Arzneimittel und Therapie

Weg von der Flasche

Baclofen als neue Therapieoption bei Alkoholabhängigkeit?

Die französische Arzneimittelbehörde ANSM hat am 14. März 2014 dem Muskelrelaxans Baclofen (Lioresal® und Generika) die vorläufige Zulassung zur Unterstützung einer Abstinenztherapie bei Alkoholabhängigkeit erteilt. Dies ist bemerkenswert, da groß angelegte klinische Studien zur Wirksamkeit von Baclofen in dieser Indikation noch nicht abgeschlossen sind.

Die französische Behörde hat sich zu diesem Schritt – neben dem hohen öffentlichen Druck – deshalb entschieden, weil Baclofen in Frankreich bereits häufig und in sehr hohen Dosierungen im Off-label-use zu diesem Zweck eingesetzt wird. Allerdings ist die Handhabung kompliziert, und die bei hoher Dosierung häufigen Nebenwirkungen erfordern oft eine stationäre Überwachung. Die vorläufige Zulassung gilt zunächst für drei Jahre und knüpft die Anwendung an einige Bedingungen. So müssen die Patienten beispielsweise zusätzlich psychotherapeutisch betreut werden, und ab einer bestimmten Tagesdosis muss der behandelnde Arzt die Meinung eines in der Anwendung von Baclofen erfahrenen Kollegen einholen. Ziel der vorläufigen Zulassung in Frankreich ist daher eine sicherere und geregelte Anwendung von Baclofen [1, 2].

Zentral angreifendes Muskelrelaxans

Baclofen, ursprünglich zur Behandlung von Epilepsien entwickelt, ist ein GABAB-Rezeptor-Agonist und wirkt über die Stimulierung inhibitorischer Neurone im Rückenmark als zentrales Muskelrelaxans. Es ist seit vielen Jahren zur Behandlung der Spastik bei Patienten mit multipler Sklerose und anderen Rückenmarkserkrankungen zugelassen [3]. In Deutschland ist Baclofen nicht zur Behandlung Alkoholkranker zugelassen.

Der breite Einsatz von Baclofen bei Alkoholsucht in Frankreich ist auf den New Yorker Kardiologen Olivier Ameisen zurückzuführen, der aus Frankreich stammt und 2013 verstarb [4]. Selbst alkoholabhängig hat Ameisen Baclofen in spektakulären Selbstversuchen getestet und seine Erfahrungen zuerst in einem Journal, dann in einem 2008 erschienenen Buch („Le dernier verre“, deutscher Titel „Das Ende meiner Sucht“) veröffentlicht [5, 6]. Darin beschreibt er, wie ihm die Einnahme von Baclofen nach jahrelangen verzweifelten und gescheiterten Versuchen, die Alkoholabhängigkeit zu bekämpfen, erfolgreich dabei geholfen hat, das Verlangen nach Alkohol zu unterdrücken, ihn quasi gleichgültig gegenüber der Substanz zu machen. Seitdem sind viele Ärzte und Patienten in Frankreich von der Wirkung von Baclofen überzeugt, und es wird entsprechend häufig eingesetzt.

Als Wirkmechanismus wird vermutet, dass Baclofen die Alkohol-induzierte Dopamin-Freisetzung senkt und somit zu einer Reduktion der Dopamin-vermittelten Verstärkungsreaktion auf Alkoholkonsum führt [7]. Problematisch sind jedoch vor allem die hohen Dosierungen, die bei der Alkoholentwöhnung eingesetzt werden. In der zugelassenen Indikation beträgt die Tageshöchstdosis 75 mg und darf nur ausnahmsweise unter stationärer Beobachtung auf 90 bis 120 mg erhöht werden [3]. Hingegen wird die bei Alkoholabhängigen subjektiv ermittelte Tagesdosis nach langsamem Einschleichen mit durchschnittlich 150 mg angegeben, in machen Fällen sogar mit bis zu 400 mg [8]. Dadurch treten mehr Nebenwirkungen wie Sedierung, Atemdepression, Tremor, Halluzinationen, Albträume, Ataxie, Nystagmus, Palpitationen, Hypotonie und erhöhte Leberenzymwerte auf.

Ein anderes Problem ist die Studienlage. Ein Cochrane Review aus dem Jahr 2013 kommt zu dem Ergebnis, dass die Evidenz für den Einsatz von Baclofen zur Alkoholentwöhnung nicht ausreichend ist [2]. Derzeit werden randomisierte, placebokontrollierte Studien mit Baclofen in höheren Dosierungen in Frankreich (BACLOVILLE, ALPADIR) und an der Berliner Charité (BACLAD) durchgeführt. Erste Ergebnisse werden frühestens Ende 2014 erwartet.

Therapiemöglichkeiten zur Alkoholentwöhnung

Wie ist die Situation in Deutschland? Sollte Baclofen auch bei uns zu einer Therapieoption bei der Alkoholentwöhnung werden? Derzeit sind etwa 1,3 Millionen Menschen in Deutschland alkoholabhängig, bei weiteren zwei Millionen besteht ein Alkoholmissbrauch (Alkoholkonsum mit schädlicher Wirkung aber ohne Abhängigkeit). Mindestens zehn Millionen zeigen ein riskantes Trinkverhalten, was mit mehr als 24 g reinem Ethanol pro Tag bei Männern bzw. mit mehr als 12 g bei Frauen definiert wird, und jährlich sterben ca. 75.000 Menschen an den Folgen zu hohen Alkoholkonsums [9, 10]. Grundsätzlich muss unterschieden werden zwischen einer Alkoholentzugstherapie und der Alkoholentwöhnung. Sowohl der Entzug als auch das Alkoholdelir, das im schlimmsten Falle eines Entzugs auftreten kann, werden hauptsächlich mit Clomethiazol oder mit Benzodiazepinen behandelt, wobei sich diese Substanzen nicht für eine ambulante Entzugsbehandlung eignen [2, 7]. Nach dem Alkoholentzug schließt sich die Phase der Entwöhnung an. Hier stehen derzeit in Deutschland mit Acamprosat (Campral®, NMDA-Rezeptor-Antagonist) und Naltrexon (Adepend®, reiner Opioidrezeptor-Antagonist) zwei „Anti-Craving“-Substanzen zur Unterstützung der Aufrechterhaltung der Abstinenz, also als Rückfallprophylaxe bei trockenen Alkoholikern, zur Verfügung [11, 12]. Obwohl für beide Substanzen eine klinisch relevante Wirksamkeit belegt ist und sie zu einer höheren Abstinenzquote im Vergleich zu unbehandelten Patienten führen, bleibt die Rückfallrate relativ hoch [13].

Eine weitere Option zur Alkoholentwöhnung ist Disulfiram (Antabus®). Der Aldehyddehydrogenase-Hemmer führt bei gleichzeitigem Alkoholkonsum zum Anstieg von Acetaldehyd, dem primären Abbauprodukt des Ethanols, und somit zu Vergiftungserscheinungen und „Katersymptomen“. Dies soll den Abhängigen vom Alkoholkonsum abschrecken. Das Präparat wurde in Deutschland lange Zeit ebenfalls bei schwer erkrankten Alkoholabhängigen eingesetzt. Allerdings hat die Herstellerfirma Nycomed die Zulassung von Antabus® 2011 aus „technologischen Gründen“ zurückgegeben. Dadurch ist ein Einsatz bei uns nur noch durch Einzelimport möglich, was viele Praktiker bedauern [14].

Mit Nalmefen (Selincro®) hat die EMA im Februar letzten Jahres ein Präparat zur Trinkmengenreduktion bei Alkoholabhängigen mit hohem Alkoholkonsum zugelassen [15]. Nalmefen wirkt antagonistisch an μ- und δ-Opioidrezeptoren und partiell agonistisch am κ-Opioidrezeptor und ähnelt daher in der Wirkung Naltrexon. Es darf nur für erwachsene Personen verschrieben werden, deren Alkoholkonsum sich auf einem hohen Risikoniveau (mindestens 60 g/Tag bei Männern bzw. 40 g/Tag bei Frauen) befindet, und soll „nach Bedarf“ angewendet werden: Ein bis zwei Stunden vor geplanter Alkoholaufnahme soll eine Tablette eingenommen werden, jedoch nicht mehr als einmal pro Tag. In Deutschland ist die Einführung laut Firmenangaben für den 1. September 2014 geplant, bis dahin ist ein Einzelimport nach § 73 AMG möglich. Für die Praxis bedeutend ist, dass sich die Verordnungskriterien für Alkoholentwöhnungsmittel zum 13. Mai 2014 geändert haben (siehe „Neuer Beschluss zu Alkoholentwöhnungsmitteln. G-BA: Arzneimittel zur Trinkmengenreduktion bedingt erstattungsfähig. DAZ 2014, Nr. 9, S. 20) und das relativ hochpreisige Nalmefen nun übergangsweise für Alkoholabhängige zulasten der Krankenkassen verordnet werden darf. Bisher sind Alkoholentwöhnungsmittel nur erstattungsfähig, wenn sie eine Abstinenz aufrechterhalten. Der Einsatz von Nalmefen bei Alkoholabhängigkeit soll Betroffenen den Ausstieg aus der Alkoholsucht erleichtern. Indem sie darin unterstützt werden, zuerst weniger Alkohol zu konsumieren, sollen sie schrittweise zur Abstinenz hingeführt werden. Man erhofft sich damit, auch Patienten zu erreichen, die zwar von ihrer Abhängigkeit loskommen wollen, für die die Hürde Abstinenz aber am Anfang zu hoch ist [15].

Fazit

Die Möglichkeiten zur medikamentösen Unterstützung der Alkoholentwöhnung sind momentan nicht zufriedenstellend. Mit Acamprosat und Naltrexon gibt es zwar zwei Wirkstoffe auf dem deutschen Markt, die einigen Patienten helfen, allerdings werden viele Alkoholabhängige trotz dieser Präparate rückfällig. Disulfiram wird nur noch selten und nach Import eingesetzt. Es gibt also Bedarf für ein neues Arzneimittel bei der Alkoholabhängigkeit. Nach der aktuellen Datenlage gibt es aber keine ausreichende Evidenz für die klinische Wirksamkeit von Baclofen bei der Alkoholentwöhnung. Die Ergebnisse der im Moment laufenden klinischen Studien bleiben abzuwarten. 

„Mittel der letzten Wahl“

Prof. Dr. med. Norbert Wodarz

Über die klinische Bedeutung von Baclofen bei der Alkoholentwöhnung in Deutschland sprachen mit Prof. Dr. med. Norbert Wodarz, Chefarzt und Leiter des Zentrums für Suchtmedizin am Bezirksklinikum Regensburg. Er ist mitbeteiligt an der Erstellung der S3-Leitlinie „Screening, Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen“, die in Kürze erscheinen wird.

DAZ: Ist Baclofen Ihrer Einschätzung nach eine sinnvolle Alternative zu den aktuellen Therapieoptionen bei der Alkoholentwöhnung?

Wodarz: Zum Einsatz von Baclofen bei Alkoholabhängigen gibt es eine dünne Datenlage, da die meisten Studien, die zu Baclofen gemacht wurden, im Niedrigdosisbereich erfolgten und dann negativ waren. Zum Einsatz hoher Dosen gibt es nur Einzelfallberichte, Ergebnisse randomisierter klinischer Studien liegen noch nicht vor. Deswegen wird auch die neu erscheinende S3-Leitlinie die Anwendung von Baclofen nicht empfehlen. In der Praxis wird Baclofen auch in meiner Klinik manchmal angewendet, allerdings nur, wenn der Patient dies unbedingt und von sich aus möchte und andere Therapiemöglichkeiten gescheitert sind. Hier muss man sich des Off-label-uses bei der Anwendung von Baclofen bei Alkholabhängigen stets bewusst sein. Unsere Praxiserfahrungen zeigen, dass nur wenige Patienten von einer Behandlung mit Baclofen profitieren. Disulfiram ist hier effektiver. Ich sehe Baclofen derzeit höchstens als „Mittel der letzten Wahl“ an.

DAZ: Wie schätzen Sie die Wirksamkeit der bisher zur Verfügung stehenden Therapieoptionen ein?

Wodarz: Naltrexon und Acamprosat steigern die Abstinenzquote nach Entzug und sind somit „besser als nichts“, wobei Acamprosat in der Praxis kaum mehr eine Rolle spielt. Studien zeigen, dass mehr als 90% der unbehandelten Patienten nach einem Jahr rückfällig werden, während durch Therapie mit einer der beiden Wirkstoffe die Quote bei ca. 70 bis 80% liegt. Nalmefen sehe ich mehr als Alternative zu Naltrexon an, aber nicht als wirkliche Neuerung im Therapieansatz. Beide Substanzen sind Opioidrezeptor-Antagonisten, eine ähnliche pharmakologische Wirkung ist daher nicht verwunderlich. Auch von Naltrexon ist bekannt und durch Studien belegt, dass es zu einer Trinkmengenreduktion führen kann, wenn es während der Anwendung zum Rückfall kommt. Ob eine klinische relevante Trinkmengenreduktion mit Nalmefen erreicht wird, muss abgewartet werden. In den Zulassungsstudien waren schwerst alkoholabhängige Patienten nicht eingeschlossen, so dass eine Aussage zur Wirksamkeit bei dieser Patientengruppe im Moment überhaupt noch nicht möglich ist. Ein Vorteil von Nalmefen gegenüber Naltrexon könnte dessen längere Halbwertszeit sein.

DAZ: Was halten Sie von anderen Präparaten zur Alkoholentwöhnung? Gibt es erfolgversprechende Produkte in der Pipeline?

Wodarz: Da sieht es sehr schlecht aus. Ein aktueller Cochrane Review rät vom Einsatz sämtlicher Antiepileptika zur Alkoholentwöhnung ab, einschließlich Gabapentin, das viele Hoffnungen geweckt hat. Auch Studien mit anderen Substanzen verliefen enttäuschend, ebenso der Einsatz eines Naltrexon-Depotpräparates. Daher sind die Aussichten momentan nicht sehr positiv, obwohl der Bedarf auf jeden Fall vorhanden ist.

DAZ: Herr Professor Wodarz, herzlichen Dank für Ihre Einschätzung!

 

Quelle

 [1] Agence Nationale de sécurité du Médicament et des produits de santé, Mitteilung vom 14. März 2014, www.ansm.sante.fr/S-informer/Actualite/Une-recommandation-temporaire-d-utilisation-RTU-est-accordee-pour-le-baclofene-Point-d-information.

 [2] Liu J, Wang LN. Baclofen for alcohol withdrawal. Cochrane Database of Systematic Reviews 2013, Issue 2. Art. No. CD008502.

 [3] Fachinformation Lioresal®, Stand Februar 2013.

 [4] Olivier Ameisen, l‘apôtre du Baclofène. Le Monde, Mitteilung vom 19. Juli 2013, www.lemonde.fr/societe/article/2013/07/19/mort-d-olivier-ameisen-heraut-du-baclofene-contre-l-alcoolisme_3450378_3224.html

 [5] Ameisen O. Complete and prolonged suppression of symptoms and consequences of alcohol-dependence using high-dose baclofen: a self-case report of a physician. Alcohol & Alcoholism (2005) 40 (2): 147–150.

 [6] Ameisen O. Das Ende meiner Sucht. Verlag Antje Kunstmann GmbH (2008).

 [7] Wodarz, N. Medikamentöse Therapie von Suchtkranken – ein Update. Konsum senken, Rückfällen vorbeugen. NeuroTransmitter (2011) 22 (3): 38-42.

 [8] Gache P, de Beaurepaire R, Joussaume B, Rap A, de la Selle. Leitfaden für die Anwendung von Baclofen bei der Behandlung von Alkoholproblemen. http://de.slideshare.net/Federico25/leitfaden-14372715?utm_source=slideshow02&utm_medium=ssemail&utm_campaign=share_slideshow

 [9] Gaertner B et al. Alkohol - Zahlen und Fakten zum Konsum. In: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hrsg.): Jahrbuch Sucht. Pabst Sciene Publishers (2013).

[10] Aktuelle Zahlen zum Alkoholkonsum in Deutschland, Stand 19. April 2014. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), www.kenn-dein-limit.info/news/artikel/aktuelle-zahlen-zum-alkoholkonsum-in-deutschland.html.

[11] Fachinformation Campral®, Stand Juni 2013.

[12] Fachinfo Adepend®, Stand Mai 2013.

[13] Rubio G, Jimenez-Arriero MA, Ponce G, Palomo, T. Naltrexone versus acamprosate: One year follow-up of alcohol dependence treatment. Alcohol & Alcoholism (2001) 36 (5), 419-425.

[14] Beendigung der Produktion und des Vertriebs des Medikamentes Antabus® durch die Firma Nycomed. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Kuratoriums der DHS. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V., www.dhs.de

[15] European public assessment reports (EPAR) Nalmefen. www.ema.europa.eu

 

Apothekerin Dipl.-Pharm. Elisabeth Pfister

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