Arzneimittel und Therapie

Therapie der Depression auf dem neuesten Stand

S3-Leitlinie umfassend überarbeitet und erweitert

Die aktualisierte Version der Nationalen Versorgungsleitlinie „Unipolare Depression“ sieht Neuerungen in der Pharmakotherapie und bei psychotherapeutischen Verfahren vor. Auch bei den Empfehlungen für die Therapie von Frauen in der Peripartalzeit und zum Einsatz von Antidepressiva bei älteren Patienten gab es Änderungen. Neu aufgenommen ist ein Kapitel zum Umgang mit Patienten mit Migrationshintergrund.

Bundesweit sind rund 6,2 Millionen Menschen innerhalb eines Jahres von einer depressiven Störung betroffen. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) werden drei Viertel von ihnen nicht leitliniengerecht behandelt. Ein Fünftel der Patienten mit einer schweren Depression erhält überhaupt keine Therapie. Von enormer volkswirtschaftlicher Bedeutung ist zudem die Tatsache, dass bei Arbeitnehmern Depressionen zu den häufigsten Gründen für Fehltage zählen. Die Erkrankung beeinträchtigt Wohlbefinden, Selbstwertgefühl und Lebensqualität und ist daher für Betroffene - und häufig auch für deren Umfeld - mit einem hohen Leidensdruck verbunden.

Die erste S3-Leitlinie zur Unipolaren Depression stammt aus dem Jahr 2009. An deren Überarbeitung hatten sich 30 Fachgesellschaften beteiligt, außerdem gab es einen sechswöchigen öffentlichen Konsultationsprozess.

Im Zuge der Revision wurden 276 systematische Übersichten und Metaanalysen neu in die Leitlinie aufgenommen und jede der bisher enthaltenen Empfehlungen aktualisiert. Die revidierte Fassung enthält 130 Schlüsselempfehlungen und trägt sowohl neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen wie auch gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung.

Was ist neu?

Die in den vergangenen fünf Jahren neu zugelassenen Pharmaka zur Behandlung depressiver Störungen haben Eingang gefunden. Zu ihrem Einsatz gilt wie bisher die durch Studien gut untermauerte Empfehlung, dass Patienten mit einer akuten mittelgradigen depressiven Episode eine medikamentöse Therapie mit einem Antidepressivum angeboten werden sollte (Empfehlungsgrad A, s. Kasten „Empfehlungsgrade“). Bei einer schweren depressiven Episode ist dagegen eine Kombinationsbehandlung aus Antidepressivum und Psychotherapie zu empfehlen (A). Weniger gut sind die Belege aus Studien und Übersichtsarbeiten zur leichten depressiven Symptomatik. Wenn anzunehmen ist, dass die Beschwerden auch ohne Behandlung abklingen, kann zunächst – für einen Zeitraum bis zu zwei Wochen - im Sinne einer aktiv-abwartenden Begleitung („watchful waiting“) von einer spezifischen Therapie abgesehen werden (0). Zu den Neuerungen in der Pharmakotherapie zählt die Augmentation mit Antipsychotika (B), was bedeutet: Bei Patienten, die nicht auf die Monotherapie mit einem Antidepressivum ansprechen, sollte eine Kombination mit den Antipsychotika Quetiapin (dafür zugelassen), Aripiprazol, Olanzapin oder Risperidon (jeweils off-label) in niedrigen Dosierungen erwogen werden (B). Modifiziert wurden die Empfehlungen zur Therapie älterer Patienten. Zwar können diese wie Jüngere behandelt werden, jedoch sollten Verträglichkeit und Nebenwirkungsprofil stärker im Fokus stehen. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Wechselwirkungen und Kontraindikationen der Antidepressivagruppen sind in einer Anlage der Leitlinie aufgelistet. Wenn ältere Patienten mit trizyklischen Antidepressiva behandelt werden, sollte mit einer erniedrigten Anfangsdosis begonnen werden. Neu in die Leitlinie aufgenommen wurde auch die Darstellung von niederschwelligen psychosozialen Basisinterventionen, welche Psychiater, Hausärzte und Psychotherapeuten noch vor spezifischen Behandlungen einsetzen können.

Empfehlungsgrade

  • A: „Soll“-Empfehlung: Zumindest eine randomisierte kontrollierte Studie von insgesamt guter Qualität und Konsistenz, die sich direkt auf die jeweilige Empfehlung bezieht und die nicht extrapoliert wurde.
  • B: „Sollte“-Empfehlung: Gut durchgeführte klinische Studie, aber keine randomisierte klinische Studie, mit direktem Bezug zur Empfehlung, oder Extrapolation einer randomisierten kontrollierten Studie ohne direkten Bezug zur Empfehlung.
  • 0: „Kann“-Empfehlung: Berichte von Expertenkreisen oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten oder Extrapolation einer Studie ohne direkten Bezug zur Empfehlung. Diese Einstufung zeigt an, dass direkt anwendbare klinische Studien von guter Qualität nicht vorhanden oder nicht verfügbar waren.

Quelle: S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression

Sport angeraten

Dass körperliche Betätigung sich positiv auf die Psyche auswirkt, wird kaum bezweifelt. Wissenschaftliche Studien belegen inzwischen, dass eine Depression unter zusätzlicher sportlicher Betätigung schneller abklingt. „Es kommt jedoch darauf an, dass diese strukturiert und angeleitet erfolgt“, sagte Prof. Dr. Dr. Martin Härter vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie. Daher enthält die Leitlinie die Empfehlung, dass Patienten mit einer depressiven Störung und ohne körperliche Beeinträchtigung die Durchführung eines strukturierten und supervidierten körperlichen Trainings empfohlen werden sollte (B).

Besondere Patientengruppen

Wenn Frauen vor, während oder nach einer Schwangerschaft unter depressiven Episoden leiden, sollte ihnen eine Psychotherapie angeboten werden (B). Bei sehr schweren depressiven Episoden sind aber grundsätzlich auch andere Verfahren, also auch Arzneimittel oder die Elektrokrampftherapie, bei dieser Patientengruppe einsetzbar.

Auch älteren Patienten (ab 65 Jahre) sollte eine Psychotherapie angeboten werden (A). Die medikamentöse Behandlung erfolgt in gleicher Weise wie bei jüngeren Patienten, allerdings sollten dem Nebenwirkungsprofil und der Verträglichkeit verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet werden (0).

Kultursensibles Vorgehen

Erstmals wurde in die neue Leitlinie ein Kapitel zum Umgang mit Patienten mit Migrationshintergrund integriert. Ein kultursensibles Vorgehen ist geeignet, die Adhärenz der Patienten deutlich zu verbessern: „Kultur- und migrationsspezifische Faktoren sollen im Rahmen der Anamnese, Diagnostik und Therapie depressiver Erkrankungen berücksichtigt werden“, so der Expertenkonsens.

Versorgung verbessern

Die Versorgung von Patienten mit depressiven Störungen hat Defizite und muss verbessert werden. Darin waren sich die Experten der Vorstellungsrunde der neuen Leitlinie am 16. November 2015 in Berlin einig. Die beste Behandlungsleitlinie nützt jedoch nichts, wenn Betroffene nicht den Weg zum Arzt oder Psychotherapeuten finden. Daher ist auch eine Patientenleitlinie zur Depression im Entstehen, mit deren Erscheinen Mitte 2016 gerechnet wird. Damit soll Menschen, die unter depressiven Symptomen leiden, eine Art Kompass an die Hand gegeben werden. Der Therapeut, an den sich der Betroffene zuerst wendet – ganz gleich, ob es der Haus- oder Facharzt oder ein Psychotherapeut ist –, sollte dann als „Gatekeeper“ fungieren, das heißt die geeignete Weiterbehandlung identifizieren. Auch die Apotheke bietet einen niedrigschwelligen Zugang für Betroffene und kann weiterhelfen (s. Kasten „Wie kann die Apotheke Patienten unterstützen?“).

Wie kann die Apotheke Patienten unterstützen?

Foto: JARA

Prof. Dr. Dr. Frank Schneider

Prof. Dr. med. Dr. rer. soc. Frank Schneider, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Uniklinik RWTH Aachen, Mitglied der Steuergruppe der Nationalen Versorgungsleitlinie:

„Ich kenne viele Patienten, die ihre Beschwerden zuerst mit einem Apotheker, den sie kennen und dem sie vertrauen, besprochen haben. Das sind Erfahrungen, Studien oder wissenschaftliche Evidenz gibt es dazu allerdings nicht. Aber wenn ein Apotheker die Leitlinien kennt, kann er natürlich entsprechend beraten. Er könnte beispielsweise gezielt die beiden Fragen aus dem „Zwei-Fragen-Test“ stellen. Auch die Empfehlung eines Facharztes, Hausarztes oder Psychotherapeuten in Wohnortnähe bietet Unterstützung. Da depressive Patienten häufig stark verunsichert sind, kann es ihnen auch helfen, beim Apotheker zu bestimmten Fragen eine zweite Meinung einzuholen.“

Zwei-Fragen-Test

Möglichkeit zur schnellen, ersten Erfassung einer depressiven Störung, auch als Selbsttest geeignet:

  • Fühlten Sie sich im letzten Monat häufiger niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos?
  • Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun?

Dieser Test bei Depressionen ersetzt keine ausführliche Diagnostik depressiver Störungen, zu der auch immer eine sorgfältige körperliche Untersuchung gehört. Er kann aber als erstes Screening dienen. Werden beide Fragen mit „Ja“ beantwortet, sollte die Untersuchung auf weitere Haupt- und Zusatzsymptome ausgedehnt werden.

Quelle: Schneider, F., Nesseler, Th.: Depressionen im Alter, HERBiG Gesundheitsratgeber (2011)

Dr. Iris Hauth, Ärztliche Direktorin am Alexianer St. Joseph-Krankenhaus Berlin-Weißensee und Präsidentin der DGPPN, hofft, dass die Leitlinie nun flächendeckend Anwendung findet: „Eine entscheidende Rolle kann dabei das nationale Disease-Management-Programm spielen, mit dessen Umsetzung der Gemeinsame Bundesausschuss in diesem Jahr beauftragt worden ist.“ |

Quelle

Vorstellung der neu revidierten S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie „Unipolare Depression“ am 16. November 2015 in Berlin

S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie

Unipolare Depression, www.dgppn.de

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn


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