Gespräch

Glaeske differenziert

Ein Gespräch mit Gerd Glaeske über Apotheken, Honorare, Kombis, Tests und die Zukunft

Foto: DAZ/diz
Von Peter Ditzel | Apotheker, Hochschullehrer, Wissenschaftler, Autor, Provokateur – Gerd Glaeske ist bekannt in der Gesundheitsszene, in der Politik. Er ist einer der gefragtesten Arzneimittelkritiker. Er hat sich in den Medien einen Namen gemacht. Auch bei Deutschlands Apothekern. Doch da gehen die Meinungen auseinander. Während die einen seine Offenheit, seinen Scharfsinn und seine unbequemen Ideen schätzen und ihn als profunden Kenner des Gesundheitswesens und der Arzneimittelversorgung ausweisen, wollen manche sogar nicht mehr mit ihm reden. Sie sehen in ihm einen Gegner der Apotheker. Seine kritischen Bücher über Arzneimittel, seine Mitwirkung bei Apothekentests und seine Kritik an der Apothekenberatung brachten ihm in Apothekerkreisen wenig Sympathie. Im Mai dieses Jahres wurde er 70. Ein Anlass, kurz zurückzuschauen: Ich sprach mit ihm über seine Arbeit, seine Ansichten, seine Einstellung zu den Apothekern. Und ich unterhielt mich mit ihm über den Menschen Glaeske.

Glaeskes berufliche Heimat ist die Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik. Dort war und ist er Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung und der Abteilung Arzneimittelberatung, Arzneimittelinformation. Im Mai dieses Jahres wurde er 70. Doch das merkt man dem quirligen Pharmazeuten nicht an. Seinen Lebensmittelpunkt hat er nach Hamburg verlegt. Wir treffen uns in seiner Hamburger Wohnung, sein Wohnbüro, wie er es nennt. Es liegt in einer ruhigen, bürgerlichen Gegend Hamburgs. Im Wohn-/Besprechungszimmer fällt einem sofort viel Kunst an den Wänden auf. Vor allem eine große Collage, auf der US-Präsident Barack Obama im Vordergrund zu sehen ist, dominiert den Raum. „Die Collage hat ein befreundeter Künstler für mich gemacht“, freut sich Glaeske, „und wenn sie genau hinsehen, stellen Sie fest, dass es bei diesem Bild um die Gesundheitsreform geht, die Obama trotz einiger Widerstände im Senat und im Kongress durchsetzen konnte.“

Geprägt durch den Sachverständigenrat

Eine große Reform in einem Gesundheitswesen – das passt gut als Einstieg ins Gespräch. Eines seiner Leib- und Magenthemen ist die Arzneimittelversorgungsforschung, mit der er groß geworden ist. Wenn er heute auf fast 40 Jahre Arzneimittelversorgungsforschung zurückschaut, welches Fazit kann er ziehen? Seine Tätigkeit im Sachverständigenrat hat ihn bei diesem Thema sehr geprägt, wie er vorausschickt. Die Trias aus Unter-, Über- und Fehlversorgung war für ihn leitend. Er hat diese Begriffe nicht nur auf den Bereich der verschreibungspflichtigen Arzneimittel angewandt, sondern auch auf die Versorgung mit OTC-Arzneimitteln. „Mein Eindruck war, je höher der Kooperationsgrad der Ärzte untereinander, aber auch der Ärzte mit den Apothekern, wie zum Besipiel im Krankenhaus, war, desto besser hat es funktioniert.“ Diese Erkenntnis brachte ihn 2009 dazu, einen größeren Abschnitt im Gutachten des Sachverständigenrats zum Thema Arzneimittelversorgung und Apotheker zu schreiben. „Übrigens“, merkte Glaeske am Rande an, „dass ich als Apotheker viele Jahre im Sachverständigenrat war, wollten die Apotheker damals kaum wahrnehmen. Von der ABDA hat in den sieben Jahren keiner mit mir gesprochen – das muss man sich mal vorstellen. Ich sage das übrigens nicht aus gekränkter Eitelkeit, sondern aus Unverständnis über eine entgangene Chance für eine konstruktive Lobbyarbeit. Und das einzige, was Apotheker aus dem Sachverständigengutachten zitierten, waren nicht unsere bedenkenswerten Vorschläge zu Kooperationen, zu neuen Vergütungsmöglichkeiten und neuen Feldern wie das Medication Review, also eine Art Medikationsanalyse, die die Apotheker besetzen sollten. Das einzige, was man genüsslich zitierte, war die Passage, die aussagt, dass die Organisationsform der Apotheken keinen Einfluss hat auf die Qualität der Arbeit der Apotheken. Womit man mir dann unterstellte, ich sei gegen die inhabergeführte Apotheke und befürworte Ketten. Dabei habe ich mich in Rahmen der Versorgungsforschung schon immer mit der Frage befasst, wo es Möglichkeiten gibt, Apotheker besser einzubinden und die Effizienz zu verbessern.“

Eine Mission: Apotheke unverzichtbar

Und Glaeske stellt überzeugend klar: „Der Apothekerberuf ist ein Beruf, den ich nach wie vor sehr schätze, selbst wenn man mir auch da wieder unterstellt, ich würde mich selten als Apotheker outen, was nicht stimmt. Wenn ich in bestimmten Bereichen tätig bin und vortrage, dann ist es für mich völlig klar, dass ich mich auch als Apotheker vorstelle und immer wieder darauf hinweise, wie wichtig mir eine gut funktionierende Apotheke ist und wie unverzichtbar ich eine Apotheke im gesamtmedizinischen Umfeld finde. Das ist in der Tat eine Mission, die mich umtreibt schon seit 1981, seit ich in diesem Gebiet tätig bin.“

„Der Apotheker könnte eine viel größere Rolle spielen.“

So hat er sich immer wieder mit der Fragestellung befasst, wer denn mitverantwortlich für die Bewertung von Arzneimitteln ist, wer mehr Verantwortung zeigen könnte und wer sich stärker auf die Seite der Patienten und Verbraucher stellen sollte. Dass hier der Apotheker eine viel größere Rolle spielen sollte, ist ein Credo Glaeskes, das er immer wieder in die berufspolitische Diskussion trägt: „Es ist ein wesentlicher Punkt, der mich umtreibt und oft enttäuscht zurücklässt.“ Und in dieser Rolle sähe er den Apotheker gern: Nach seiner Einschätzung ist die Öffentlichkeit geprägt von der Medizin als Institution und von der pharmazeutischen Industrie als einer starken Informationsmacht, „aber es gibt andere im Gesundheitswesen, die sich sehr wohl mit Arzneimitteln auskennen. Auf jeden Fall die Apotheker, die eine Art Gegenöffentlichkeit darstellen müssten, um das zu filtern, was zum Teil an übertriebenen Informationen von der Industrie kommt. So gebe es ausländische Beispiele, die zeigten, dass Apotheker einen ganz anderen Status einnehmen, wenn sie sich hier engagieren. Und fast entschuldigend fügt er hinzu: „Ich wollte immer dabei helfen, diesen Status zu erreichen, auch wenn das manchmal ein wenig mit medial provokativen Mitteln geschehen ist. Es ist sicher ein Problem, dass man manche Dinge zuspitzen muss, damit sie überhaupt in Bewegung kommen.“

Der Weg zum Arzneimittelkritiker

Geprägt hat ihn auch, so räumt Glaeske ein, seine Mitarbeit am Greiser Arzneimittel-Index, eine vom Arbeitsministerium geförderte Projektstudie, die 1981 erschien und sich mit dem Wert von Arzneimitteln auseinandersetzte. Der Greiser-Index machte deutlich, dass in der Roten Liste viele Arzneimittel stehen, die eigentlich von der Zusammensetzung her nicht das halten können, was sie versprechen, und sie zeigt, dass es viele Arzneimittel, auch Monoarzneimittel, gibt, zu denen keine vernünftigen Studien vorliegen: „Das hat mich sensibilisiert. Und letztlich zur evidenzbasierten Medizin gebracht“, so Glaeske. Und sicher auch andere Pharmakologen und Kliniker beeinflusst. Glaeske nennt in diesem Zusammenhang Namen wie Schwabe, Lemmer, Scholz und andere, die in der Greiser-Gruppe mitarbeiteten; einige von ihnen sind dann zum Wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen (WidO) gegangen. „Letztlich“, so erinnert sich Glaeske nicht ohne Stolz, „ist daraus der Arzneiverordnungsreport entstanden. Wenn man so will, hat in Bremen die evidenzbasierte Pharmazie und Pharmakologie ihren Ausgang genommen, das war der Nucleus, das war meine Lehrzeit, das hat mich beeinflusst.“

Nicht zuletzt seine Mitarbeit bei Büchern wie Bittere Pillen, die das verstärkten, was die Greiser-Gruppe wissenschaftlich über Arzneimittel erarbeitet hatte, bringen ihm den Ruf als Pharmakritiker ein: „Ich war einer der wenigen Apotheker, der in diesem Umfeld tätig war. Ich habe mich – was sonst so gut wie keiner machte – immer auch mit dem Bereich OTC befasst.“ Und engagiert fügt er hinzu: „Mich hat der OTC-Markt schon immer interessiert, ein Markt, der mit rund 500 bis 600 Mio. verkauften Packungen eine beachtliche Größe hat. Aber es ist ein Bereich, in dem man mehr Probleme hat, eine evidenzbasierte Bewertung abzugeben als im Rx-Bereich. Ich begann, diesen OTC-Bereich zu beobachten und habe darüber Bücher geschrieben, z. B. für die Verbraucherzentrale, später dann auch für die Stiftung Warentest – das waren wichtige Schritte in meinem Leben.“ Und sein Prädikat des Arzneimittelkritikers festigten. „Aber“, so Glaeske, „damit kann ich sehr gut leben.“

Kombis – das rote Tuch?

Klar, ein Gespräch mit Glaeske muss das Thema Kombinationsarzneimittel aufgreifen, die er in vielen Veröffentlichungen und Interviews immer wieder heftig kritisiert. Sind Kombis eigentlich ein rotes Tuch für ihn, wollte ich von ihm wissen. In seiner Antwort beruft er sich auf seine Untersuchungen am Bremer Institut und den Wissenschaftler Crout, der sagte: Kombis sind grundsätzlich weniger gut zu bewerten als Monos, aber sie haben durchaus ihre Berechtigung unter bestimmten Voraussetzungen, z. B. bei Blutdrucksenkern, Kontrazeptiva oder bestimmten Antibiotika. Oder wenn das Kombinationspräparat die Wirkstoffe in der Dosierung, die der Patient eh braucht, in einer vernünftigen Mischung enthält – das fördert die Adhärenz. Oder wenn dadurch Abhängigkeiten verringert werden können, oder wenn ein Wirkstoff die Wirkung eines anderen verstärkt. „Was ich mache, ist nichts anderes“, rechtfertigt sich ­Glaeske, „als diese Regeln auch auf den OTC-Markt an­zuwenden. Ich will wissen, warum ein Präparat so oder so kombiniert wurde. Die Ergebnisse zeigen allerdings oft ­genug, dass die Kombis unter diesen Kriterien nicht be­sonders gut dastehen.“

Glaeske, der Apothekenkritiker?

Glaeske ist Apotheker und Arzneimittelexperte. Kein Wunder, dass Institutionen wie die Stiftung Warentest oder Fernsehmagazine Glaeske gerne als professoralen Beistand ins Boot holen, wenn sie Apotheken auf den Prüfstand stellen. In Apothekerkreisen bringen ihm seine kritischen Anmerkungen den Vorwurf der Kollegenschelte ein. Und den Machern der Tests hält man vor, Apotheken vorführen zu wollen, zumal es keine repräsentativen Untersuchungen seien. „Herr Glaeske, warum machen Sie da mit?“ möchte ich von ihm wissen. „Mir ist schon klar, dass solche Tests viele Apotheker ärgern. Aber: Ich habe bisher noch keinen Test erlebt, der so untypische Ergebnisse hatte, dass man sagen muss, da ist jetzt alles schief gegangen, das verstehe ich überhaupt nicht mehr.“

„Begonnen haben diese Tests Anfang der 2000er Jahre, als die Kammern von Nordrhein und Niedersachsen bei seinem Bremer Universitätsinstitut bezahlte Testkäufe in Auftrag gegeben haben“, erinnert sich Glaeske. Schon bald war er auch an dem großen Test der Stiftung Warentest beteiligt, wo es um 1100 Apotheken ging. Die Ergebnisse waren immer ähnlich: „30 bis 40% der getesteten Apotheken sind durchgefallen, weitere 30% lagen im mittleren Bereich und ein weiteres Drittel hat sehr gut abgeschnitten. Solche Ergebnisse finden wir heute auch noch.“ Glaeskes Erklärung: „Bei allen Tests zeigen sich zwei wichtige Aspekte: Wenn ein Kunde nach einem Produkt fragt und den Namen des Produkts richtig aussprechen kann, geht der Apotheker davon aus, der Kunde kenne das Produkt, und fragt dann nicht mehr nach. Wenn der Kunde aber Symptome schildert, bekommt er in der Regel ein sehr intensives Beratungsgespräch, das allerdings oft damit endet, dass sich der Apotheker umdreht und doch wieder dieses Produkt nimmt, das hinter ihm steht, das häufig beworben wird oder das er günstig eingekauft hat.“

„Mir ist schon klar, dass solche Tests viele Apotheker ärgern.“

Was Glaeske auch ärgert: Der Patient wird zu selten an den Arzt verwiesen: „Eine Regel in der Selbstmedikation lautet: Wenn ein Symptom zum ersten Mal auftritt und man kann es nicht einordnen, soll es der Arzt abklären.“ Natürlich wisse er, warum dieser Rat so selten erfolgt: „Weil dieser nicht in einem umsatzorientierten Verkaufsgespräch endet, d. h., es wird kein Umsatz gemacht. An dieser Stelle sage ich den Apothekern aber immer: Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, mit der Selbstmedikation macht ihr einen Umsatz von maximal 5 Milliarden pro Jahr. In der GKV macht ihr einen Umsatz von 32 Milliarden. Also, warum konzentriert Ihr Euch nicht darauf?“

Ist für Glaeske ein Apotheker nur dann ein guter Apotheker, wenn er abrät, wenn er bei Obstipation Leinsamenbrot empfiehlt und bei Grippe Wadenwickel? „Diese Diskussion kenne ich sehr gut“, winkt Glaeske ab und versucht, seine Einstellung zu verdeutlichen: „Was wären denn die Alternativen? Natürlich weiß ich, dass jemand, der Wick Medinait kaufen will, ganz schwer davon abzubringen ist. Aber es gibt doch Alternativen, die ich verkaufen kann und ähnlichen Umsatz bringen. Das ist das, was mich ärgert: Man nutzt diese Alternativen nicht, um sich als fachkundigen Apotheker darzustellen und Präparate zu fördern, die eine wissenschaftlich nachvollziehbare Zusammensetzung haben. Dazu muss man sich allerdings mit der publizierten Literatur beschäftigen.“

Sollten die Kammern mehr Tests machen? Glaeske: „Die Kammern machen ja solche Tests. Das Problem ist dabei: Es hat keine Konsequenz in der öffentlichen Darstellung. Ein ähnliches Dilemma sind die Ergebnisse von Ringversuchen, die auch nicht an die große Öffentlichkeit gehen.“ Und kopfschüttelnd fügt er hinzu: „Da bin ich völlig hilf- und ratlos: Wenn Rezepturen, auf die man vorbereitet ist, für die man zahlt, so schlecht ausfallen, verstehe ich die Welt nicht mehr. Da verwiegen sich Apotheken um den Faktor zehn – das kann doch eine Katastrophe werden, wenn diese Mittel zum Patienten kämen und diese Ergebnisse öffentlich gemacht würden.“

Differenzierung – weil nicht alle alles können

Wäre es denn sinnvoll, wenn sich einige Apotheken auf Rezepturen spezialisieren und diese für andere Apotheken mitmachen, möchte ich von ihm wissen und treffe damit sichtlich eines seiner Lieblingsthemen: „Wenn sich die Berufsvertretung nicht dazu durchringen kann, eine Differenzierung von Apotheken zu akzeptieren, sondern weiterhin meint, jede Apotheke könne alles gleich gut, dann hat sie eine große Chance vertan“, zeigt sich Glaeske überzeugt, es wird nicht anders gehen, als dass man eine Differenzierung einführen wird. Ich habe das auch auf dem Apothekertag 2014 gesagt, als es um das Perspektivpapier 2030 ging. Das Papier ist wirklich wichtig, es hat aber aus meiner Sicht die Konsequenz, dass die Entwicklung hin zu unterschiedlichen Apotheken führen muss.“

Zweifel am Medikationsmanagement

Schaffen es die Apotheken, sich ins Medikationsmanagement einzubringen? Glaeske hat da seine Zweifel: „Die Ausbildung muss widerspiegeln, was der Apotheker beim Medikationsmanagement zu tun hat. Da geht es nicht nur um Pharmakokinetik und Pharmakodynamik, sondern es geht viel stärker um die Fragestellung der Interaktionen und deren Überprüfung, um Risiko-Nutzen-Bewertungen, um die Therapiesicherheit, all diese Bereiche, die unter dem Aspekt Pharmakovigilanz im weitesten Sinne verstanden werden und die eines ganz speziellen Wissens bedürfen, um zum Beispiel einen Home Medication Review durchzuführen. Das Wissen dafür ist aus meiner Sicht nur bedingt vorhanden. Freilich, man kann versuchen, dies im Rahmen von Weiterbildungskonzepten zu lösen. Aber ein Apotheker, der das mit seiner heutigen Ausbildung machen will, wird es nicht können.“ Und so sind für Glaeske Projekte wie ARMIN „nur ein interessanter Anfang, es ist ein Projekt, das sicherlich die Kooperation und Kommunikation zwischen Ärzten und Apothekern fördern könnte. Andererseits“, so merkt er kritisch dazu an, „es reduziert den Apotheker ein Stück weit darauf, den richtigen Wirkstoff aussuchen zu können. Und das ist mit Verlaub etwas, was er schon immer hätte tun ­können und tun sollen. Wo aber wird der Mehrwert der ­Apotheker gezeigt?“

„Das Wissen fürs Medikationsmanagement ist aus meiner Sicht nur bedingt vorhanden.“

Und der Medikationsplan?

Wäre der Medikationsplan nicht ein Anfang für Apotheker, einen Fuß in dieses Gebiet zu bekommen? „Ich habe sehr bedauert, dass das Ministerium und die Kassen hier nicht mitziehen. Ich kann den Zorn und die Enttäuschung vieler Apotheker nachvollziehen“, gibt Glaeske zu verstehen. Seine Erklärung: „Man darf nicht unterschätzen, dass es im Gesundheitssystem einen starken Lobbyismus gibt. Offensichtlich konnten die Ärzte diesen Lobbyismus stärker einsetzen als die Apotheker. Als Apotheker frage ich mich dann allerdings: Warum dringen wir an dieser Stelle so wenig durch mit unseren Fähigkeiten? Warum hört man hier den Apotheker nicht an? Es ist sicher nicht falsch, ein Konzeptpapier 2030 zu entwickeln. Aber ich muss auch Schritte entwickeln und sagen, wie ich dort hinkomme und wie die politische Strategie ist, um die Apotheker bei der Politik zu Gehör zu bringen. Das vermisse ich an dieser Stelle. Man darf nicht vergessen, dass mit der Postkartenaktion gegen Ulla Schmidt viel politisches Porzellan zerschlagen wurde, diese Hypothek wirkt noch immer nach.“

Wofür Apotheker bezahlt werden sollten

Womit wir beim Honorarthema angelangt sind: „Wenn ich höre, dass es ein Gutachten geben soll, das sich zur Honorierung der Arzneimittelabgabe Gedanken macht, und das in anderthalb Jahren erscheinen soll, dann würde ich dringend vorschlagen, dass Apotheker umgehend ein eigenes Gutachten in Auftrag geben, das in einem Jahr erscheinen muss“, so Glaeskes Rat. „Damit man proaktiv eigene Gedanken in die Diskussion bringt und nicht nachhechelt und beklagt, dass nur wieder Leute an diesem Gutachten saßen, die das oder jenes aus politischen Gründen behauptet haben, aber am Problem vorbeigingen.“ Und Glaeske schlägt auf den Tisch: „Ja, liebe Apotheker, dann zeigt, wo die Probleme liegen und begründet, warum die Probleme systemimmanent sind und dass man bestimmte Systeme verändern muss, damit man das, was Apotheker können und leisten, auch vernünftiger bewerten kann. Da gibt es so etwas wie eine Bringschuld.“

An dieser Stelle bringt Glaeske die Krankenkassen ins Spiel, die er in den letzten Jahren bei vielen Fragestellungen beraten hat. Die Apotheker sollten sich klar machen, dass die Krankenkassen ihr wichtigster Geschäftspartner sind. „Aber in der Einschätzung von Apothekern sind Krankenkassen eher bürokratische Institutionen mit Glaspalästen vor Ort, die im Geld schwimmen, die Apotheker am Hungertuch halten und immer wieder zu neuen Leistungen zwingen, die eigentlich über das hinausgehen, was Apotheker aufgrund ihrer Einnahmen leisten können“, fasst Glaeske das Kassenbild der Apotheker zusammen, „es wird ein Feindbild ausgemacht. Das finde ich ziemlich falsch.“

Und er hat einen weiteren Vorschlag in Sachen Honorar: „Vielleicht sollten Apotheker auch mal darüber nachdenken, was Bundesgesundheitsminister Gröhe mit seinem Krankenhausstrukturgesetz in die Diskussion bringt und wir im Sachverständigenrat gefordert haben, nämlich eine qualitätsorientierte Honorierung für bestimmte Leistungen, also pay for performance.“ Was Glaeske darunter versteht: „Wir haben 2007 im Sachverständigenrat eine große Liste publiziert, mit der das qualitätsorientierte Honorierungsmodell auch für Apotheken gelten könnte., z. B. Honorar für die Beratung bei der Raucherentwöhnung, für die Beratung bei der Antibiotikagabe oder für eine Ernährungsberatung. Eine qualitätsorientierte Honorierung im System ist aus meiner Sicht durchaus etwas, was man bei Apotheken überlegen sollte.“ Was ihn wieder zum Stichwort Differenzierung führt: „Weil es eben nicht jede Apotheke gleich gut kann. Ich bin sicher, man wird irgendwann zu dieser differenzierten Honorierung kommen müssen. Wenn ich gute Qualität liefere, sollte das auch anders, besser honoriert werden. Das bedeutet: Differenzierung.“ Aber er sieht natürlich auch: „Damit würde man über eine ganz andere Apotheken- und Honorierungslandschaft nachdenken.“

Eine solche andere Landschaft wäre z. B. auch Glaeskes Vorschlag, dass eine Landapotheke mit potenzieller Unterversorgung einen anderen Aufschlag erheben dürfte als eine Stadtapotheke mit potenzieller Überversorgung: „Das ist eine ähnliche Konzeption, wie sie auch bei Ärzten diskutiert wird. Man kann sich auch hier differenzierte Lösungen vorstellen.“

„Brauche ich diese Apothekenanzahl, um in der GKV alle 70 Mio. Menschen, die dort versichert sind, mit Arzneimitteln ausreichend versorgen zu können?“

Gibt es zu viele Apotheken?

Spricht man dieses Thema bei Apothekern an, hört man immer wieder das Argument: Die Anzahl der Apotheken hat keinen Einfluss auf die Ausgaben, da der Umsatz doch gleich bleibt: „Ich sehe das nicht so“, ist Glaeske überzeugt und erinnert an die Zeit vor dem Urteil zur Niederlassungsfreiheit: „Da versorgte eine Apotheke durchschnittlich 9885 Personen. Ich kann keine Hinweise darauf finden, dass es da eine Unterversorgung gab. Als die Niederlassungsfreiheit juristisch erstritten worden war, nahm die Zahl der Apotheken explosionsartig zu. Da stellt sich tatsächlich die Frage: Brauchen wir die alle? Oder ist das nicht ein Grund dafür, warum oftmals in Apotheken eher ungezielt oder ohne große Evidenz verkauft werden muss, damit der Umsatz stimmt?“ Also, gibt es bei der Apothekendichte eine optimale Größe? Glaeskes Rechnung: „Deutschland liegt derzeit in einem Mittelfeld. Geht man davon aus, dass eine Apotheke für 5000 Einwohner ausreicht, dann bräuchte Deutschland nur 16.000 Apotheken, wir hätten also rund 5000 Apotheken zu viel. In den Niederlanden kommen 10.000 Einwohner auf eine Apotheke. Wenn alle Apotheken davon ausgehen, dass sie ausreichend Umsatz brauchen, um überleben zu können, dann sollte man sich schon mal Gedanken darüber machen, ob die Apothekenzahl einen Einfluss auf politische Forderungen hat vor dem Hintergrund, dass alle Apotheken überleben können. Strukturelle Kosten einer Organisationsform mit einer Vielzahl von Distributionsstellen gegenüber einer mit wenigen dürfen nicht kleingeredet werden.“ Ein Punkt, der ihn durchaus umtreibt, wie er eingesteht, und er legt nach: „Zugespitzt formuliert: Brauche ich diese Apothekenanzahl, um in der GKV alle 70 Mio. Menschen, die dort versichert sind, mit Arzneimitteln ausreichend versorgen zu können. Da habe ich, mit Verlaub, meine Zweifel.“

„Probleme des Versandhandels findet man immer wieder auch in der Präsenzapotheke.“

Natürlich sieht Glaeske auch, dass durch das heutige System eine gute flächendeckende Versorgung vorhanden ist: „Und in manchen Bereichen unnötig flächendeckender als in anderen. Daher muss man überlegen: Kann ich durch vernünftige Argumente unterstützen, warum wir diese Anzahl der Apotheken, die wir haben, aufrechterhalten, oder gibt es ­Argumente, die deutlich machen, ich käme auch mit einem Teil weniger Apotheken aus?“ Seine Zweifel scheinen zu überwiegen.

„Der Versandhandel hat viel bewegt“

„Herr Glaeske, wie sieht es da mit dem Versandhandel aus, brauchen wir den“, wollte ich an dieser Stelle von ihm wissen, „vor allem, wenn man sieht, wie dieser Versandhandel abläuft?“ Glaeske überlegt kurz: „Ich habe den Versandhandel in der Tat immer als ein Wettbewerbsinstrument im Apothekenmarkt gesehen, der sehr viel bewegt hat. Aber ja, es stimmt, der Versandhandel hat den Präsenzapotheken im Bereich der Selbstmedikation einiges weggenommen, etwa 10 bis 15 Prozent. Das schmerzt in der Tat. Das hat eine Art Abwehrschlacht in Gang gesetzt, die zum Teil auch mit irrationalen Argumenten versucht, den Versandhandel in Grenzen zu weisen.“ Glaeskes Kurzanalyse zum Versandhandel: „Wenn der Versandhandel das macht, was im Gesetz vorgesehen ist, dann habe ich auch dort eine Form von Beratung. Die Frage ist aber berechtigt: Wie funktioniert der Versandhandel in der Realität? Und sind die drei Packungen Paracetamol schneller zusammengepackt als der Hinweis darauf, dass das von der Menge her ein Zuviel ist? In diesem Zusammenhang gibt es ohne Zweifel einige Sicherheitsbedenken, die ich durchaus teile. Und die mich als Apotheker auch ärgern, wenn solche Fälle vorkommen. Daher sollte der Versandhandelsweg einmal unabhängig untersucht werden, um an bestimmten Schwachstellen nachjustieren zu können. Klar, man wird den Versandhandel nicht mehr wegbekommen. Aber wenn der Eindruck entsteht, dass die Arzneimittelsicherheit dadurch gefährdet ist, dann möchte ich bitte auch die entsprechenden systematischen Fehler sehen, die im Versandhandel stecken, um dann sagen zu können: Dies passiert im System der Präsenzapotheke nicht.“ Was Glaeske allerdings auch sieht: „Machen wir uns nichts vor, ähnliche Probleme findet man immer wieder auch in der Präsenzapotheke. Das haben wir selbst beim Kauf von Paracetamol-haltigen Grippe- und Schmerzmitteln untersucht. Uns wurden ohne jeden Kommentar so viele Paracetamol-haltige Arzneimittel verkauft, dass die unbedenkliche Dosierung bei Weitem überschritten wurde.“

Der Mensch und Apotheker Glaeske

„Warum ist Glaeske Apotheker geworden, warum nicht Mediziner“, möchte ich von ihm wissen. Seine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Medizin hat mich interessiert, aber das Medizinstudium hat mir nicht gefallen: Alles zu verschult. Ich wollte gerne ein Studium, das mich über naturwissenschaftliche Fächer dazu bringt, das Medizinische zu verstehen. Das habe ich in der Pharmazie gefunden, das Studium hat es mir bestätigt, vor allem, als im fünften Semester Pharmakologie hinzukam. Das war und ist ein Grund, warum ich das Studium und den Beruf sehr gerne mochte.“ Nur anfangs sei er etwas irritiert gewesen, räumt Glaeske ein, „als ich mein damals noch vor dem Studium vorgeschriebenes Praktikum in der Apotheke machte: Da musste ich als Praktikant Blutegel baden, Digitalis-Pillen drehen und viele Salben rühren. Aber dennoch, es hat mich interessiert, was da gemacht wurde und deswegen bin ich bei der Pharmazie geblieben.“

Natürlich hat Glaeske auch später Apothekenluft geschnuppert: Gemeinsam mit seiner Frau führte er nach seiner Promotion in pharmazeutischer Chemie eine Apotheke in Hamburg: „Das hatte damit zu tun, dass unser Sohn geboren wurde. Wir haben uns die Apothekenführung und die Erziehung unseres Sohnes geteilt, so dass ich dann drei Jahre lang halbtags in der Apotheke war und ich mich mit meiner Frau abgewechselt habe.“ Und freimütig fügt er hinzu: „Wir haben die Apothekenarbeit sehr unterschiedlich gemacht, waren individuell sehr erfolgreich, jeder hatte so seinen Kundenstamm. Während meine Frau aber in sehr professioneller Weise die Verantwortung für das Ganze übernommen hat, habe ich mich schon damals mehr auf einzelne Themen wie Arzneimittelwirkungen und Nutzen konzentriert“, gesteht er, „und ich habe mehr den Freiraum genossen, mit den Menschen über Arzneimittel sprechen zu können.“

Doch dann kam für ihn das Angebot von der Uni Bremen, die wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen und Arzneimittel unter sozialwissenschaftlichen Aspekten zu betrachten: „Das Projekt, das in Bremen entstanden ist, kam mir da natürlich sehr gelegen. Ich wurde relativ rasch stellvertretender Projektleiter und das hat mich dann auch vom Thema her nicht mehr losgelassen.“

Würde er nochmals Pharmazie studieren? Seine Antwort fällt eindeutig aus: „Ich würde es nochmals machen. Ich würde aber Auslandssemester in Großbritannien, in den Niederlanden oder in den USA einbauen, um den pharmakologischen Beratungsteil, den Teil der Klinischen Pharmazie und die Kommunikation mit den Ärzten stärker erfahren zu können.“

Womit entspannt ein Gerd Glaeske? „Ich gehe gerne wandern, fahre gerne Fahrrad, lese gern, liebe Kunst, Theater und Ballett“, zählt er seine Hobbys auf, „aber ich entspanne mich am meisten – auch wenn sich das seltsam anhört –, wenn ich am Schreibtisch sitze, denke und schreibe. Und dabei Musik höre, z. B. Klassik oder Jazz. Das verstehen viele Menschen nicht, wie man das machen kann, aber bei mir funktioniert das: Ich schreibe sehr gern mit Musik im Hintergrund, das entspannt mich.“

Glaeske – ein Apotheker mit Herzblut? „Eindeutig ja“, lautet seine Antwort und er stellt an den Schluss unseres Gesprächs: „Ich halte den Apothekerberuf nach wie vor für einen sehr schönen und verantwortungsvollen Beruf. Und ich glaube, dass man gesellschaftspolitisch noch viel mehr daraus machen könnte.“ |

Autor

Peter Ditzel ist Herausgeber der DAZ – Deutsche Apotheker Zeitung

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