Arzneimittel und Therapie

Nadelfrei gegen multiple Sklerose

Dimethylfumarat als neue orale Therapieoption

Seit ca. einem Jahr ist das Dimethylfumarat (Tecfidera®; Biogen Idec, Cambridge, USA) in Nordamerika für die schubförmig verlaufende multiple Sklerose (RRMS) zugelassen und seit März 2014 auch in Deutschland verfügbar. Dimethylfumarat gesellt sich als neue Substanz zu den oralen MS-Medikamenten.

Von einem Apotheker im Selbstversuch zur Behandlung der Schuppenflechte eingesetzt, haben unterschiedliche Fumarat-Gemische in den letzten 40 Jahren zunächst in der Dermatologie Einsatz gefunden. Ausgehend von der Überlegung, dass es sich bei der Schuppenflechte und MS um autoimmune Erkrankungen mit ähnlichen Pathomechanismen handelt, entstand an der Universitätsklinik Bochum die Idee, die Wirkung der Fumaratester bei MS in einer kleinen Studie zu testen – mit Erfolg [1]. In der Folge wurde eine Phase-IIb-MS-Studie [2] mit der Reinform des Dimethylfumarat-Präparats und schließlich zwei Zulassungsstudien mit etwa 2700 MS-Patienten (DEFINE mit Placebo und CONFIRM mit Glatirameracetat als Kontrollgruppe) [3, 4] durchgeführt, die für eine unerwartet starke schubreduzierende und entzündungshemmende Wirkung des Dimethylfumarats bei der multiplen Sklerose sprachen (siehe Abb.).

Abb.: Krankheitsprogression verlangsamt Die niedrigere Wahrscheinlichkeit für das Fortschreiten der Erkrankung unter Dimethylfumarat (DMF) spiegelte sich auch in der tatsächlichen Krankheitsprogression wieder (a: DEFINE-Studie, b: CONFIRM-Studie), wobei die unterschiedlichen Ergebnisse in den beiden Studien am ehesten durch die verschiedenen Patienten-Kohorten erklärt werden können; in der CONFIRM-Studie hatten die MS-Patienten insgesamt eine niedrigere Krankheitsaktivität bzw. -Progression.

Weniger Schübe und weniger Krankheitsprogression

Untersucht wurden die jährlichen Schubraten, Entzündungsaktivität in der Magnetresonanz-Tomographie (MRT) des Schädels und die Wahrscheinlichkeit, eine Krankheitsprogression zu entwickeln. Dimethylfumarat reduzierte die jährliche Schubrate um etwa 50%: Bis zum vollen Wirkeintritt dauerte es zehn bis zwölf Wochen. Zudem reduzierte sich die Krankheitsprogression unter Dimethylfumarat im Beobachtungszeitraum von zwei Jahren in der DEFINE-Studie bis zu 38%, und in beiden Studien wurde eine um mindestens 75% verminderte MRT-Krankheitsaktivität beobachtet. Bei den unerwünschten Wirkungen handelt es sich hauptsächlich um leicht- bis mittelgradige gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, abdominelle Schmerzen und Durchfälle sowie die unerwartete Errötung der Haut (das sog. Flushing). In den meisten Fällen sind die Nebenwirkungen nach etwa vier Wochen rückläufig oder sistieren vollständig und lassen sich durch supportive Maßnahmen, wie Einnahme des Medikamentes nach den Mahlzeiten und Acetylsalicylsäure gegen den Flush, verhindern. Letzteres konnte kürzlich auch in einer kleinen Beobachtungsstudie gezeigt werden [5]. Bei bis zu 6% der Patienten wurde mindestens einmal eine erniedrigte Anzahl von weißen Blutkörperchen beobachtet, wobei eine etwa um 30% reduzierte Leukozyten- und Lymphozytenzahl bei fast allen mit Dimethylfumarat behandelten Patienten auftrat und sich nach ca. 24 bis 36 Wochen ohne weiteren Abfall stabilisierte. Opportunistische Infektionen traten nicht auf. Im ersten Behandlungsjahr sollte daher eine erhöhte Wachsamkeit bezüglich des Blutbildes eingehalten werden, damit bei deutlicher Leukopenie unter 3000/µl oder Lymphopenie unter 500/µl rechtzeitig eine Therapiepause eingeleitet werden kann. Es gibt auch in der Langzeitverlaufsbeobachtung nach den Zulassungsstudien keinen Hinweis für eine mögliche Kanzerogenität oder Teratogenität von Dimethylfumarat.

Steckbrief Dimethylfumarat

Handelsname: Tecfidera

Hersteller: Biogen Idec GmbH

Einführungsdatum: 1. März 2014

Zusammensetzung: 1 magensaftresistente Hartkapsel enthält 120 mg bzw. 240 mg Dimethylfumarat

Stoffklasse: Andere Mittel für das Nervensystem, ATC-Code: N07XX09

Indikation: Behandlung von erwachsenen Patienten mit schubförmig remittierender multipler Sklerose

Dosierung: Anfangsdosis 120 mg (1 Kapsel) zweimal täglich. Nach 7 Tagen: Steigerung auf die empfohlene Dosis von 240 mg Dimethylfumarat zweimal täglich; bei Hitzegefühl und gastrointestinalen Nebenwirkungen vorübergehende Dosisreduktion auf 120 mg Dimethylfumarat zweimal täglich; empfohlene Dosis von 240 mg Dimethylfumarat zweimal täglich sollte innerhalb eines Monats wieder aufgenommen werden.

Tecfidera sollte zusammen mit einer Mahlzeit eingenommen werden.

Nebenwirkungen: Die häufigsten Nebenwirkungen (Inzidenz ≥ 10%) waren Hitzegefühl und gastrointestinale Ereignisse (z.B. Diarrhö, Übelkeit, Abdominalschmerz, Schmerzen im Oberbauch).Hitzegefühl und gastrointestinale Ereignisse beginnen hauptsächlich während des ersten Monats und können während der Behandlung mit Tecfidera weiterhin periodisch auftreten.

Des Weiteren wurden beobachtet: Lymphopenien, Leukopenie (häufig), Pruritus, Ausschlag, Erythem (häufig), veränderte Untersuchungswerte (häufig Ketonkörper im Urin, Albuminurie, erhöhte Leberwerte). Gelegentlich treten Überempfindlichkeitsreaktionen auf.

Wechselwirkungen: Inteferon-beta-1a, Glatirameracetat und andere MS-Therapeutika beeinflussen die Wirkung von DMF nicht. Gleichzeitige Behandlung mit nephrotoxischen Arzneimitteln (wie Aminoglycosiden, Diuretika, NSAIDs oder Lithium) kann das Risiko renaler Nebenwirkungen (z.B. Proteinurie) erhöhen. Mäßige Mengen Alkohol veränderten die Exposition gegenüber Dimethylfumarat nicht und führten nicht zu vermehrten Nebenwirkungen. Größere Mengen unverdünnter hochprozentiger alkoholischer Getränke (über 30% Vol) können zu erhöhten Auflösungsraten und dadurch zu vermehrten gastrointestinalen Nebenwirkungen führen. Obwohl eine Wechselwirkung mit oralen Kontrazeptiva nicht erwartet wird, sollten nicht-hormonelle Verhütungsmethoden während der Behandlung erwogen werden.

Interaktionen mit antineoplastischen oder immunsuppressiven Therapien oder mit Impfungen wurden nicht untersucht. Es ist daher nicht bekannt, ob DMF die Wirksamkeit von Impfstoffen vermindert. Lebendimpfstoffe können ein erhöhtes Risiko einer klinischen Infektion mit sich bringen und sollten Patienten unter DMF nicht verabreicht werden.

Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen: Bei Überempfindlichkeit gegen DMF oder sonstige Bestandteile ist Tecfidera® kontraindiziert.

Schwere Nieren- und Leberfunktionsstörungen: hier wurde DMF nicht untersucht, daher ist Vorsicht geboten.

Therapieüberwachung/Kontrollmaßnahmen:

Eine Beurteilung des großen Blutbilds wird auch nach Monaten der Behandlung empfohlen sowie danach alle 6 bis 12 Monate und wenn klinisch indiziert.

Eine Analyse der Nierenfunktion (z.B. Creatinin, Blut-Harnstoff-Stickstoff und Urinanalyse) und der Leberfunktion (z.B. ALT und AST) wird vor Behandlungsbeginn empfohlen, nach einer Behandlungsdauer von 3 und 6 Monaten, danach alle 6 bis 12 Monate und wenn klinisch indiziert.

Therapieabbruch: bei schwerwiegenden Infektionen ist ein Aussetzen der Behandlung in Erwägung zu ziehen.

PML häufig Ausdruck von Verschreibungsfehlern

Die Berichte über einige wenige Fälle von Progressiver Multifokaler Leukoencephalopathie (PML), die bei Psoriasis-Patienten typischerweise unter Behandlung mit dem alten Mischpräparat Fumaderm® entstanden, sind häufig Ausdruck von Verschreibungsfehlern bei länger dauernder Lymphopenie und lassen keine Schlüsse über Dimethylfumarat und PML-Risiko bei MS-Patienten zu. Jedoch haben wir in der neu erscheinenden Therapieleitlinie auf diese Fälle aufmerksam gemacht und auf die Notwendigkeit regelmäßiger Blutbildkontrollen besonders im ersten Therapiejahr hingewiesen (Therapieleitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [DGN] und des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose [KKNMS]) [6].

Vielversprechende erste Daten

Noch ist es zu früh, um den Stellenwert von DMF in der MS-Therapie zu benennen, jedoch zeigen die ersten Zahlen aus den USA, wo das Medikament bereits seit ca. einem Jahr verfügbar ist und über 35.000 MS-Patienten damit behandelt werden, dass es sich als erste Therapiewahl durchsetzen könnte. Dabei spielt neben der Wirksamkeit und insgesamt guten Verträglichkeit die orale Verabreichung des Dimethylfumarats eine wichtige Rolle für die Patienten. In diesem Zusammenhang scheint es erwähnenswert, dass die Darreichungsform nicht der einzige Faktor bei der Auswahl des Medikamentes sein sollte: Patienten, die bereits länger gut auf Injektionstherapien (Beta-Interferone oder Glatirameracetat) eingestellt sind und keine Nebenwirkungen haben, sollten ihre bewährte Therapie fortführen. Mit wachsendem Einsatz des Medikamentes und steigender klinischer Erfahrung werden sich auch mögliche weitere Einsatzmöglichkeiten von Dimethylfumarat vor dem Hintergrund der experimentell nachgewiesenen Gewebe-protektiven Wirkung unter Dimethylfumarat zeigen, z.B. bei schleichend-verschlechternden Verlaufsformen der multiplen Sklerose. Die erfolgreiche Übertragung eines therapeutischen Prinzips von einer Indikation auf eine andere, wie im Falle der Fumarate von den Gemischen in der Dermatologie zu Dimethylfumarat in der Neuroimmunologie, könnte bei der fortlaufenden Suche nach neuen Wirksubstanzen auch die Überprüfung weiterer bekannter Wirkstoffe im Sinne der pharmakologischen Repositionierung anregen. Gerade angesichts der intensiv geführten Diskussionen um das Preisniveau von Dimethylfumarat für die MS-Therapie sollten hier Kostenträger und Gesundheitssystem mehr Flexibilität zur Unterstützung von Studien zeigen. 

Nachgefragt: „Pille" und DMF

Prof. Dr. Ralf Gold

Die deutsche Fachinformation von Tecfidera®(siehe auch Steckbrief) enthält folgende Formulierung: „Obwohl eine Wechselwirkung nicht erwartet wird, sollten nicht-hormonelle Verhütungsmethoden während der Behandlung mit Dimethylfumarat erwogen werden.“ Laut Prof. Dr. Ralf Gold von der Neurologischen Klinik der Ruhr-Universität Bochum entbehrt diese Empfehlung jeglicher wissenschaftlicher Grundlage. In der amerikanischen Gebrauchsinformation sind derartige Hinweise nicht zu finden, und auch bei Dermatologen, die Dimethylfumarat seit zwei Jahrzehnten in der Psoriasis-Therapie einsetzen, ist das Problem einer theoretisch möglichen Wirkminderung der „Pille“ unbekannt. In den Gebrauchsinformationen der entsprechenden Präparate wird es auch nicht erwähnt.

Quelle

[1] Schimrigk S, Brune N, Hellwig K et al. Oral fumaric acid esters for the treatment of active multiple sclerosis: an open-label, baseline-controlled pilot study. Europ J Neurology. 2006; 13(6): 604–610.

[2] Kappos L, Gold R, Miller DH et al. Efficacy and safety of oral fumarate in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis: a multicentre, randomised, double-blind, placebo-controlled phase IIb study. Lancet. 2008; 372(9648): 1463–1472.

[3] Gold R, Kappos L, Arnold DL et al. Placebo-controlled phase 3 study of oral BG-12 for relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med. 2012; 367(12): 1098– 1107.

[4] Fox RJ, Miller DH, Phillips JT, et al. Placebo-controlled phase 3 study of oral BG-12 or glatiramer in multiple sclerosis. N Engl J Med. 2012; 367(12): 1087–1097.

[5] Sheikh SI, Nestorov I, Russell H et al. Tolerability and pharmacokinetics of delayed-release dimethyl fumarate administered with and without aspirin in healthy volunteers. Clinical therapeutics. 2013 Oct; 35(10): 1582-1594 e9.

[6] DGN/KKNMS Leitlinie zur Diagnose und Therapie der MS, Stand April 2012.

Dr. med. Aiden Haghikia und Prof. Dr. med. Ralf Gold, Neurologische Klinik der Ruhr-Universität Bochum, St. Josef-Hospital Bochum

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