuständen kann sie aber sinnvoll sein. Hypercholesterinämie ist eine häufige Begleiterscheinung der Anorexie. Die Cholesterinwerte normalisieren sich nach Gewichtszunahme. Eine spezifische diätetische oder medikamentöse Therapie ist nicht indiziert. Die Ursache der Hypercholesterinämie bei Anorexie ist bis heute unklar. Vermutet werden eine erhöhte Cholesterinsynthese, eine verminderte biliäre Clearance oder ein Zusammenhang mit der latenten Hypothyreose.

Im Bedarfsfall: Trinknahrung

Um eine ausreichende Nahrungszufuhr zu gewährleisten, kann insbesondere zu Beginn der Therapie als Ergänzung oder Ersatz einer noch nicht ausreichenden normalen Ernährung Flüssigkost zum Einsatz kommen. Dabei sollten Produkte eingesetzt werden, die zur vollständigen Ernährung geeignet sind, das heißt, die alle Bestandteile einer normalen Ernährung in ausgewogener Menge enthalten. Ernährung über gastral platzierte Sonden kann in kritischen Einzelfällen kurzfristig einen ausreichenden Ernährungszustand und eine angemessene Gewichtszunahme sicher gewährleisten. Parenterale Ernährung sollte nur im äußersten Notfall zum Einsatz kommen. Sie ist zur Erreichung einer Gewichtszunahme nicht geeignet. Obwohl bei einer schweren Anorexie Lebensgefahr bestehen kann, sollte möglichst nicht gegen den Willen der Patientin gehandelt werden. Laut Bundesgesetzbuch § 1631b können Sorgeberechtigte aber im Ernstfall einen Antrag auf stationäre Aufnahme des Kindes beim Familiengericht stellen.

Bulimie: unkontrollierte Fressattacken

Bulimie bedeutet „Ochsenhunger“, abgeleitet vom griechischen „bous“ (Ochse) und „limos“ (Hunger). Die Prävalenz in Deutschland wird mit 0,7 bis 1,3% angegeben mit einem Manifestationsgipfel in der mittleren bis späten Adoleszenz (18 bis 20 Jahre), also etwas später als bei der Anorexie. Typisch sind wiederholte Episoden von „Fressattacken“, bei denen in kurzer Zeit unkontrolliert große Nahrungsmengen verzehrt werden. Als Gegenmaßnahmen zur Vermeidung von Übergewicht wird das Gegessene wieder erbrochen, ausgelöst auch durch Salzlösungen oder Ipecacuanha (cave: Schäden an den Zähnen!), aber auch gefastet oder Laxanzien und Diuretika eingesetzt. Dieses Verhalten muss über drei Monate mindestens zweimal pro Woche vorkommen, damit die Kriterien für eine Bulimie erfüllt sind. Essverhalten und Medikamentenabusus können zu gastrointestinalen Störungen und zu Entgleisungen des Elektrolythaushaltes führen. Gleichzeitig wird bei Bulimie auch anderes impulsives Verhalten beobachtet, wie Ladendiebstähle, Alkoholmissbrauch und Selbstverletzungen. Anders als bei der Magersucht sind Frauen mit Bulimie meist normalgewichtig, haben aber eine krankhafte Furcht dick zu werden. Meist ist das Selbstwertgefühl nur gering ausgeprägt und stark an das eigene Körperbild gebunden. Die Patienten schämen sich für ihre Essattacken. Psychische Komorbiditäten sind häufig (siehe Kasten: „Eine Essstörung kommt selten allein“).

Eine Essstörung kommt selten allein

Psychische Komorbiditäten sind bei Essstörungen häufig. Bis zu drei Viertel der Patienten mit Anorexie oder Bulimie entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Major Depression oder eine Dysthymie. Nur unwesentlich seltener sind Angststörungen mit Prävalenzraten zwischen 20 und 70%. Zwangsstörungen treten eher im Rahmen einer Anorexie auf (Prävalenzrate: 15 bis 69%), Substanzmissbrauch dagegen häufiger bei Bulimie (Prävalenzrate 23 bis 40%). Bei Patienten mit Bulimie steht Alkohol im Vordergrund, bei Patienten mit Anorexie sind es Cannabinoide, Kokain und Amphetamine. Beide Essstörungen können auch mit einer Persönlichkeitsstörung einhergehen, bei der Bulimie eher vom vermeidenden Typ, bei der Anorexie eher vom zwanghaften Typ. Bei der Therapie von Komorbiditäten muss laut Sigrid Aberl, Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie am Kinderklinikum rechts der Isar der TU München, abgeklärt werden, ob eine eigenständige Therapie der Komorbidität notwendig ist und wenn ja, in welcher Reihenfolge behandelt werden muss. Bei Substanzmissbrauch steht die Suchttherapie im Vordergrund, um die notwendige Compliance für die Behandlung der Essstörung sicherzustellen. Depressionen im Rahmen einer Anorexie lassen sich teilweise auf den Hungerzustand zurückführen und verbessern sich unter Gewichtsnormalisierung. Eine medikamentöse Therapie mit SSRI ist bei Anorexie nicht signifikant wirksam, so Aberl. Bei Bulimie kann sie dagegen erwogen werden.

Spezifische Psychotherapie bei Anorexie oft erfolgreich – ein Viertel Non-Responder

Erwachsene magersüchtige Patientinnen, die nicht zu schwer erkrankt sind, können per Psychotherapie häufig mit Erfolg ambulant behandelt werden. Bei spezifischen Verfahren sind die Chancen etwas besser als mit einer optimierten Standardtherapie. Das zeigte ANTOP (Anorexia Nervosa Treatment of Out Patients), die weltweit größte Therapiestudie zur Magersucht, aktuell publiziert in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet [Zipfel et al.]: Bei 242 erwachsenen Patientinnen wurde über zehn Monate eine Psychotherapie durchgeführt mit einer sich anschließenden Nachbeobachtungsphase über weitere zwölf Monate. Auf den Prüfstand kamen dabei zwei verschiedene Psychotherapieverfahren, verglichen mit einer optimierten psychotherapeutischen Standardtherapie:

fokale psychodynamische Psychotherapie: Sie bearbeitet in Therapiesitzungen die ungünstige Gestaltung von Beziehungen sowie Beeinträchtigungen bei der Verarbeitung von Emotionen. Die Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut und Patientin spielt dabei eine große Rolle. Sie wird speziell auf den Alltag nach Ende der Therapie vorbereitet (n = 80).

kognitive Verhaltenstherapie: Sie hat zwei Schwerpunkte, nämlich die Normalisierung von Essverhalten und Gewichtssteigerung sowie die Bearbeitung mit der Essstörung verbundener Problembereiche wie etwa Defizite bei sozialer Kompetenz oder bei der Fähigkeit, Probleme zu lösen. Die Patienten erhalten auch „Hausaufgaben“ von ihrem Therapeuten (n = 80).

Standard-Psychotherapie: Sie wurde als optimierte Regelversorgung von erfahrenen Psychotherapeuten durchgeführt, die sich die Patientinnen selber aussuchen konnten. Ergänzend waren die Hausärzte in die Therapie eingebunden; die Patientinnen besuchten zusätzlich fünfmal das jeweilige Studienzentrum (n = 82).

Direkt nach Ende der Therapie hatten die magersüchtigen Patientinnen in allen drei Gruppen annähernd gleichermaßen zugenommen mit einer erkennbaren Verbesserung des BMI (fokale psychodynamische Therapie: + 0,73 kg/m2, kognitive Verhaltenstherapie: +0,93 kg/m2, optimierte Standardtherapie: + 0,69 kg/m2). Im Laufe des Follow-ups stieg das Gewicht weiter mit einer Verbesserung des BMI um insgesamt 1,64 kg/m2, 1,30 kg/m2 und 1,22 kg/m2. Im Mittel wurde damit langfristig eine Zunahme des BMI um 1,4 kg/m2 erreicht, entsprechend eines konkreten Gewichtszuwachses um 3,8 kg. Langfristig erwies sich damit die fokale psychodynamische Therapie am erfolgreichsten. Diese Patientinnen mussten auch seltener stationär behandelt werden. Am schnellsten wurde die Gewichtszunahme unter einer spezifischen kognitiven Verhaltenstherapie erreicht. Auch die Akzeptanz der beiden neuen Psychotherapien war bei den Patientinnen sehr hoch. Dennoch: Auch spezifische Psychotherapieverfahren sind kein Allheilmittel gegen die Magersucht: Ein Jahr nach Therapie litt immer noch etwa ein Viertel der Patientinnen unter dem Vollbild der Anorexie.

Bei Bulimie: kognitive Verhaltenstherapie

Die Therapie kann in der Regel ambulant durchgeführt werden und zielt auf die Normalisierung des Essverhaltens und die Bewältigung der zugrundeliegenden Probleme. Erste Wahl ist die kognitive Verhaltenstherapie. Sie ist bei Bulimie am häufigsten untersucht und gilt als am besten wirksam. Zusätzlich kann das Antidepressivum Fluoxetin zum Einsatz kommen, für das ein positiver Effekt auf die Symptomatik beschrieben ist und das in Deutschland für die Therapie der Bulimie ab dem 18. Lebensjahr zugelassen ist. Im Durchschnitt ist die Kombination einer Monotherapie mit Psychotherapie aber nicht überlegen.

Typ-1-Diabetiker: Bulimiegefahr erhöht

Wer an einem Typ-1-Diabetes erkrankt ist, hat ein erhöhtes Risiko für eine Bulimie. Diskutiert werden verschiedene Hypothesen: die Essstörung als individuelle Antwort auf den Stress einer chronischen Erkrankung, die Gewichtszunahme durch die anabole Insulinwirkung, oder auch die mögliche Gewichtsabnahme durch „Insulin-Purging“, erläuterte Aberl. Konsequenzen einer Typ-1-Diabetes-assoziierten Bulimie sind verschlechterte Stoffwechseleinstellung, mehr Folgeerkrankungen und eine erhöhte Mortalität.

Binge-eating-Störung: all you can eat

Erst seit 1994 ist die Binge („Prasserei“)-eating-Störung (BES) als eigenständige Essstörung beschrieben und bislang noch am wenigsten erforscht. Typisch sind wiederholte, unkontrollierte Essattacken (mindestens zweimal pro Woche über sechs Monate), bei denen enorm große Mengen schnell verschlungen werden – bis sich ein unangenehmes Völlegefühl einstellt. Im Gegensatz zur Bulimie werden keine „Gegenmaßnahmen“ ergriffen. Die Betroffenen sind deshalb oft übergewichtig und verspüren Hass auf den eigenen Körper. Auch Binge-eating-Störungen sind beim weiblichen Geschlecht häufiger, der Unterschied ist aber nicht so groß wie bei Anorexie oder Bulimie. Unterschiede gibt es auch im Manifestationszeitraum, der zwischen dem 20. und 30., bzw. 45. und 54. Lebensjahr angesiedelt wird. Therapie der Wahl ist auch hier die Psychotherapie, insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie zur Bearbeitung der psychischen Problematik. Zusätzlich wird eine Gewichtsreduktion angestrebt. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNI) sind bei BES wirksam; allerdings ist derzeit kein Medikament zur Behandlung der BES zugelassen. 

Beratungsstellen finden

Umfassende Informationen zu verschiedenen Beratungsstellen in Deutschland bietet das Portal der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung www.bzga.de. Dort wird auch eine direkte Telefonberatung unter (02 21) 89 20 31 angeboten. Ebenfalls informativ: der Klick auf www.bundesfachverbandessstoerungen.de. Gewarnt werden muss dagegen vor sogenannten „Pro-Ana-Seiten“ (Ana steht für Anorexie) oder „Pro-Mia-Seiten“ (Mia steht für Bulimie). Sie verfolgen das Ziel, die Krankheit aufrechtzuerhalten. Sie erkennen die Seiten zum Beispiel daran, dass sie Tipps zum Abnehmen geben.

Quelle

„Leben braucht Gewicht“, Fortbildungsveranstaltung Kinderklinik München-Schwabing, 26. Juni 2013.

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, www.bzga-essstoerungen.de.

Diagnostik und Therapie der Essstörungen. S3-Leitlinie, AWMF-Registernummer 051-026; Version 1.1. vom 6. Dezember 2011.

Herpertz-Dahlmann B et al. Erwachsenwerden ist schwer: Psychische Störungen in der Adoleszenz. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 432-440.

Zipfel S et al. Focal psychodynamic therapy, cognitive behaviour therapy, and optimised treatment as usual in outpatients with anorexia nervosa (ANTOP study): randomised controlled trial. Lancet Published Online October 14, 2013 dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(13)61746-8).

 

Autorin

Dr. Beate Fessler ist Apothekerin und arbeitet als freie Medizinjournalistin unter anderem für die Deutsche Apotheker Zeitung.

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