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Feuilleton
Kochen, essen, trinken
Wandel der deutschen Esskultur seit 1945
Wiener Schnitzel, Pizza, Peking-Ente, Tortillas, Hamburger, Döner oder Sushi? Das Speisenangebot in Deutschland war nie so umfangreich wie heute. Fernsehköche wetteifern um Einschaltquoten, Kochbuchverlage um die höchsten Auflagen. „Der Mensch ist, was er isst“ sagte einst der materialistische Philosoph Ludwig Andreas Feuerbach (1804– 1872). Und konsequent nannte der Wiener Evolutionsbiologe Franz Wuketits seine Untersuchung zur Geschichte der Ernährung: „Wie der Mensch wurde, was er isst“. Es ist aber ebenso reizvoll, den Wandel der Ernährung aus dem Blickwinkel der Kultur- und Sozialgeschichte zu betrachten.
Ernährungsgewohnheiten als Spiegel der Gesellschaft
So multikulturell und „bunt“ wie die Gesellschaft ist auch die Esskultur. Heute wird die Nahrungsaufnahme mehr denn je durch die individuelle Alltagssituation, das Berufsleben und den persönlichen Lebensstil, aber auch durch Überzeugungen und den sozialen Status beeinflusst. Umgekehrt beeinflussen kulinarische Trends aber auch gesellschaftliche Entwicklungen.
Nach dem Mangel in der Nachkriegszeit wurde Deutschland in den 50er Jahren von einer „Fresswelle“ heimgesucht. Auslagen und Verkaufsregale waren wieder gefüllt, die Hausfrauen taten ihr Bestes, um ihre Familien mit solider Hausmacherkost und selbstgebackenen Torten zu verwöhnen. Mit der zunehmenden Vielfalt des Lebensmittelangebots drohten die „Tante-Emma-Läden“ aus allen Nähten zu platzen. Da wurde 1949 in Augsburg das erste Selbstbedienungsgeschäft für Lebensmittel eröffnet, und ein Jahrzehnt später erwirtschafteten in der Bundesrepublik bereits zehntausend Selbstbedienungsläden 25 Prozent des gesamten Lebensmittelumsatzes.
Traum von der perfekten Küche
Obwohl immer mehr Ehefrauen berufstätig wurden, blieb der Haushalt weiterhin ihre Domäne, sodass sie häufig einer Doppelbelastung ausgesetzt waren. Anstatt sich an der Hausarbeit zu beteiligen, schenkten die Männer ihren Frauen lieber „kleine Helfer“ wie Küchengeräte, Waschmaschinen oder Tiefkühltruhen. Die Industrie entwickelte mehr und mehr Fertiggerichte, um die Küchenarbeit zu erleichtern. Dank stetig verbesserter Produktions- und Konservierungsmethoden spielt „Convenience“ bis heute in den Küchen eine „tragende“ Rolle.
Italiener und Chinesen
Mit zunehmendem Wohlstand zog es immer mehr Bundesbürger gen Süden, wo sie Spaghetti alle vongole, Pizza und Chianti-Wein kennen und schätzen lernten. Die kulinarischen Exkurse waren indessen keine Einbahnstraße, es kamen auch ausländische Gastronomen in die Bundesrepublik. In Würzburg konnte man schon ab 1952 im „Sabbie di Capri“ („Sand von Capri“) rund ums Jahr mediterrane Köstlichkeiten schlemmen, bald zogen weitere südeuropäische und asiatische Gastronomen nach. Die kulinarische Landschaft der Bundesrepublik wurde zusehends multikulturell, und heute sind Restaurants mit gutbürgerlicher deutscher Küche im eigenen Land eher selten. Andererseits können deutsche Touristen an der Mittelmeerküste heute auch Eisbein und Currywurst mit Pommes verzehren.
Würzfleisch und Broiler
Die HO- und Konsum-Gaststätten der DDR boten als typische Gerichte Würzfleisch, Kasseler oder Rinderroulade mit Rotkraut und Klößen an. In den 60er Jahren kam der Goldbroiler als „sozialistische Antwort“ auf das Wiener Backhendl auf den Markt. In den größeren ostdeutschen Städten gab es auch Restaurants mit ausländischer Küche, allerdings überwiegend aus den Ostblockstaaten. Ältere Leipziger erinnern sich noch an das „Kiew“ und „Plovdiv“ mit ukrainischer bzw. bulgarischer Küche. Im „Varadero“ kann man heute noch kubanische Spezialitäten genießen, wenngleich seit einigen Jahren an einem neuen Standort.
Eine kulinarische Legende war der „Waffenschmied“ in Suhl. Dort bereitete der einheimische Wirt 1966 zum ersten Mal ein japanisches Menü zu. Das Lokal wurde nicht nur in der gesamten DDR ein Geheimtipp, sondern sogar japanische Messebesucher machten gern von Leipzig einen Abstecher nach Südthüringen. Nach einem rituellen Bad kleideten die Gäste sich dort in einen Kimono oder Yukata und genossen fernöstliche Gaumenfreuden – allerdings mussten sie zwei Jahre im Voraus einen Platz reservieren. In Köpenick eröffnete eine Ost-Berlinerin, die Italien nur vom Hörensagen kannte, 1987 das „Fioretto“. Es war das einzige italienische Restaurant in der DDR und wurde noch wenige Monate vor der Wende im französischen Gourmetführer „Gault Millau“ erwähnt.
Naturkost- und Bioläden
Anfang der 70er Jahre trübten die ersten Lebensmittelskandale das Vertrauen der Verbraucher. Kritische Stimmen prangerten die Massenproduktion von Lebensmitteln und die Massentierhaltung an und warnten eindringlich davor, weiterhin die Ressourcen der Erde auszubeuten. Verbraucherorganisationen setzten sich für Transparenz in Produktion und Einzelhandel ein. 1971 eröffnete in Berlin der erste Naturkostladen namens „Peace Food“, und bald boten in allen größeren Städten Bioläden ihre Lebensmittel aus traditioneller und chemiefreier Produktion an – in Konkurrenz mit den etwas altmodisch gewordenen Reformhäusern. Nebenbei waren sie auch Kommunikationszentren für politische Gruppierungen und Bürgerinitiativen.
Discocunter und Tafeln
Nachdem in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Schlagzeilen über BSE, Salmonellen, Gammelfleisch und andere Nahrungsmittelkontaminationen die Bevölkerung aufgeschreckt hatten, versuchten auch die großen Lebensmittelkonzerne mit „Bio“ neues Marktpotenzial zu erschließen. Der Erfolg hält sich indessen in Grenzen, denn deutsche Verbraucher kaufen am liebsten die preiswertesten Lebensmittel. Auch sorgen in der „Bio“-Branche „schwarze Schafe“ zuweilen für Verunsicherung.
Gerade die niedrigen Preise mögen aber auch ein Grund dafür sein, dass jeder Deutsche pro Jahr 80 kg Nahrungsmittel vernichtet. Dem Überfluss stehen indessen 1,5 Millionen Menschen gegenüber, die sich nur mithilfe der „Tafeln“ angemessen ernähren können. Geradezu widersinnig scheint es, dass am Produktionstag nicht verkaufte Brote in die Bäckereien zurückkehren, um im Backofen als „CO2-neutrale“ Energiequellen verbrannt zu werden. Eine Entwicklung, die nicht nur „Mülltauchern“ gegen den Strich geht: Gerade diese sind es aber, die aus weltanschaulichen Gründen die Supermärkte boykottieren und stattdessen in deren Abfallbehältern nach entsorgten, aber noch genießbaren Lebensmitteln „containern“.
Vom heimischen Herd zum „After-work-cooking“
Mit zunehmender Veränderung der Gesellschaftsstruktur wird das alltägliche Kochen immer mehr zur Ausnahme. Berufstätige, insbesondere aber auch Singles und alleinstehende Senioren können heute aus einer Vielzahl von Angeboten vom Döner-Haus und Bistro beim Fleischer über den Snack aus der Bäckereifiliale, das Abonnementessen in der Betriebskantine oder beim „Chinesen“ bis hin zum Pizza-Lieferservice und zum „Essen auf Rädern“ wählen. Gleichzeitig ist eine der einst elementaren Hausfrauenpflichten auf dem besten Wege, zum gediegenen Freizeit-Event zu avancieren: Restaurants wie das „LukullusT“ in Leipzig laden zum „After-work-cooking“ ein, um ambitionierten Laien unter Anleitung von Profis bei einem guten Tropfen die Zubereitung erlesener Gaumenfreuden als geselliges und sinnliches Erlebnis zu vermitteln.
Ausstellung
Zeitgeschichtliches Forum Leipzig
Grimmaische Straße 6, 04109 Leipzig
Tel. (0341) 2220121, Fax 2 22 05 00
Geöffnet: Dienstag bis Freitag 9 bis 18 Uhr, Samstag und Sonntag 10 bis 18 Uhr
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