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Teure Gesundheit

Eine pharmakoökonomische Analyse der Auswirkungen hochpreisiger Arzneimittel

Hochpreisige Arzneimittel verursachten im Jahr 2014 fast ein Viertel der Ausgaben für verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), aber ihr Absatzanteil (also der Anteil an der Zahl der Packungen) lag nur im Promillebereich. Von einer weiteren Umsatz- und Absatzausweitung dieser Hochpreiser in den nächsten Jahren ist auszugehen. Dies hat erhebliche, in Extremfällen sogar existenzbedrohende Folgen für Apotheken (siehe „Teure Packungen: Hochpreiser als eine neue Herausforderung für die Apotheke“ in DAZ 2015, Nr. 15), stellt aber auch die Krankenkassen und letztlich die Gesellschaft insgesamt vor neue Herausforderungen. Die Hochpreiser verursachen einen ­wesentlichen Teil des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen und zehren zumindest die Einsparungen auf, die bei anderen Arzneimitteln – teilweise unter großen ­Mühen – erzielt werden.

Von Thomas Müller-Bohn und Uwe Hüsgen

Spannungsfeld zwischen Generika und Hochpreisern

So entfielen von den rund 660 Mio. im Jahr 2014 zulasten der GKV verordneten Fertigarzneimittelpackungen nach Angaben von Insight Health mehr als 72 Prozent auf Generika. Nach Abzug der Herstellerrabatte gemäß § 130a Abs. 8 SGB V – in Höhe von mehr als 3,15 Mrd. Euro, die nach Schätzungen von Pro Generika zu 80 bis 90 Prozent von Generikaunternehmen geleistet wurden – und der Zuzahlungen der Versicherten lag der Anteil der Ausgaben für Generika an den GKV-Arzneimittelausgaben insgesamt im letzten Jahr bei unter 25 Prozent. „Die Schere zwischen Versorgungsanteil und Generikaausgaben der GKV öffnet sich somit seit Jahren immer weiter“, so Pro Generika [1].

Der durchschnittliche Arzneimittelrezeptumsatz je gesetzlich Versichertem lag nach Abzug von Zuzahlung und Rabatt im Jahr 2013 bei unter 540 Euro [2]. Damit verursacht die Arzneimittelversorgung des „Normal-Patienten“ über ein Jahr weit weniger Kosten als eine einzige Packung so manches Hochpreisers. Die Apotheken und ihre Mitarbeiter agieren so im Spannungsfeld zwischen nervenaufreibenden ­Rabattverträgen, Generika zu Tiefstpreisen und Lieferengpässen einerseits und teilweise extrem hohen Preisen für einzelne Packungen andererseits.

Doch die Preisgestaltung der Hochpreiser ergibt sich aus einem einfachen Zusammenhang: Einen neuen Wirkstoff zur Marktreife zu führen, verursacht typischerweise Kosten in der Größenordnung von etwa einer Milliarde Euro. Wenn das neue Arzneimittel ein weites Indikationsgebiet mit vielen Patienten abdeckt, führt bereits ein eher geringer Packungspreis bald in die Gewinnzone. Je weniger Anwender zu erwarten sind, umso höher muss der Preis der Packung angesetzt werden, damit sich die Entwicklungskosten amortisieren. Besonders krass ist dieser Effekt, wenn für die Hochpreis-Therapie nur wenige Packungen benötigt werden – sei es, weil das Arzneimittel kurativ wirkt, sei es, weil es bei Schwerstkranken zu einer (nur) überschaubaren Lebensverlängerung führt. Dies kann erklären, weshalb so wenige Antibiotika neu entwickelt werden und weshalb die neuen kurativ wirksamen Virustatika gegen Hepatitis C so teuer sind. Mit solchen Hochpreisern muss das Pharmaunternehmen seinen „patientenbezogenen Umsatz“ innerhalb weniger Wochen tätigen, anders als bei Arzneimitteln, die Patienten über Jahrzehnte einnehmen müssen, wie Antidiabetika oder Antihypertensiva.

Anreize durch die Nutzenbewertung

Auf die Frage, warum die Industrie einerseits immer seltener klassische Blockbuster für breite Indikationsgebiete entwickelt und warum andererseits so viele Nischenprodukte eingeführt werden, wie z. B. Arzneimittel, die als letzte Behandlungsoption für Tumorpatienten zur Verfügung stehen, gab Josef Hecken, der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, beim Eppendorfer Dialog am 25. Februar d. J. eine Antwort. Er stellte fest, dass unter den 22 Arzneimitteln, die sich bis dahin der frühen Nutzenbewertung stellten und denen ein beträchtlicher Zusatznutzen attestiert wurde, 13 Onkologika waren. Denn es sei verhältnismäßig einfach, bei Patienten mit nur geringer Lebenserwartung ­eine signifikante Lebensverlängerung um einige Monate zu belegen. Die im Sinne der evidenzbasierten Medizin geforderten Studien seien dann kurz und vergleichsweise einfach zu erstellen. So seien schnell eine positive Nutzenbewertung und damit ein hoher Preis zu erzielen. Dagegen sei es sehr viel schwieriger und zudem langwieriger, den Zusatznutzen z. B. einer neuen Dauermedikation bei einer chronischen ­Erkrankung nachzuweisen (siehe „Viele Barrieren für Innovationen“, DAZ 2015, Nr. 10). Dort drohe zusätzlich der Preisvergleich mit den seit Langem eingeführten Generika auf niedrigstem Preisniveau.

Die geforderte Form des Nutzennachweises schafft demnach einen starken Anreiz, innovative Arzneimittel für die letzte (Krankheits-)Phase des Lebens zu entwickeln. Für Arzneimittel, die zu einem weiteren Fortschritt (Zusatznutzen) bei den bereits intensiv therapierten Volkskrankheiten führen könnten, schafft das Instrumentarium der frühen Nutzenbewertung in jetziger Form dagegen weniger Anreize. Daher werden die Forschungsressourcen entgegen dem ökonomischen Prinzip primär so eingesetzt, dass viele neu entwickelte Arzneimittel eher wenigen als vielen Patienten nutzen, und die für wenige Patienten entwickelten Arzneimittel müssen folglich sehr hohe Preise haben.

Zudem kritisieren Versorgungsforscher jenseits rein monetärer Betrachtungen, der Mehrwert von Arzneimitteln mit nachgewiesenem Zusatznutzen komme nicht immer bei den Patienten an. Gemäß AMNOG-Report der DAK-Gesundheit schlage sich die frühe Nutzenbewertung nur teilweise im Verschreibungsverhalten der Ärzte nieder [3]. So korrelierten Absatzentwicklung und pharmazeutischer Mehrwert nicht zwangsläufig. Der Vorsitzende der DAK-Gesundheit, Prof. Herbert Rebscher, erklärte dies beim Zwischenahner Dialog am 16. April d. J. mit dem Budgetdruck für die Ärzte. Daher hätten solche Arzneimittel aus dem Budget herausgenommen werden müssen, so Rebscher (siehe „Plädoyer für die Versorgungsforschung“, DAZ 2015, Nr. 17).

„Nikolausurteil“

Als zusätzlicher Beschleuniger für eine verstärkte Verordnung von Hochpreisern kann ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (vom 06.12.2005; Az. 1 BvR 347/98) wirken, das den Anspruch von Patienten auf Kostenübernahme für eine teure außervertragliche Behandlungsmethode zu Lasten der GKV bestätigt hat. In diesem (wegen des Datums oft „Nikolausurteil“ genannten) Beschluss wird ausgeführt, dass es mit dem Grundrecht auf Leben, dem Sozialstaatsprinzip und der grundgesetzlich garantierten allgemeinen Handlungsfreiheit nicht vereinbar ist, wenn die GKV die Kosten bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung nicht übernimmt. Die Kostenübernahme darf selbst dann nicht ausgeschlossen werden, wenn nur „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“ [4].

Sorgen der EU

Hochpreisige (innovative) Arzneimittel sind auch zu einem Thema auf EU-Ebene geworden. So hatten die EU-Gesundheitsminister erst Ende 2014 „mit Besorgnis zur Kenntnis genommen, dass die sehr hohen Preise einiger innovativer Arzneimittel im Verhältnis zu ihrem Nutzen für die Patienten und zu den Kapazitäten einiger Mitgliedstaaten in Bezug auf ihre öffentlichen Gesundheitsausgaben dazu führen, dass Patienten nicht immer Zugang zu innovativen Behandlungen haben“. Deshalb wurde beschlossen, auf Ebene einer EU-Arbeitsgruppe „den Dialog zwischen den Interessenträgern und zuständigen Behörden fortzusetzen und zu prüfen, welche Möglichkeiten es für eine freiwillige Zusammenarbeit im Bereich der Preisbildung und Erstattung geben könnte, und die Einleitung von Pilotprojekten auf diesem Gebiet zu unterstützen“. Ergänzend wird im Jahreswachstumsbericht 2015 der EU darauf hingewiesen, „dass sich Innovation in der Gesundheitsversorgung [und Pflege] vor allem darauf konzentrieren soll, den allgemeinen und gleichen Zugang zu hochwertigen und sicheren Gesundheitsdienstleistungen sicherzustellen, wobei diese bezahlbar, nachhaltig und kosteneffizient erbracht werden sollen“ [5].

Mögliche Maßnahmen

Schon lange vor der beschriebenen Entwicklung zu Hochpreisern wurde diskutiert, wie der langfristig zu erwartende Anstieg der Gesundheitsausgaben zu bremsen sein könnte. Die dabei vorgeschlagenen Instrumente sollen hier speziell daraufhin überprüft werden, wie sie auf das Hochpreiser-Problem wirken. Alle Vorschläge zur Einnahmeseite des Gesundheitssystems bleiben unbeachtet. Hier sollen nur Maßnahmen interessieren, die auf der Ausgabenseite die Menge, den Preis und/oder die Struktur der zu erbringenden Leistungen beeinflussen. Bedeutsam sind auch Anreize für die Industrie zur Entwicklung neuer Arzneimittel. Häufig verordnete Innovationen mit moderatem Preis können das System ebenso belasten wie selten verordnete Hochpreiser. Der erstere Fall birgt allerdings die Chance, etablierte Arzneimittel für verbreitete Indikationen durch innovative Arzneimittel zu ersetzen, um damit an anderer Stelle Kosten zu sparen.

Priorisierung

Gerade von ärztlicher Seite wird schon länger auf die drohenden Probleme durch langfristig steigende Gesundheitsausgaben hingewiesen. Dr. Wolfgang Wesiack, Präsident des Berufsverbandes Deutscher Internisten, bekräftigte dies kürzlich mit Blick auf das neue GKV-Versorgungsstärkungsgesetz: „Die Ärzteschaft muss ihre Positionen offensiv vertreten und nicht immer versuchen, dieses Gesundheitssystem gangbar zu erhalten. Ein fast unbegrenztes Leistungsversprechen der Politik bei strikt begrenztem Gesamtbudget ist das Hauptproblem. Die Politik verteilt lieber Wohltaten an Patienten und an Beitragszahler, als sich um eine Strukturierung der Versorgung, die zugegebenermaßen Einschränkungen beinhaltet, zu kümmern“ [6].

In ärztlichen Organisationen, insbesondere in der Bundesärztekammer, wird schon seit Jahren über Priorisierung diskutiert. Für Rudolf Henke, CDU-Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheit sowie Präsident der Ärztekammer Nordrhein, muss sich – in seiner weiteren Funktion als Mitglied der Arbeitsgruppe Priorisierung der Bundesärztekammer – die Ärzteschaft darüber verständigen, wie ein medizinisch und ethisch tragbares Konzept der Priorisierung im Gesundheitswesen aussehen kann und welche Rolle die Ärzte bei der Umsetzung spielen sollten. Dabei sei Priorisierung nicht mit Rationierung gleichzusetzen. Rationierung sei das systematische tatsächliche Vorenthalten medizinisch notwendiger beziehungsweise wenigstens überwiegend nützlicher Leistungen aus Knappheitsgründen. Dagegen sei Priorisierung die Klärung von Vor- und Nachrangigkeiten.

Prof. Dominik Groß, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in der Medizinischen Fakultät der RWTH Aachen, charakterisiert Priorisierung so: Ganz vorne stehe, was nach Maßgabe gesellschaftlich geklärter Werte und Normen sowie nach Datenlage und fachlichem Konsens als dringend behandlungsbedürftig oder unverzichtbar beurteilt werde. „Hinten steht das, was keiner medizinischen Behandlung bedarf, kaum oder nicht wirkt beziehungsweise mehr schadet als nützt.“ Eine möglichst breite gesellschaftliche Debatte sei deshalb zwingend notwendig. „Eine Gesellschaft, die ihre gesundheitliche Versorgung priorisiert, muss sich über die Ziele, grundlegende Werte, inhaltliche und prozedurale Kriterien verständigen.“ Neben Experten müssten auch die Patienten einbezogen werden [7]. Dies gilt wohl auch für die Apotheker, die als Arzneimittelexperten gefordert sind, sich an dieser Diskussion zum Thema „Priorisierung“ zu beteiligen.

Das „Nikolausurteil“ kann als Eckpunkt einer solchen Debatte interpretiert werden. Demnach wäre potenziell lebensverlängernden Maßnahmen auch bei nur geringen Erfolgsaussichten die höchste bzw. sogar eine absolute Priorität zuzumessen. Das würde das zuvor beschriebene Dilemma verschärfen und Anreize für die Entwicklung von Arzneimitteln setzen, die den absehbaren Tod (nur) ein wenig verschieben können. Arzneimittel, die möglicherweise durch das langfristig bessere Krankheitsmanagement eines Chronikers dessen Leben in Jahrzehnten erheblich verlängern (und verbessern!), die aber nicht kurzfristig das Sterben verhindern, und deren Effekt niemals so kausal mit dem Arzneimittel zu verknüpfen sein wird, könnten bei einer solchen (Form der) Priorisierung durchs Rost der Erstattungsfähigkeit fallen. Die unmittelbare Wirkung einer Priorisierung zielt allerdings auf die Mengen und die Struktur der eingesetzten Leistungen. So könnte die Verordnung von Hochpreisern begrenzt werden. Auf die Preisbildung und damit auf das Entstehen der hohen Preise hätte eine Priorisierung jedoch kaum Einfluss.

Pharmakoökonomische Bewertung

In der wissenschaftlichen Debatte innerhalb der Gesundheitsökonomie gilt der Vergleich von Kosten und Ergebnissen („Outcome“) der Therapie als das gebotene Verfahren. Mit den Kosten einer Therapie sind allerdings nicht (nur) die Preise von Arzneimitteln und/oder ärztlichen Leistungen gemeint, sondern alle mit der Behandlung verbundenen Kosten. Pharmakoökonomische Bewertungen sind keine Preisvergleiche und Hochpreiser damit nicht per se als schlecht einzustufen. Entscheidend ist vielmehr, welches Behandlungsergebnis unter Berücksichtigung des Ressourceneinsatzes erzielt wird. So ist ein Hochpreiser, der z. B. einen Patienten heilt und langes Siechtum und die damit verbundenen Kosten einspart, wirtschaftlich im Sinne der Pharmakoökonomie. Hochpreiser, die keine Kosten an anderer Stelle einsparen und den Nutzen für den Patienten nur wenig mehren, sind dagegen aus pharmakoökonomischer Sicht als eher ungünstig zu bewerten.

Wenn anhand solcher Bewertungen über die Erstattungsfähigkeit von Arzneimitteln entschieden wird, greift dies vorrangig in die Struktur der verordneten bzw. eingesetzten Arzneimittel ein. Die Preise werden nur indirekt beeinflusst, indem ein niedriger Preis ein Arzneimittel wirtschaftlich vorteilhafter macht und damit seine Bewertung verbessert. Die Industrie erhält Anreize zur Entwicklung von Arzneimitteln, die an anderer Stelle Kosten sparen oder besonders vorteilhaft für die Patienten sind (oder beides). Wenn pharmakoökonomische Bewertungen nicht bei Entscheidungen über die Erstattungsfähigkeit, sondern bei der Preisbildung herangezogen werden, wirken sie dagegen auf die Preise und damit direkt gegen Hochpreiser, aber allenfalls nur indirekt auf Menge und Struktur der eingesetzten Arzneimittel.

QALYs – hilfreich oder unethisch?

Ein grundlegendes Problem aller pharmakoökonomischen Bewertungen ist, wie der Outcome gemessen wird. Dabei konkurrieren indikationsspezifische und indikationsunabhängige Maße. International verbreitet ist das qualitätsbereinigte Lebensjahr (QALY, quality adjusted life year) als indikationsunabhängiges Maß. Ein QALY ist definitionsgemäß ein Jahr, das eine Person mit bestmöglicher gesundheitsbezogener Lebensqualität verbringt. Wenn die gesundheitsbezogene Lebensqualität geringer ist, erlebt der Betroffene innerhalb eines Kalenderjahres weniger als ein ganzes QALY. Das größte methodische Problem ist dabei zu ermitteln, wie stark die gesundheitsbezogene Lebensqualität ­gegenüber dem Idealzustand vermindert ist. Vielfältige Verfahren mit ihren Vor- und Nachteilen werden in der Wissenschaft kontrovers diskutiert, und die Bewertung hängt stets vom jeweiligen Verfahren ab. Diese Unzulänglichkeiten begrenzen die Einsetzbarkeit von QALYs insbesondere als präzises und justiziables Maß. Doch dies ist ein methodisches Problem, das nicht das Prinzip berührt, Lebensdauer und Lebensqualität zu einem gemeinsamen Maß zu verknüpfen.

Die politische Debatte in Deutschland wendet sich dagegen schon lange und grundsätzlich gegen den Einsatz von QALYs. Dies dürfte seinen Ursprung in dem Unbehagen haben, Leben und Geldeinheiten in eine Relation zueinander zu setzen. Dies geschieht bei der Ermittlung von QALYs zwar nicht, aber in einigen Ländern bestehen explizite Grenzen oder zumindest durch langjährige Praxis gefestigte Vorstellungen, wie viel ein zusätzliches QALY kosten darf, damit eine Therapie zu Lasten der Solidargemeinschaft noch als finanzierungswürdig eingestuft wird. In Deutschland gilt dagegen ein weitreichender politischer Konsens, eine daraus resultierende Rationierung nicht einzuführen. Es erscheint jedoch überzogen, deshalb jeglichen Umgang mit QALYs abzulehnen. Denn die in der Wissenschaft weit verbreiteten QALYs können durchaus als Anregung für andere Überlegungen dienen. Insbesondere könnten sie bei Preisverhandlungen helfen und dort die bisherigen Maßstäbe aus der frühen Nutzenbewertung ergänzen oder ersetzen. Angesichts der Unsicherheiten bei der Ermittlung von QALYs taugen sie ohnehin eher als „weiche“ Orientierung für Verhandlungen und weniger als „harte“ Grenze für dichotome, d. h. alternativ zu treffende Entscheidungen über die Erstattungsfähigkeit. Das Hinzuziehen von QALYs bei Preisverhandlungen würde die Bedeutung der Lebensqualität verstärken. Eine nachgewiesene Lebensverlängerung wäre dann nicht mehr automatisch eine Rechtfertigung für exorbitant höhere Preise im Vergleich zu anderen Arzneimitteln (oder Behandlungsmethoden). Vielmehr würde auch berücksichtigt, bei welcher Lebensqualität die Patienten diese Phase ihres ­Lebens verbringen. Umgekehrt bestünde dann die Aussicht, dass auch solche Therapien gut honoriert werden, die zwar nicht das Leben verlängern, die aber besser verträglich und für die Patienten praktikabler sind. Arzneimittel, die das Leben von todkranken Patienten möglicherweise etwas verlängern, sich dabei aber stark negativ auf die Lebensqualität auswirken, würden dann weniger hoch bewertet. So könnten andere Anreize für die pharmazeutische Industrie gesetzt werden. Die Frage, ob damit eher weniger Hochpreiser und mehr Arzneimittel gegen Volkskrankheiten entwickelt würden, bleibt jedoch offen.

Preis schnell rauf und schnell runter

Im Zusammenhang mit den Preisverhandlungen ist eine Besonderheit des deutschen Systems zu beachten: Die Herstellerabgabe-, und damit letztlich auch die Apothekenverkaufspreise werden erst für das zweite und die folgenden Jahre nach Markteinführung des neuen Arzneimittels verhandelt; im ersten Jahr ist der Hersteller in seiner Preisbildung frei.

Letzteres ist zwar ein gewollter Innovationsanreiz. Da die Ärzte die Wirtschaftlichkeit ihrer Verordnungen verantworten müssen, hat der Hersteller aber auch im ersten Jahr der Markteinführung keine absolute Freiheit im Rahmen der Preisfestsetzung. Schon nach einem Jahr ist der Preis für den Hersteller kaum noch kalkulierbar. Für das pharmazeutische Unternehmen besteht damit ein Anreiz, den Preis ­eines innovativen Arzneimittels so hoch anzusetzen, dass es bereits im ersten Jahr einen großen Teil seiner geplanten Rendite erzielt (bzw. einen großen Teil der Investition amortisiert). Damit provoziert das System geradezu die Entstehung von „Hochpreisern auf Zeit“. Die Belastung für das ­Gesundheitssystem dürfte langfristig jedoch nicht höher sein, wenn der Hersteller seine Rendite über längere Zeit mit ­einem moderaten Preis erzielen wollte. Das Hochpreiser-Problem wäre demnach teilweise eine Marktverzerrung durch die geltenden Regeln und würde langfristig keine so große Belastung für das System verursachen, wie es der ­erste Blick befürchten lässt.

Auch wenn es sich widersprüchlich anhört: Als weiterer Anreiz für hohe Preise bei Markteinführung wirkt der starke Wettbewerb auf dem deutschen Arzneimittelmarkt. Hersteller, die schon bald wirksame Konkurrenz befürchten müssen, sind gehalten, ihre Marktchancen möglichst zeitig zu nutzen. Während Umsatz- und Gewinneinbrüche nach Patentablauf vorhersehbar sind, drohen dem Hersteller schon während der Patentlaufzeit erhebliche finanzielle Einbußen durch die Preisverhandlungen einerseits und den Innovationswettbewerb auf Indikations-(und Versorgungs-)ebene andererseits. Sofosbuvir und die schon einige Monate danach zugelassenen weiteren interferonfreien Therapieregime gegen Hepatitis C mögen dafür als Beispiel dienen. Die Alternativen sind zwar teilweise sogar noch teurer, doch immerhin sorgen sie für Wettbewerb. Damit steigt für Ärzte auch der Druck zu rechtfertigen, warum gerade das allerneueste und teuerste Produkt eingesetzt wird, sofern akzeptable Alternativen bestehen. Wenn dies wiederum dazu führen würde, dass Innovationen im ersten Jahr kaum verordnet werden, würde der gewollte Anreiz der freien Preisbildung im ersten Jahr ins Leere laufen. Die Verlierer wären die Patienten, die ein Jahr länger auf eine Innovation warten müssten, und gerade das kritisiert der AMNOG-Report der DAK-Gesundheit.

Eingriffe in die Preisbildung

Diese Betrachtungen zeigen, dass Eingriffe in die Preisbildung am ehesten geeignet erscheinen, das Hochpreiser-Problem zu begrenzen. Damit rücken noch stärkere Eingriffe, von der Preisreferenzierung auf andere Länder bis zu staatlichen Preisdiktaten, ins Blickfeld. Diese würden zwangsläufig auf die Preise wirken und die Industrie zu anderen strategischen Überlegungen verleiten. Es würde sich damit die Frage stellen, an welchen Maßstäben sich eine behördliche Preisregulierung orientieren sollte. Rein politische Entscheidungen oder banale Preisvergleiche versprechen keine ökonomisch sinnvollen Lösungen. Pharmakoökonomische Bewertungen hingegen bieten zumindest im Ansatz objektive Maßstäbe. Diese könnten allerdings auch ohne rigide staatliche Maßnahmen als Kriterien für Preisverhandlungen verankert werden.

Wie stabil ist das System?

Schließlich bleibt die Frage zu diskutieren, ob ein einzelnes hochpreisiges Arzneimittel die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems sprengen könnte. Als Gedankenexperiment mögen solche Szenarien konstruierbar sein, aber in der Realität dürfte es einige Zeit dauern, bis geklärt ist, ob ein Arzneimittel auch im Versorgungsalltag derart vorteilhaft ist, dass es jedem Patienten mit der betreffenden Indikation verschrieben werden muss. In der Zwischenzeit dürften Nachahmer mit verwandten Wirkstoffen – oder auch andere Therapieansätze – für einen gewissen Wettbewerb sorgen, der zumindest „Mondpreise“ verhindert. Sehr hohen Ausgaben für ein neues „Wundermittel“ dürften erhebliche Einsparungen oder günstige wirtschaftliche Effekte an anderer Stelle gegenüberstehen. Ein solches Arzneimittel dürfte ­daher die Wirtschaftskraft moderner Industrienationen nicht überfordern.

Allerdings haben z. B. die Entwicklungen um die neuen Arzneimittel gegen Hepatitis C gezeigt, dass eine rigide Budgetplanung durch solche Hochpreiser relativ schnell an ihre Grenzen stoßen kann. Neue Hochpreiser werden daher künftig vermutlich mehr Mittel für Arzneimittel erforderlich machen. Krankenkassen sollten flexibel darauf reagieren, wenn mehr Geld für neue Arzneimittel, die an anderer Stelle Kosten sparen, nötig ist – selbst wenn sich diese Einsparungen erst in einigen Jahren realisieren. Auch der Staat sollte flexibel darauf reagieren, wenn im Gesundheitssystem ein höherer Nutzen für die Patienten generiert werden kann. Mehr Geld für das System und höhere Beiträge für das Gesundheitswesen dürfen kein Tabu sein, wenn dafür auch mehr Outcome erzielt wird. Bei anderen öffentlichen Ausgaben, wie Verkehrswesen oder Verteidigung, wird selbstverständlich akzeptiert, dass neue Aufgaben mehr kosten. Ebenso könnten neue Arzneimittel mit bahnbrechenden ­Effekten erhebliche Veränderungen im Gesundheitssystem erforderlich machen.

Gänzlich unangemessen wären dagegen jegliche Vorhaltungen anhand historischer Ausgabenvergleiche. Der Pharmaindustrie oder gar den Apothekern höhere Arzneimittelausgaben vorzuwerfen, ohne dabei den zusätzlichen Nutzen für die Patienten gegenzurechnen, wäre ein unbilliges Verhalten. Solide pharmakoökonomische Bewertungen neuer Arzneimittel sollten gegen solche Vorhaltungen gute Argumente liefern, getreu dem Motto: „Mit und nicht am Arzneimittel sparen“. |

Der erste Teil der Analyse zu den Folgen der Hochpreiser für die Apotheken, „Teure Packungen: Hochpreiser als ­eine neue Herausforderung für die Apotheke“ ist in DAZ 2015, Nr. 15, Seite 20 bis 24, erschienen.

Autoren

Dr. Thomas Müller-Bohn ist Apotheker und Diplom-Kaufmann. Er ist ­externes Redaktionsmitglied der DAZ.





Dipl.-Math. Uwe Hüsgen war lange Jahre Geschäftsführer des Apothekerverbands Nordrhein. Er ist Autor zahlreicher Beiträge zum Arzneimittel- und Apothekenmarkt und des monatlichen „Rohertrags-Monitors“ in der AZ.

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