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Ernährung
Zuckerersatz ohne Kalorien
Ist Stevia zu Recht in aller Munde?
Stevia rebaudiana Bertoni ist eine ursprünglich in Paraguay beheimatete subtropische Pflanze aus der Familie der Asteraceae. Das krautige, blattreiche Gewächs wird in kultivierten Formen bis zu 120 cm hoch und trägt zwei bis vier Zentimeter lange, rautenförmige Blätter.
Die in ihrer Heimat auch als Süßkraut oder Honigkraut bezeichnete Pflanze wird von der indignen Bevölkerung Brasiliens und Paraguays, den Guarani-Indianern seit Jahrhunderten zur Süßung von Mate-Tee und als Heilpflanze unter anderem zur Behandlung von Depressionen und Bluthochdruck eingesetzt. 1968 und 1971 wurden im Rahmen zweier japanischer Expeditionen in Paraguay etwa 500.000 Stevia-Pflanzen ausgegraben und nach Japan exportiert, um sie dort zu erforschen und zu kultivieren. Seither gilt die Stevia-Wildpflanze in ihrer ursprünglichen Heimat nahezu als ausgestorben. Zugleich begann mit dieser Aktion der Stevia-Siegeszug in Japan, wo der gewonnene Süßstoff heutzutage einen geschätzten Anteil von 40% am gesamten Süßstoff-Markt ausmacht.
Inhaltsstoffe
Aus den Blättern von Stevia rebaudiana ließen sich bisher über 100 verschiedene Inhaltsstoffe isolieren, darunter unter anderem Substanzen aus den Gruppen der Terpene, Flavonoide und Phytosterole. Für die Süße der Pflanze sind glykosidisch gebundene Diterpene, sogenannte Steviolglykoside verantwortlich. Von diesen fand man bis dato über 30 verschiedene Moleküle, die alle aus dem Diterpen Steviol als Aglykon bestehen, an das jeweils unterschiedliche Zucker gebunden sind (siehe Abbildung 1). Den mengenmäßig größten Anteil an Steviolglykosiden macht das Steviosid aus (5 bis 10% des Trockengewichts der Blätter), gefolgt vom Rebaudiosid A (2 bis 4%). Weitere relevante Steviolglykoside sind Rebaudiosid C (1 bis 2%) und Dulcosid A (0,4 bis 0,7%). Der Gehalt an den einzelnen Substanzen kann schwanken und ist unter anderem vom Erntejahr und der Kulturmethode abhängig.
Sensorische Eigenschaften
Steviolglykoside besitzen eine Süßkraft, die bis zu 300-mal stärker ist als die von Saccharose (Tab. 1). Diese lässt sich vor allem auf die Leitsubstanz Steviosid zurückführen. Für die sensorische Bewertung von den Verbindungen ist jedoch nicht nur die Süßkraft, sondern auch die sonstige Qualität des Geschmacks von Bedeutung. So reichen die Geschmackseindrücke der isolierten Steviolglykoside unter anderem von bitter und metallisch über lakritzartig bis hin zu krautig und karamellartig. Die Stevia-Blätter selber zeigen in hoher Konzentration einen langanhaltenden, deutlich bitteren Nachgeschmack.
Ging man früher davon aus, dass jedes einzelne Steviolglykosid einen charakteristischen Geschmack besitzt, konnte man mittlerweile durch Untersuchungen zeigen, dass identische Glykoside verschiedener Herkunft vollkommen unterschiedliche sensorische Eindrücke hinterlassen (siehe Abb. 2). Dies lässt darauf schließen, dass der Geschmack eher durch die Herstellungsbedingungen als durch die Identität des jeweiligen Steviolglykosids bestimmt wird.
Rechtliche Situation: Stevia und Steviolglykoside sind zwei verschiedene Paar Schuhe
In den 1990er Jahren wurde die Stevia-Pflanze auch in Europa als natürliche, annähernd kalorienfreie und nicht kariogene Alternative zu Saccharose zunehmend bekannter. 1997 wurde ein Antrag an das Scientic Commitee on Food (SCF) der EU gestellt. Dieser hatte zum Ziel, sowohl die Pflanze Stevia rebaudiana als auch ihre getrockneten Teile als Lebensmittel zuzulassen. Da Stevia zu diesem Zeitpunkt innerhalb der EU noch nicht in nennenswertem Umfang im Handel war, unterlag es automatisch der Novel-Food-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 258/97) und damit einer Zulassungspflicht, die unter anderem an einen Nachweis der Unbedenklichkeit gebunden ist. Da dieser nach Auffassung des SCF nicht in ausreichendem Maße erbracht werden konnte, wurde Stevia die Zulassung als Lebensmittel verwehrt. Die gesundheitlichen Bedenken zielten vor allem auf eine mutmaßliche Mutagenität, die in einigen Studien beschrieben worden war. Die Verwendung der Stevia-Pflanze (sowie Teilen von ihr) als Lebensmittel ist bis heute in der EU verboten!
Im November 2011 gab es dann den nächsten relevanten Schritt im lebensmittelrechtlichen Ringen um die Nutzung der Stevia-Süße in der EU. Die EU ließ Steviolglykoside als Lebensmittelzusatzstoff unter der Nummer E960 zu. Die Verwendung als Süßungsmittel unterliegt jedoch, wie bei Zusatzstoffen üblich, bestimmten qualitativen und quantitativen Restriktionen. So muss E960 zu wenigstens 95% aus Steviolglykosiden bestehen, die wiederum einen Mindestgehalt von 75% Steviosid und/oder Rebaudiosid A (Summe beider oder einer einzelnen Substanz) aufweisen. 20% entfallen auf andere Steviolglykoside, 5% des Süßstoffs dürfen sonstige, nicht näher beschriebene Verbindungen ausmachen.
Neben der qualitativen Zusammensetzung wurden auch Höchstmengen für die Verwendung als Süßstoff in Lebensmitteln definiert (Tab. 2). Seitens der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) wurde der ADI-Wert (Acceptable Daily Intake = duldbare tägliche Aufnahmemenge) für Steviolglykoside mit 4 mg/kg Körpergewicht angegeben [1]. Auf diesem Wert basierend hat die EU für einzelne Lebensmittel Höchstmengen für den Zusatz von Steviolglykosiden definiert. Zugleich bedeutet dies, dass der Einsatz von E960 nur für bestimmte Lebensmittelkategorien zugelassen ist, die Höchstmengenliste also als qualitative Positivauswahl der genannten 31 Lebensmittelgruppen zu verstehen ist.
Praktische Bedeutung von Steviolglykosiden in der Lebensmittelindustrie
Sowohl die sensorischen Eigenschaften (in höheren Dosen bitterer, lakritzartiger Geschmack) als auch die festgelegten Höchstmengen beschränken die Einsatzmöglichkeiten von Steviolglykosiden in der Praxis. Durch den Einsatz von Steviolglykosiden lässt sich nur ca. 30% des verwendeten Zuckers ersetzen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Süßkraft der vorgeschriebenen Höchstmengen des Zusatzstoffes oftmals nicht ausreicht, um den Produkten den gewünschten Süßgeschmack zu verleihen. Zum anderen dient die zu ersetzende Saccharose in der Lebensmittelindustrie häufig als Masse- und Volumengeber. Eine lebensmitteltechnologische Funktion, die der Süßstoff E960 nicht übernehmen kann. Somit enthalten Steviolglykosid-gesüßte Lebensmittel oftmals zusätzlich Zucker – sicherlich auch eine Tatsache, die einem raschen Siegeszug dieses Süßstoffes im Wege steht. Vor gut einem Jahr waren im deutschen Markt nur 153 Lebensmittel zu finden, die mit Steviolglykosiden gesüßt waren. Stevia ist hitzestabil bis 200°C und zum Backen und Kochen geeignet.
Auch wenn der Zusatzstoff E960 seinen Ursprung in der Stevia-Pflanze hat, ist es der Lebensmittelindustrie dennoch nicht erlaubt, mit Steviolglykosiden gesüßte Produkte werblich mit Stevia in Zusammenhang zu bringen. Produktauslobungen wie z.B. „mit natürlicher Süße“, „mit Stevia gesüßt“ oder auch Abbildungen der Pflanze auf der Verpackung werden als irreführende Werbung gewertet. Steviolglykoside werden in einem aufwendigen Verfahren unter Verwendung unter anderem von Formaldehyd, Alkohol, Aluminiumsalzen und verschiedenen Harzen gewonnen. Da alleine dieser Herstellungsprozess jeden Gedanken an Natürlichkeit verdrängt, ist es leicht nachvollziehbar, dass für Steviolglykosid enthaltende Lebensmittel auch eine Auslobung mit dem Bio-Siegel unzulässig ist.
Zusammenfassung
Die aus Südamerika stammende Pflanze Stevia rebaudiana wird in ihrem ursprünglichen Kulturkreis seit Jahrhunderten als Süßkraut verwendet.
Da der EU keine ausreichenden Daten zu ihrer gesundheitlichen Unbedenklichkeit vorliegen, dürfen der Novel-Food-Verordnung entsprechend, weder die Pflanze noch Teile von ihr hierzulande als Lebensmittel in den Verkehr gebracht werden.
Seit November 2011 sind Steviolglykoside als Lebensmittel-Zusatzstoff in der EU zugelassen. Die Verwendung dieses Süßstoffs, der mit seinem „natürlichen Vorgänger“, der Stevia-Pflanze nicht mehr viel gemein hat, unterliegt engen lebensmittelrechtlichen Rahmenbedingungen, die einem Siegeszug des „Stevia-Süßstoffs“ nach japanischem Vorbild im Wege stehen.
Quelle
[1] Scientific opinion of the Panel on Food Additives and Nutrient Sources added to food on the safety of steviol glycosides for the proposed uses as a food additive. EFSA Journal 2010:8(4):1537
[2] Steviolglykosid – ein Süßstoff aus der Pflanze Stevia rebaudiana BERTONI; www.stevia-uni-hohenheim.de
[3] Süße und aromatische Blätter von Stevia rebaudiana und dem Chinesischen Brombeerstrauch. Stellungnahme des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) vom 2. April 2003
[4] Kinghorn AD, Kim N-C, Kim DHL. Terpenoid glycoside sweeteners. In Naturally Occurring Glycosides; Ikan R, Ed. John Wiley & Sons: New York, USA, 1999;399–429
[5] Kienle U. Stevia rebaudiana. Journal Culinaire 2007;5:59-69
[6] Verordnung (EU) Nr. 1131/2011 der Kommission vom 11. November 2011
[7] Chatsudthipong V, Chatchai, M. Stevioside and related compounds: Therapeutic benefitsbeyond sweetness. Pharmacology and Therapeutics 2009;121:41-54
[8] Rempe C. Steviakraut und Steviaextrakte: Der feine Unterschied (2014). www.was-wir-essen.de/verbraucher/novel_food_stevia_unterschiede.php
[9] Semler E. Stevia rebaudiana Bertoni – Süßer Genuss ohne Reue? Zeitschrift für Komplementärmedizin 2013;3:57-61
Autor
Dr. Axel Vogelreuter
Apotheker und Lebensmittelchemiker
Apotheke am Neumarkt
Neumarkt 2, 50667 Köln
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