Zahnheilkunde

Mehr als nur Zahnfleischschwund

Parodontitis ist eine ernst zu nehmende Infektionskrankheit

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Von Clemens Bilharz | Zahnverlust kann die Lebensqualität empfindlich stören. Abgesehen von der ästhetischen Einbuße verändern sich Kauleistung und Ernährungsgewohnheiten. Nicht nur die Karies ist eine wesentliche Ursache, sondern auch die Parodontitis. Inzwischen als multifaktorielle Erkrankung angesehen, kann eine chronische Parodontitis auch das Risiko für Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen erhöhen. Therapie und Prophylaxe erfordern die aktive Mitarbeit des Patienten.

Die Parodontitis ist eine durch bestimmte Bakterien verursachte lokale orale Entzündungserkrankung. Unbehandelt zerstört sie längerfristig den Zahnhalteapparat, das Parodontium. Betroffene Strukturen sind das Zahnfleisch (Gingiva), das knöcherne Zahnfach (Alveole) und die Zahnwurzelhaut (Periodontium). Bei Erwachsenen ist die entzündliche Parodontitis (s. Kasten „Was stimmt am Ende: ‚-itis‘ oder ‚-ose‘?“) die Hauptursache für Zahnverlust.

Was stimmt am Ende: „-itis“ oder „-ose“?

Lange Zeit wurde zwischen Parodontitis und Parodontose unterschieden, beziehungsweise umgangssprachlich nur von Parodontose gesprochen. Da eine parodontale Schädigung des Zahnhalteapparats im Sinne eines Gewebeschwunds, aber ohne verursachende Entzündung nicht existiert, sollte nur noch die Bezeichnung „Parodontitis“ verwendet werden. Daher taucht der Begriff „Parodontose“ in den aktuellen Klassifikationen auch nicht mehr auf.

Während in den letzten Jahren in Deutschland ein deutlicher Rückgang der Karies zu verzeichnen war, ist die parodontale Erkrankungsrate nach wie vor sehr hoch. So zeigen rund 50% der erwachsenen Bevölkerung Anzeichen einer leichten bis mittelschweren Parodontitis, etwa 15% leiden an schweren Verläufen.

Von der Plaque …

Als Hauptursache gilt die Ablagerung größerer Mengen von Bakterien (s. Kasten „Der orale Bakterienzoo“) auf der Oberfläche von Zähnen und Implantaten. Diese sind Bestandteil der sogenannten Plaque. Hierbei handelt es sich um einen aus mehreren Schichten aufgebauten dentalen Biofilm, der hauptsächlich aus Eiweißen, Kohlenhydraten, Phosphaten und Mikroorganismen besteht. Dieser Biofilm entwickelt sich aus den täglichen, filzig-weichen Zahnbelägen, die sich bei inadäquater Mundhygiene mit der Zeit zu einem zähen, nicht mehr leicht entfernbaren Belag verstärken. Zwischen den Zähnen eingeklemmte Essensreste sowie klebrige Reste auf den Zahnflächen unterstützen diesen Prozess.

Der orale Bakterienzoo

Bereits 1683 entdeckte der holländische Mikroskopier-Autodidakt Antoni van Leeuwenhoek Bakterien im eigenen Zahnbelag. Inzwischen weiß man, dass etwa eine Billion Bakterien aus mehr als 500 verschiedenen Spezies die menschliche Mundhöhle besiedeln. Den größten Teil der Oralflora dominieren „gutartige“, überwiegend grampositive Keime, die zur Aufrechterhaltung der dortigen Homöostase beitragen. In geringer Konzentration finden sich dort auch Parodontitis verursachende, überwiegend gramnegative Bakterien. Verändert sich die Balance des oralen Keimspektrums unter bestimmten Einflussfaktoren zugunsten der sogenannten parodontopathogenen Marker-Keime, sind parodontale Erkrankungen vorprogrammiert. Schon van Leeuwenhoek betonte damals die heilsame Bedeutung energischer Mundhygiene: Er putzte seine Zähne mit Salz und spülte seinen Mund mit Essig.

… über das Konkrement …

Durch Anreicherung mit mineralischen Speichelbestandteilen, vor allem Calcium-Salzen, geht aus dem Biofilm allmählich Zahnstein hervor. Da seine raue Oberfläche wiederum eine sogenannte Retentionsstelle für weiteren Biofilm darstellt, wächst Zahnstein appositionell, also Schicht für Schicht wie die Plaque. Oberhalb des Zahnfleischsaums hat er eine gelblich-beige bis hellbraune Farbe und findet sich vermehrt in der Nähe der Ausführungsgänge der Speicheldrüsen (Innenflächen der unteren Frontzähne, Außenflächen der ersten oberen Molaren). Konkremente nennt man die subgingivalen harten Beläge unterhalb des Zahnfleischsaums, die eine dunkelbraune bis schwärzliche Tönung aufweisen. Zahnstein oder Konkrement ist vom Betroffenen selbst nicht mehr entfernbar und erfordert daher eine professionelle Zahnreinigung.

… bis zur Zahnfleischtasche

Während sich supragingival überwiegend aerobe Keime ansammeln, dominieren subgingival anaerobe gramnegative Bakterien. Für ihren Stoffwechsel benötigen letztere ein Milieu, das einen möglichst geringen Sauerstoffpartialdruck aufweist. So profitieren sie vor allem von der Akkumulation von Plaque am marginalen Gingiva-Saum. Als entzündliche Antwort kommt es zu einer

  • Rötung und Schwellung des Zahnfleischs (Gingivitis),
  • erhöhten Blutungsneigung (auch und vor allem beim Zähneputzen),
  • pathologischen Ausbildung von Zahnfleischtaschen.

Letztere wiederum bieten anaeroben Keimen erheblich bessere Lebensbedingungen, da der Sauerstoffpartialdruck mit zunehmender Taschentiefe abnimmt. Hierdurch verschiebt sich die Zusammensetzung der Subgingivalflora zunehmend zugunsten der anaeroben Bakterien – es entsteht ein Teufelskreis.

Bakterielle Komplextheorie

Man geht davon aus, dass die bakterielle Besiedlung der Zahnfleischtaschen phasenweise und individuell unterschiedlich abläuft. Als gemeinsamer Nenner gilt die Dominanz verschiedener subgingivaler Bakterienspezies, die für Entstehung und Progredienz der Parodontitis verantwortlich sind (parodontopathogene Markerkeime). Je nach Phase lassen sich bestimmte Bakterienkomplexe nachweisen, so ein sogenannter

  • violetter Komplex (z. B. Actinomyces ondolyticus) mit noch geringem pathogenen Potenzial,
  • oranger Komplex (z. B. Fusobacterium nucleatum) mit moderat bis stark pathogenen Erregern,
  • roter Komplex (z. B. Treponema denticola) mit ausgesprochen gewebeinvasiven und destruierenden Eigenschaften,
  • grüner Komplex (z. B. mit Aggregatibacter actinomycetemcomitans als Leitkeim für aggressive und juvenile Parodontitiden).

Entzündliche Immunantwort

Im Zuge ihres Stoffwechsels scheiden die paradonthopathogenen Keime zytotoxische Substanzen und proteolytische Enzyme wie Proteasen und Kollagenasen aus, welche den Zahnhalteapparat aus Weich- und Knochengewebe aktiv zerstören. Darüber hinaus wird dieser Prozess durch die inflammatorische Immunantwort des Wirts verstärkt. Diese zeigt sich in der vermehrten Freisetzung von Zytokinen, vor allem Interleukin 1, 2 und 8 sowie TNF α. Eine Schlüsselposition beim Knochenabbau hat IL-1, da dieser Entzündungsmediator die zerstörenden Osteoklasten aktiviert und die aufbauenden Osteoblasten inaktiviert. Hier wirkt sich auch eine genetische Veranlagung aus: In Europa sind etwa ein Drittel der Bevölkerung Träger veränderter ­IL-1α- und IL-2β-Gene und reagieren auf den Reiz durch ­paradonthopathogene Bakterien mit einer überschießenden Produktion von Interleukin 1.

Risikofaktoren in zwei Richtungen

Neben genetischen gibt es auch erworbene Risikofaktoren, die die parodontale Integrität negativ beeinflussen können (s. Tab. 1). Auch wenn mangelnde Mundhygiene und parodontopathogene Keime die Hauptursachen darstellen, wird die Parodontitis heute als multifaktorielle Infektionskrankheit angesehen.

Tab. 1:
Erworbene Risikofaktoren der Parodontitis.
Diabetes mellitus
Bei schlecht eingestelltem Blutzuckerspiegel entstehen vermehrt AGEs (advanced glycated endproducts). Diese fördern den intrazellulären oxidativen Stress, wodurch vermehrt Entzündungsmediatoren produziert werden.
Fettstoffwechselstörungen
Erhöhtes proinflammatorisches Potenzial ähnlich wie bei Diabetes mellitus
Rauchen
Vier- bis sechsfach erhöhtes Risiko für Parodontitis
Schwangerschaft
Durch Hormonumstellung aufgelockertes Bindegewebe fördert die subgingivale Besiedlung mit ­Bakterien.
Abwehrschwäche
Bei immunsupprimierten Patienten (Chemotherapie, Transplantation) oder bei gestörter ­Immunabwehr (z. B. nekrotisierend-ulzerierende Gingivitiden bei HIV-Infektion).
Stress
Bei ungenügender Stressbewältigung droht neben mangelnder Mundhygiene ein erhöhter Alkohol- und Zigarettenkonsum. Wahrscheinlich wirken sich auch erhöhte Spiegel von Corticoiden und ­anderen Stresshormonen negativ aus (z. B. über eine Blutzuckererhöhung).
Bruxismus
Zähneknirschen oder Aufeinanderpressen der Zähne, wodurch die Zähne verschleißen sowie der Zahnhalteapparat und die Kiefergelenke überlastet werden.
Fremdkörper im Mundraum
Ungünstig lokalisierte Piercings (Zunge, Lippe, Lippenbändchen) oder Metallteile nach kieferorthopädischer Behandlung

Andererseits gehen vor allem von einer unbehandelten Parodontitis Gefahren für den Gesamtorganismus aus, da die bakteriellen Stoffwechselprodukte und freigesetzten Entzündungsmediatoren auch systemisch wirksam werden können, etwa im Gefäßendothel. So sprechen Daten aus Metaanalysen dafür, dass für Parodontitis-Patienten ein um 15 bis 20% erhöhtes Risiko für Arteriosklerose und ischämische Herz-Kreislauf-Erkrankungen besteht, vor allem für Myokardinfarkt und Schlaganfall. Ebenfalls kann durch die chronische parodontale Infektion die Insulinresistenz und damit die hyperglykämische Stoffwechsellage verstärkt werden. Diskutiert wird auch ein potenzieller Zusammenhang zwischen parodontopathogenen Keimen und einer Infektion der oberen Geburtswege bei Schwangeren, die mit einem erhöhten Risiko für Frühgeburten einhergeht.

Parodontales Screening

Die chronische Parodontitis verläuft relativ langsam und eher schubweise als linear. Innerhalb eines Gebisses können sowohl inaktive als auch aktive parodontale Taschen vor­gefunden werden. Letztere zeigen die üblichen Entzündungsmerkmale wie Rötung, Schwellung und Blutung nach Berührung.

Mit einer speziellen, an ihrem Ende farblich in mehrere Abschnitte unterteilten Sonde erhebt der Zahnarzt den sogenannten Parodontalen Screening Index (PSI). Hierzu wird das Gebiss in sechs Regionen (Sextanten) eingeteilt: zweimal Frontzähne plus viermal Seitenzähne rechts und links. Innerhalb eines Sextanten werden an bis zu sechs verschiedenen Stellen die Zahnfleischtaschen vermessen. Zusätzlich lassen sich mit dem kugeligen Sondenende subgingivale Unebenheiten am Zahn ertasten. Dokumentiert werden die Taschentiefe (wenn > 4 mm), die Rauigkeit der Zahnoberfläche und die Blutungsneigung. Die Befunde werden einer Codezahl von null bis vier zugeordnet, aus der sich jeweils therapeutische Konsequenzen ergeben (s. Tab. 2).

Tab. 2:
Der Parodontale Screeningindex (PSI)
Die therapeutischen Konsequenzen ab Code 1 - 2 sollten je nach individueller Konstellation mit einer gewissen Flexibilität erfolgen.
Code
Befund
Maßnahmen
0
gesundes Zahnfleisch
  • konsequente Mundhygiene
  • professionelle Zahnreinigung mindestens zweimal jährlich: Entfernung ­supragingivaler Beläge
1 – 2
Gingivitis
zusätzlich zu Code 0
  • Instruktionen zur Verbesserung der Mundhygiene
  • supra- und subgingivale Plaqueentfernung
  • bei Bedarf Versorgung kariöser Zähne
3 – 4
mittelschwere bis schwere Parodontitis
zusätzlich zu Code 1 – 2
  • Zungenreinigung mit Nylonbürste und Chlorhexamed-Gel 1 %
  • Entfernung von supra- und subgingivaler Plaque und von Zahnstein (sextanten­weises Scaling: möglich sind Handscaling mit speziellen Küretten und /oder Ultraschallscaling, je nach Ausstattung auch Laserverfahren)
  • Abtragung und Glättung infizierter Wurzelflächen (Root plaining), in der ­Regel mit diamantenem Ultraschall-Aufsatz
  • Taschendekontaminierung mit Chlorhexidin-Spülung oder einem Gelatine-Plättchen mir Chlorhexidin (antibakterieller Chip)
  • bei Bedarf bzw. Nachweis von
    Aggregatibacter actinomycetemcomitans
    systemische Gabe von Amoxicillin plus Metronidazol, bei Pseudomonaden und Enterobakterien der Kombination aus Metronidazol und Ciprofloxacin

Um eine chronische Parodontitis mit progredientem Knochenabbau zu dokumentieren, führt der Zahnarzt in der Regel noch eine Panoramaschichtaufnahme durch.

Nicht ohne tägliche Mundhygiene

Eine erfolgreiche Parodontitis-Behandlung steht und fällt mit der Mitarbeit des Patienten, die konsequente und gründliche Zahnreinigung bildet die unerlässliche Basis einer adäquaten Mundhygiene. Hierzu sollten einige Aspekte beachtet werden:

  • Geeignete Zahnbürsten haben weiche abgerundete Kunststoffborsten, die in kleinen Büscheln angeordnet sind (multitufted). Mit einem kleinen Kopf wird die Zahninnenseite besser erreicht. Zahlreiche Daten sprechen dafür, dass elektrische Zahnbürsten bei korrekter Anwendung schonender sind und mehr Beläge von den Zähnen putzen als Handzahnbürsten.
  • Mit der Zahnbürste erreicht man rund 60% der Zahnoberflächen, die restlichen 40% entfallen auf die Zahnzwischenräume und Kontaktpunkte zwischen den Zähnen. Daher sollte auch der tägliche Gebrauch von Zahnseide und/oder Interdentalbürsten obligat sein. Das aktuelle Journal of Clinical Periodontology zieht den Einsatz von Interdental-Bürsten dem von (nicht sachgerecht angewandter) Zahnseide vor. In vielen Fällen kommt man mit Interdental-Bürsten besser an versteckte Beläge heran, vorausgesetzt, die Borstengröße passt zum Zahnzwischenraum – nicht selten sind pro Patient unterschied­liche Stärken erforderlich.
  • Chlorhexidin-Spülungen (0,12% oder 0,2%) im Rahmen der Parodontitis-Behandlung und häuslichen Nachsorge wirken nachgewiesenermaßen antibakteriell (gegen grampositive sowie gramnegative Keime). Bei langfristiger Anwendung kann es zu Verfärbungen von Zähnen, Zunge und Schleimhaut kommen. Demgegenüber wird der dauerhafte Einsatz von Chlorhexidin 0,05%, etwa in Mund­duschen, als unbedenklich beschrieben.
  • Auch die in bestimmten Mundspülungen enthaltenen lipophilen ätherischen Öle (Eukalyptol, Thymol, Menthol und Methylsalicylat) können den Biofilm durchdringen und die Keimzahl reduzieren. Das natürliche Gleichgewicht der Mundflora wird dabei auch längerfristig nicht beeinträchtigt. Zur geschmacklichen Entschärfung gibt es auch Mundspülungen, die keinen Alkohol enthalten. |

Literatur

[1] Vetter C. Parodontitis. Eine Quelle für Systemerkrankungen. Dtsch Ärztebl 2011;17:A949-A950

[2] Mombelli A, Schmidt J, Walter C, Wetzel A. Qualitätsleitlinien Parodontologie. Swiss Dental Journal 2014;2:261-267

[3] Parodontologie. Zahnheilkunde- Management – Kultur ZMK. www.zmk-aktuell.de

[4] Hiemer S. Biotop Mundhöhle. Parodontologie Nachrichten 2015;2:8

[5] Vier Fakten zur häuslichen Mundhygiene. Prophylaxe Journal 2015;2:42

[6] Vorsorge. Informationen der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung KZB. www.kzbv.de/vorsorge

[7] Renggli HH. Prophylaxe: Chlorhexidin – integrierter Bestandteil der präventionsorientierten Praxis. Dentalzeitung 2010;6:62-67


Autor

Clemens Bilharz

ist Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin und zusätzlich als wissenschaftlicher Fachzeitschriftenredakteur ausgebildet. Er ist als Autor und Berater für Fachver­lage und Agenturen tätig.

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