- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 46/2013
- Erst nachdenken, dann ...
Meinungsbeitrag
Erst nachdenken, dann fordern!
Plädoyer für eine standeseigene Forschung
Leider hat die im Grundsatz freundliche Branchenbilanz ihre Schattenseiten. So wird der Rohertragskuchen inzwischen so ungleich aufgeschnitten wie nie zuvor – wir sehen viele Profiteure mit exzellenten Zahlen, aber auch viele Verlierer.
Die Diskussion hat also mehrere Fronten: Eine verläuft innerhalb des Berufsstandes. Wie kommen die Verlierer wieder in die Spur, und sollen sie das überhaupt? So wird der Brotkorb mit steigenden Anforderungen immer höher gehängt, gleichzeitig wird die flächendeckende Versorgung beschworen. Und das, obwohl ziemlich eindeutig ist, dass die Markt-Apotheke in X-Hausen mit Sicherheit kein ausgefeiltes Medikationsmanagement für einige Hundert Kunden wird leisten können, wo sie heute schon mit zahlreichen Auflagen überfordert ist (und daran ändert auch etwas mehr Honorar nichts).
Die andere Front verläuft zu den Nachbarbranchen, die stets ein Auge auf den Apothekenmarkt werfen – eine traditionelle Front, die sich nur unter einem stabilen, politischen Schutzschirm halten lässt.
Eine weitere Front verläuft im Zuge der Auseinandersetzungen um das Berufsbild und neue Honoraroptionen zur Politik, den Kostenträgern und teilweise den Ärzten. Im Moment muss man leider immer noch eher von Front sprechen – die eine Seite fordert, die andere wehrt ab. Künftig wäre eine gut funktionierende Schnittstelle wünschenswert. Schnittstellen machen jedoch nur Sinn, wenn damit ein reger Austausch nützlicher Informationen verbunden ist. Dazu muss jede Seite etwas bieten.
Und damit sind wir bei den zentralen Fragen: Sind wir überhaupt fähig, eine Zukunftsdiskussion auf der gegenwärtigen Informationsbasis zu führen? Welche aus allen Perspektiven, nämlich denen der Apotheken, Kostenträger, Patienten und sonstigen Beteiligten, durchgerechneten Konzepte sind erarbeitet? Wo sind die validen Branchenprojektionen über Zukunftsmärkte, Bedarfe, Kosten-Nutzen-Betrachtungen?
Wer einem Leitbild die Jahreszahl „2030“ hinzufügt, muss sich gut wappnen. Wie wird in 2030 die Welt aussehen? Wie viele „intelligente Darreichungsformen“ mag es bis dahin geben, die vieles von dem, was wir uns heute als Dienstleistungen auf die Fahnen schreiben, weitgehend überflüssig machen – und dafür völlig neue Leistungen erfordern? Kommt die individuell dosierte Arznei z.B. für das Altenheim aus dem 3D-Drucker und nicht mehr „in die Tüte“? Welche Leistungsfähigkeit werden Informationsnetze in zwanzig Jahren haben? Wird eine „Google-Brille“ den Blick auf die (auch pharmazeutische) Welt durchgreifend ändern? Wir müssen aufpassen, nicht von den technischen Entwicklungen überholt zu werden. Wo sitzen bei uns die Trendscouts? Wer beobachtet systematisch die internationalen Entwicklungen und „Pipelines“?
Am Kundennutzen orientieren
Ungeachtet der Blicke in die fernere Zukunft stehen auch im Hier und Jetzt viele Aufgaben an – „auf Sicht fahren“ ist ebenfalls eine Herausforderung. Die Orientierung am Kundennutzen hat sich dabei quer durch alle Branchen als am besten existenzsichernd erwiesen:
Der Kunde muss profitieren!
Und zwar nachweisbar. Durch spürbar gewonnene Lebensqualität bzw. sogar Lebenszeit. Durch mehr Zuwendung. Aber auch durch ein vernünftiges Preis-Leistungs-Verhältnis. Und nicht durch mehr Zwang, mehr „Nanny-Staat“, mehr Bevormundung.
Hier tun sich Spannungsfelder auf: Wir können nicht nur alles immer besser machen „um jeden Preis“, und dabei die Kosten womöglich in ungeahnte Höhen schrauben. Wir verängstigen so große Teile der Kundschaft („können wir uns das noch leisten?“), machen andere wütend und fordern die Kostenträger heraus. Wer von „Leitbild 2030“ spricht, sollte sich über die Soziodemografie der künftigen Rentner (= Kernzielgruppe) Gedanken machen. Wird es der Generation der „Babyboomer“ im Alter noch so gut gehen wie den heutigen Rentnern? Ein Grund mehr, das Kosten-Nutzen-Thema im Blick zu behalten. Am Thema der exorbitanten Kosten krankt übrigens das System der USA mit allen Verwerfungen.
Somit bedarf es neuer Ansätze und cleverer Konzepte. Nicht nur plump „immer mehr“ und hier noch ein Zusatzhonorar, welches womöglich durch ein Mehrfaches an Zusatzaufwand rasch zu einem Danaer-Geschenk werden kann (das Medikationsmanagement könnte diesen Weg nehmen ...).
Forschung, Entwicklung, Strategie
Gefragt ist somit eine standeseigene „Forschung“, „Vorausentwicklung“ und „Strategie“ auf höchstem Niveau, als solches bezeichnet und entsprechend institutionalisiert. Nein, keine Erforschung neuer Arzneimittel. Wohl aber eine „Forschung und Entwicklung“, die folgende Bereiche erschließt:
- Pharmazeutische Versorgungsforschung. Was wird mit Arzneimitteln an welcher Stelle (nicht) erreicht? Wo bestehen Versorgungsdefizite, wo Überversorgung? Wo sind die Knackpunkte in der täglichen Praxis?
- Bewertung von Arzneimitteln. Wir müssen wieder verstärkt unsere kritische Stimme erheben und uns darin einbringen, die optimalen Präparate für eine jeweilige Indikation zumindest im Sinne von Therapievorschlägen zu unterbreiten. Das Zukunftsthema Pharmaökonomie und Bezahlbarkeit des Fortschritts darf ebenfalls nicht an den Arzneimittelfachleuten vorbeigehen. So wie bei den Ärzten ein Prozess in Gang kommt, sich von der Industrie zu emanzipieren, sollten sich die Pharmazeuten mehr auf ihre wissenschaftlichen Wurzeln besinnen. Wenn in Umfragen bei der Auswahl von OTC-Präparaten mehrheitlich Rabatte, „Markenstärke“ und der Werbedruck zählen, gibt das zu denken.
- Konzeptionelle Vorausentwicklung. Ausgearbeitet bis hin zu konkreten, strukturierten Programmen und aus den verschiedenen Perspektiven der Beteiligten stringent durchkalkuliert. Das ist echte Entwicklungstätigkeit und harte Arbeit, wenn am Ende etwas Erfolgreiches stehen soll. In diesen Bereich fällt u.a. das viel diskutierte Medikationsmanagement – es ist auf valide, wissenschaftliche Grundlagen (basierend auf der hiesigen Versorgungsrealität) zu stellen und einer ehrlichen Kosten-Nutzen-Betrachtung zu unterziehen. Präventionsprogramme sind hier gleichfalls zu nennen.
- Logistik, Technik und Betriebsabläufe. Welche technischen Herausforderungen bestehen, welche neuen Techniken werden benötigt, lassen sich Abläufe optimieren?
- Marktforschung. Ein bereits gut entwickelter Bereich, bei dem sich gleichwohl die Aufgabe stellt, die Marktdaten stärker für die Apothekenrealität aufzubereiten, beispielsweise indikationsbezogen: Wie viele Patienten mit der Krankheit X leben in meinem Einzugsgebiet? Welcher Bedarf besteht für dieses oder jenes Gesundheitsprogramm?
- Zukunftsforschung und -beobachtung. Hier geht es darum, die weltweiten Entwicklungen und Markttrends in Medizin, Pharmazie und Nachbargebieten „auf dem Radar“ zu haben – und zu belastbaren Zukunftsprojektionen zu verdichten.
Um nicht falsch verstanden zu werden: In Teilen findet das alles bereits statt, und es gibt viele hochinteressante Projekte und Initiativen mit teils enormem Einsatz einzelner Personen. Mit dem DAPI, ZL sowie Fachabteilungen auf ABDA- und Kammerebene sind zudem Strukturen angelegt. Nur fehlt es häufig schlicht an den erforderlichen Ressourcen, Background und Infrastruktur (die großen Stärken der forschenden Großkonzerne), an der nötigen Konzentration und schlussendlich an Durchschlagskraft.
Nicht selten lassen wir uns demzufolge von zahlreichen (Schein-)Innovationen treiben, die irgendwelche Unternehmen, bisweilen Zwergfirmen und Solisten, auf den Markt werfen.
Es geht darum, die „intellektuelle Lufthoheit“ wiederzuerlangen – und dann erforderlichenfalls klare Entwicklungsaufträge an Dienstleister zu erteilen, die in der Tat etliches besser zur Praxisreife führen können. Heute hecheln wir vielem hinterher oder haben gar Mühe, Fehlentwicklungen wieder einzufangen.
Forschung kann gemein sein, und Erkenntnisgewinn ist nicht immer nur eine Quelle guter Laune. Jahrelang an etwas getüftelt, und dann kommt heraus: Das wird nichts. Rechnet sich nicht. Ist praktisch nicht umsetzbar. Mit solchen Ergebnissen muss man leben können – und nach besseren weitersuchen.
Alles andere ist Realitätsverweigerung. Diese mag funktionieren – nach dem Prinzip Hoffnung, dass noch genügend andere Realitätsverweigerer am Verhandlungstisch sitzen. Das kann aber nicht die Basis eines naturwissenschaftlich fundierten Berufs sein.
Am Geld mangelt es nicht
Aber wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld? Wo schon ein Sitz im Gemeinsamen Bundesausschuss an den Finanzen scheitert?
Tatsächlich ist das finanzielle Argument das dümmste überhaupt.
Eine bald 45 Milliarden Euro schwere Branche soll sich keine „Zukunftsforschung“ und Konzeptentwicklung leisten können? Dann schauen wir mal auf die Fakten:
Einschlägige Betriebsvergleiche weisen Werbe- und Marketingausgaben der Apotheken in Höhe von gut einem Prozent vom Umsatz aus. Das sind bundesweit stolze 400 bis 500 Millionen Euro, zu beträchtlichen Teilen für allerlei Kundenzeitungen (deren zweites Standbein schlicht Pharmawerbung ist), Papiertaschentücher, Zugabe-Gimmicks ...
Wir wollen gar nicht darauf eingehen, welche Summen uns von „Marktpartnern“ in Form von „Apothekenpreisen“ abgeknöpft werden, wie viel Geld in sinnfreier Bürokratie versinkt! Nein, an Geld mangelt es nicht. Wo ein Wille ist, ist bei dieser Sachlage tatsächlich ein Weg!
Wäre es nicht sinnvoller, auf jedem Apothekentresen stünde ein Schild: „Die deutschen Apotheken investieren jedes Jahr 100 Millionen Euro in Forschung und Konzepte zu Ihrem Nutzen!“ Und für den Nutzen, den wir Ihnen nachweislich bringen, können Sie nebenan sehr viele Fernsehzeitungen kaufen ...
100 Millionen, hier einfach mal in die Welt gesetzt, klingen vielleicht vermessen. Schon die Entwicklung eines Automotors kostet indes mehr. Was darf dann sinnvolle Versorgungsforschung und Konzeptentwicklung kosten? Jedenfalls ist das eine machbare Größenordnung (unter 0,25 Prozent vom Umsatz!) für eine Branche, die eben nicht nur eine reine Handelsbranche sein will. Über Summen und Ausgestaltungen kann man diskutieren, die bei entsprechendem Willen möglichen Größenordnungen liegen jedoch auf der Hand.
Fehlt es am Leidensdruck?
Doch was ist mit dem Willen? Fehlt es an Leidensdruck? An Interesse und Visionen? An den Köpfen und Strukturen? Beschreiten wir gar einen Weg, wie er niedergehenden Gesellschaften eigen ist – konsumieren statt investieren, Subventionen und Betreuungsgeld statt Forschung für die Zukunft?
Viele Zukunftsprojekte klingen erst einmal vermessen. Wer jedoch dauerhaft im Wettbewerb bestehen will, national wie zunehmend international, der muss schlicht besser sein als andere. Wer meint, wir leben in Deutschland auf der Insel der Glückseligen, irrt. Wer sieht, wie ausländische Konzerne mehr und mehr im Markt Fuß fassen, weiß, dass nationale Regeln zunehmend brüchig werden. Gleichwohl besteht kein Grund zur Panik, und auch nicht zur zwanghaften Abschottung. Alle kochen nur mit Wasser. Und so steht die Zukunft auf zwei Füßen – nämlich Innovation, gepaart mit Effizienz.
Und darum sollte es gehen: Ein vorbildliches, innovatives, gleichzeitig kosteneffizientes Apothekensystem zu gestalten. Dann brauchen wir keine Angst vor der Zukunft zu haben.
Die Voraussetzungen sind gut. Geld ist die Ressource, die uns allem Gejammer zum Trotz noch immer genügend zur Verfügung steht. Nutzen wir das. Investieren wir – intelligent in unsere Zukunft!
Autor
Dr. Reinhard Herzog ist Apotheker und promovierter Pharmazeutischer Technologe. Er ist selbstständiger Berater für Apotheken, Praxen und Industrie. Langjährige Lehrtätigkeit an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen, Studiengang Pharmatechnik, und an der FH Schmalkalden. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher und von Software.
Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen
E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.