Foto: tashatuvango – Fotolia.com

Spritze ist nicht gleich Spritze

Problematischer MTX-Austausch bei einer Rheuma-Patientin

Oft ist ein und derselbe Wirkstoff in verschiedenen, als untereinander austauschbar geltenden Applikationsformen erhältlich, die sich in ihrer Anwendung erheblich unterscheiden. Paradebeispiel sind hier immer die Inhalatoren zur Asthma- und COPD-Therapie, wo fast jeder Hersteller sein eigenes Fabrikat entwickelt hat. Andere Applikationsformen scheinen zuerst unproblematisch, da Unterschiede beim Handling nicht immer sofort ersichtlich sind und der Teufel im Detail liegt. Oft kommen zu den objektiv begründbaren Problemen zum Beispiel bei der Anwendung noch Schwierigkeiten durch das subjektive Patientenempfinden dazu. So wie bei der Rheuma-Patientin im folgenden Beispiel.

Die Ausgangssituation

Eine Patientin (64) leidet seit mehreren Jahren an rheumatoider Arthritis. Es wurde eine perorale Methotrexat-Therapie durchgeführt, welche sie zu Beginn gut vertragen hatte. Bei Erreichen der Zieldosis traten allerdings ausgeprägte gastrointestinale Nebenwirkungen auf; und die Therapie musste abgebrochen werden. Einer Umstellung auf Fertigspritzen stand die Patientin anfangs sehr skeptisch gegenüber, da sie seit einer „verunglückten“ Impfung unter einer Spritzenangst litt. Durch feinfühlige Anleitung in der rheumatologischen Schwerpunktpraxis konnte die Therapie langsam und erfolgreich initiiert werden, so dass die Patientin im Alltag gut zurecht kommt. Zusammenfassend lässt sich der Status quo der aktuellen Pharmakotherapie wie folgt beschreiben: hohe Arzneimitteltherapiesicherheit, ein sicheres Erreichen der angestrebten therapeutischen Ziele sowie eine ausreichende Verträglichkeit der Substanz in der kontinuierlich gegebenen Darreichungsform, also insgesamt ein stabiles Gleichgewicht aus Patientenzufriedenheit und Anwenderfreundlichkeit.

Beim Einreichen der aktuell ausgestellten Verordnung über das bewährte Arzneimittel (ohne Aut-idem-Kreuz!) erscheint in der Apotheken-EDV der Hinweis auf einen neuen Rabattvertrag, der nicht das gewohnte, sondern ein abweichendes MTX-Präparat umfasst. Beim Versuch der Patientin diese neue Lage zu erklären, wird sie bleich, unruhig, schüttelt irritiert den Kopf und beginnt auffallend zu schwitzen.

Fakten-Check:

Geschlecht: weiblich

Alter: 64 Jahre

Diagnose: rheumatoide Arthritis

Situation:erstmaliger Abschluss eines Rabattvertrages durch die Krankenkasse. Dieser birgt das Risiko einer inadäquaten Substitution bei einem Hochrisikoarzneistoff

Die Problematik

Wir können im ersten Moment nicht wissen, warum die Patientin so stark auf die potenzielle Substitution reagiert. Da hilft nur die einfühlsame Nachfrage weiter. Zuerst spiegeln wir der Patientin unsere Beobachtung: „Der Austausch Ihres bewährten Arzneimittels scheint Ihnen Probleme zu bereiten. Welche Erfahrungen haben Sie bisher gemacht?“ Dieses empathische Vorgehen kann es der Patientin ermöglichen, über Ihre Sorgen offen zu sprechen. Im vorliegenden Fall führte eine frühere Substitution (ursächlich war eine abweichende Verordnung durch den Hausarzt, anstatt wie sonst durch den Rheumatologen) zu vermehrten Hautreaktionen an der Einstichstelle. Ein noch schwerwiegenderes Problem bestand aber darin, dass vor der Anwendung der Fertigspritze eine Einwegnadel aufgeschraubt werden musste. Dies fiel der Patientin aufgrund der motorischen Einschränkung schwer. Daher kehrte der Rheumatologe zu dem bewährten Präparat zurück.

Im Zentrum der Befürchtung unserer Patientin steht die Angst um den Verlust der bisherigen Wirksamkeit und damit die Furcht vor einer weiteren Progredienz der Erkrankung mit weiterer funktioneller Verschlechterung. Hinzu kommt eine früher bestehende Spritzenphobie, die durch den geduldig erlernten Umgang mit der bewährten Fertigspritze in einem sicherheitsstiftenden Ritual abgemildert werden konnte. Einer intensiven Beratung zur möglichen Substitution, den Grenzen, eigenen Handlungsmöglichkeiten und dem Umgang mit dem neuen Fertigarzneimittel ist die Patientin verständlicherweise daher nicht zugänglich. Erschwerend hinzu kommt die kognitive Beeinträchtigung durch die spürbare psychische Belastung, ausgelöst durch die Angst.

Ein Aut-idem-Kreuz war bisher nicht notwendig, da die Krankenversicherung bislang keinen Rabattvertrag über MTX-Fertigspritzen abgeschlossen hatte. Allgemeiner Kostendruck wird stets als Argument für das Einsparungspotenzial am Arzneimittel angeführt. Angesichts der Komplexität auf der therapeutischen Seite ist die halbblinde Vereinfachung im Sinne von „alles ist gleichwertig und damit einfach austauschbar“, aber in vielen Fällen problematisch. Dann ein oder gar beide Augen zuzudrücken kann massive Folgen (s. Kasten „Potenzielle arzneimittelbezogene Probleme“) für die Gesundheit der Patientin haben und auch Folgekosten für die Versicherung verursachen. Es bedarf daher einer kontinuierlichen Schärfung des Problembewusstseins für die Auswirkung der allgemeinen Regeln auf den individuellen Patientenfall.

Die Lösung

MTX ist ein Hochrisikoarzneistoff. Zu nennen sind hier eine geringe therapeutische Breite, die Progredienz der Erkrankung bei Unterdosierung und schädliche bis potenziell letale Effekte bei Überdosierung. Ein ängstlicher Umgang damit birgt massive AMTS-Risiken. Daher kann eine Substitution in diesem Fall weder mit der geforderten Patientensicherheit noch mit der angestrebten Versorgungsqualität in Einklang gebracht werden. Darüber hinaus gibt es weitere schwerwiegende Gründe, welche gegen einen generischen Austausch sprechen (s. Kasten „Potenzielle arzneimittelbezogene Probleme“).

Potenzielle arzneimittelbezogene Probleme

Bei früheren Substitutionen gab es bereits Unverträglichkeiten: Überempfindlichkeit an der Injektionsstelle nach dem Präparatewechsel. Rückkehr zum Ursprungsmittel löste dieses ABP.

Ein erneutes Aufkeimen der bisher erfolgreich überwundenen Spritzenphobie durch Unsicherheit bei der Anwendung des Arzneimittels ist möglich.

Unsicherheit trotz Schulungsversuchen kann zu Skepsis und Angstreaktion führen mit schädlicher Beeinträchtigung der Therapietreue und des Vertrauensverhältnisses.

Minderung der kognitiven Fähigkeiten der Patientin beeinflusst das Beratungsgespräch. Relevante Informationen werden nicht verstanden und können folglich bei der Anwendung nicht berücksichtigt werden (vgl. auch psychisch oder neurologisch erkrankte Patienten, sowie kognitionsmindernde Nebenwirkungen von Pharmaka).

AMTS-Risiko: Gefährdung der Anwendungssicherheit; bspw. begünstigt eine Komorbidität Missverständnisse und Fehlanwendung des Hochrisikoarzneistoffes im Patientenalltag (vgl. Sehstörung infolge einer Augenerkrankung oder als Spätfolge eines Diabetes mellitus).

Zum Repertoire lösungsorientiert arbeitender Präsenzapotheken gehört in Situationen wie dieser primär die Rücksprache mit dem behandelnden Arzt, da diese Substitution auch zu massiven medizinischen Bedenken führen würde. Eine Schilderung der Folgen für die instabile Patientin und den gefährdeten Therapieerfolg kann problembewusste, für das Thema sensibilisierte Ärzte zum Setzen des Aut-idem-Kreuzes im medizinisch begründeten Fall bewegen. Es geht ja nicht um die pauschale Ablehnung der Rabattvereinbarungen in Gänze, sondern darum, erkennbare maligne Auswüchse rechtzeitig zu korrigieren.

Lässt sich der Arzt nicht dazu bewegen, ein Aut-idem-Kreuz zu setzen oder ist nicht erreichbar, gilt es die den Apotheken gegebenen Handlungsspielräume professionell zu nutzen. Die angemessene und notwendige Reaktion der Apotheke besteht in der deutlichen Äußerung ihrer pharmazeutischen Bedenken durch das Setzen der Sonderziffer Nummer 6 – wie immer begleitet durch die schriftliche Darstellung der gegebenen Situation, der zu befürchtenden bzw. beobachteten Folgen und damit einhergehend der klaren Formulierung der individuellen Gründe, welche gegen den Austausch in der individuellen Lage sprechen.

Entscheidung mit Verstand nach Sachlage oder quartalsverkürzt nach Kassenlage?

Auf diese Weise stellt die versorgende Vor-Ort-Apotheke einerseits ihre Kompetenz nachvollziehbar unter Beweis. Andererseits sichert sie die verträgliche Therapie durch die Ausübung ihrer Korrektivfunktion in komplexen Versorgungssituationen. Hierzu zählt auch der professionelle Umgang mit den teils drastischen Folgen der simplifizierenden Rabattverträge. Um es nochmals ganz deutlich zu machen: es geht neben den Patientenbedürfnissen auch um die Verhinderung finanzieller Belastungen der Allgemeinheit, sowohl im Folgequartal als auch zu weiter entfernteren Zeitpunkten in anderen Sektoren des Gesundheitswesens.


Was wäre, wenn ...

… Patienten mit beeinträchtigter Sehkraft eine Fertigspritze mit stark abweichender Optik erhalten würden?

In der Leitlinie der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) „Gute Substitutionspraxis“ ist klar formuliert, dass auch eine bestehende Multimorbidität als Argument gegen eine Substitution sprechen kann. Ein Praxisbeispiel verdeutlicht die Richtigkeit und Reichweite dieses Sachverhalts: zu den Spätfolgen eines Diabetes mellitus zählen bekanntlich auch Augenschädigungen. Ein gestörter Visus kann zu einem Sicherheitsrisiko durch Verwechslungen und Fehlgebrauch von Arzneimitteln führen. Farbcodierungen der Fertigspritzen dienen als gute Orientierungshilfe auch für sehbeeinträchtigte Menschen. Infolge einer generischen Substitution können bewährte Wege verlassen und das Wiedererkennen erschwert werden. Auch dieses Szenario kann zu medizinischen Bedenken (Lösungsorientierung: ein sensibilisierendes Telefonat mit der Praxis kann hilfreich sein, mit dem Hinweis auf die Tragweite des fehlenden Aut-idem-Kreuzes) oder auch zu pharmazeutischen Bedenken führen.

… Patienten unlösbare Angst vor einem Fehlgebrauch nach Substitution haben?

Ängste sind mitunter irrational, dennoch (oder gerade deshalb) gilt es sie ernst zu nehmen und sich daraus ergebende Konsequenzen für eine sichere Pharmakotherapie zu überlegen. In der Packungsbeilage der MTX-Fertigspritzen steht beispielsweise der Hinweis auf die weitreichenden Folgen einer irrtümlichen intravenösen Anwendung (akute Enzephalitis, akute Enzephalopathie mit Todesfolge). Geschulte Patienten müssen sich um diese schauerlichen Folgen keine Sorgen machen, da sie die Applikation sicher und routiniert beherrschen. Alleine die Angst vor der Angst der Fehlanwendung kann bei ängstlichen Patienten zu großen Sorgen führen, die zu einer schädlichen Non-Adhärenz führen können, gefolgt von einem erneuten Aufflammen der Gelenkentzündung und fortschreitendem Funktionsverlust. Apotheken als Sicherheitsbarriere im Sinne der AMTS können dieses negative Potenzial erkennen und wie beschrieben auf­lösen. |


Autor

Christian Schulz, Apotheker aus Hiddenhausen; Medicum-Apotheke Lemgo, Glocken-Apotheke, Bad Salzuflen

Wie hätten Sie beraten?

Hätten Sie anders beraten? Wenn ja, schicken Sie uns Ihre Empfehlung an daz@deutscher-apotheker-verlag.de, wir veröffentlichen sie mit diesem Fall auf DAZ.online.

Ihr Fall in der DAZ

Wir suchen die besonderen Fälle, die eine individuelle Beratung erfordern. Schildern Sie uns Ihren besonderen Fall aus dem Apothekenalltag und Ihre Beratung – wir veröffentlichen ihn an dieser Stelle mit dem Foto Ihres Apothekenteams.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.