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Hintergrund
Flexibler und besser geschützt
Viele Vorteile für Phenprocoumon-Patienten, die ihren Gerinnungsstatus selbst kontrollieren
In Abwesenheit von Vitamin K kann bei der Neubildung zahlreicher Gerinnungsfaktoren die γ-Carboxylierung nicht erfolgen. Die so entstehenden fehlerhaften Gerinnungsfaktoren können keine Calciumionen binden und daher ihre Funktion in der Blutgerinnungskaskade nicht mehr erfüllen.
Mit der Einführung der DOAKs (direkte orale Antikoagulanzien) haben die Cumarine zwar starke Konkurrenz bekommen, dennoch war Phenprocoumon (Marcumar® u. a.), das in Deutschland gängigste Cumarinderivat, 2014 mit 3,7 Millionen Packungen das mit Abstand am häufigsten verordnete Antikoagulans. Die geläufige Bezeichnung der Cumarine als „Vitamin-K-Antagonisten“ ist pharmakologisch nicht korrekt, da sie nicht das Vitamin K, sondern dessen enzymatische Regeneration aus Vitamin-K-2,3-Epoxid hemmen. Korrekter ist also die Bezeichnung „indirekte Antikoagulanzien“, auch zur Abgrenzung von den DOAKs.
Indikationen für Phenprocoumon sind einerseits die Therapie bestehender Thrombosen und Embolien, andererseits die Prophylaxe thromboembolischer Ereignisse bei Patienten mit erhöhtem Risiko. So werden zum Beispiel Patienten nach Herzinfarkt, mit Vorhofflimmern, mit künstlicher Herzklappe oder mit rezidivierenden Beinvenen-Thrombosen meist lebenslang mit Antikoagulanzien behandelt.
Bei eigentlich sehr guter Verträglichkeit hat Phenprocoumon eine sehr enge therapeutische Breite. Bei zu geringer Wirkung (zu niedrigem INR) steigt das Risiko thromboembolischer Ereignisse wie Thrombose, Lungenembolie oder Schlaganfall. Bei zu starker Wirkung (zu hohem INR) dagegen drohen unerwünschte Blutungen die von kleinen Hämatomen bis zu lebensgefährlichem Blutverlust reichen können. Zudem wird die Wirksamkeit von Phenprocoumon durch zahlreiche Interaktionen beeinflusst. Diese können sowohl pharmakodynamischer Natur sein, wenn der Patient mit der Nahrung große Mengen Vitamin K aufnimmt, als auch pharmakokinetischer Natur, wenn er weitere Arzneistoffe einnimmt, die ebenfalls in der Leber größtenteils über die CYP450-Isoenzyme 2C9 und 3A4 metabolisiert werden. Zusätzlich sind interindividuelle Schwankungen in der Wirksamkeit von Phenprocoumon zu beobachten, die wohl auf genetische Polymorphismen für verschiedene metabolisierende Enzyme zurückzuführen sind.
Weltweit vergleichbar: die INR
Die Überwachung des Gerinnungsstatus erfolgt über die Messung der INR (International normalized ratio). Hierbei wird in einer Blutprobe die Blutgerinnung durch Zugabe von Gewebsthromboplastin und Calciumionen gestartet und die Zeit bis zur Gerinnselbildung gemessen. Der früher verwendete Quickwert gab die Gerinnungszeit im Verhältnis zur Gerinnungszeit von Normalplasma in Prozent an. Da diese Werte jedoch in Abhängigkeit vom verwendeten Gewebsthromboplastin und dem Messgerät schwanken, werden heute alle Methoden nach einem von der WHO definierten Verfahren mithilfe eines internationalen Referenzthromboplastins kalibriert und der gemessene Wert als INR angegeben. Die physiologische INR liegt bei 1. Unter einer Therapie mit Gerinnungshemmern wird meist patientenindividuell und indikationsabhängig eine INR zwischen 2 und 3,5 angestrebt. Ab einer INR von 5 ist das Blutungsrisiko stark erhöht.
Die INR eines Phenprocoumon-Patienten wird bei Therapiebeginn engmaschig alle zwei bis drei Tage, nach stabiler Einstellung etwa alle vier Wochen in der Haus- oder Facharztpraxis bestimmt. Dazu wird venöses Blut abgenommen und ins Labor geschickt. Nach ein bis zwei Tagen liegt das Ergebnis vor, und bei einem weiteren Arzt-Patienten-Kontakt wird die Anpassung der Wirkstoffdosis besprochen.
Selbstmanagement mit Koagulometer: Wer kommt dafür infrage?
Seitdem in den 1990er-Jahren handliche Point-of-Care- (POC-)Koagulometer auf den Markt gekommen sind, mit denen die INR durch Aufbringen eines Tropfens Kapillarblut aus der Fingerbeere auf einen Teststreifen bestimmt werden kann, besteht die Möglichkeit dass der Patient selbst die regelmäßigen INR-Kontrollen vornimmt und seine Medikamentendosis selbstständig anpasst (Patienten-Selbstmanagement, PSM). Ein solcher Patient muss geistig und körperlich in der Lage sein,
- die Messung korrekt durchzuführen und
- die Messwerte richtig zu interpretieren, um gegebenenfalls die Dosis des Antikoagulans korrigieren zu können.
Zudem muss der Patient die Messwerte zuverlässig dokumentieren.
Wann erstattet die GKV das PSM?
Die Kosten für das PSM werden von den gesetzlichen Krankenkassen nach der Implantation einer künstlichen Herzklappe übernommen, wenn das PSM innerhalb von drei Monaten nach der Operation beginnt. Bei weiteren Indikationen, z. B. einem länger zurückliegenden Herzklappenersatz, Thrombophilie, Zustand nach einem ausgedehnten Herzinfarkt oder Vorhofflimmern, muss zusätzlich belegt werden,
- dass bei der konventionellen Betreuung durch den Arzt Komplikationen aufgetreten sind, oder
- dass die regelmäßige Blutentnahme aus den Venen problematisch ist oder
- dass es für den Patienten schwierig ist, die Arztpraxis regelmäßig aufzusuchen, z. B. aufgrund von Schichtarbeit.
Auch bei Kindern mit Dauerantikoagulation aufgrund der genannten Indikationen sind die gesetzlichen Krankenkassen zur Kostenübernahme verpflichtet.
Für kurzzeitige Therapien mit Phenprocoumon, z. B. nach einer Beinvenenthrombose, erfolgt hingegen keine Erstattung durch die GKV.
Welche Vorteile bietet das Selbstmanagement?
Warum das PSM die Lebensqualität vieler Patienten subjektiv erhöht, liegt auf der Hand: Die häufigen Arztbesuche zur Blutentnahme entfallen, in der Regel muss der Gerinnungsstatus nur noch einmal im Quartal mit dem Arzt besprochen werden. Gerade bei schwankenden INR-Werten ist es von Vorteil, dass das Ergebnis der Messung nicht erst einen Tag später aus dem Labor kommt, sondern sofort vorliegt, sodass eine schnelle Dosisanpassung möglich ist. Schließlich weiß jeder Patient, bei dem kleinste Stöße Hämatome verursachen, die INR-Bestimmung aus Kapillarblut statt venösem Blut zu schätzen.
Aus der Sicht des Arztes steht der medizinische Nutzen im Vordergrund: Die erste Frage, die sich stellt, ist, ob die mit POC-Koagulometern gemessenen Werte genauso zuverlässig sind wie die Werte aus dem Labor. Eine Übersichtsarbeit von 2012 untersuchte sowohl die Genauigkeit als auch die Reproduzierbarkeit der Messwerte verschiedener POC-Koagulometer [1]. Diese schwankten grundsätzlich in Abhängigkeit von verwendetem Gerät und konkreter Studie, doch befanden die Autoren sämtliche untersuchten Geräte, darunter auch die in Deutschland am häufigsten eingesetzten CoaguChek® XS und INRatio® 2, für ausreichend zuverlässig und damit akzeptabel für das Patienten-Selbstmanagement.
Die zweite Frage des Arztes betrifft die Häufigkeit von Komplikationen. Hierzu sind in den letzten Jahren mehrere Übersichtsarbeiten und ein Cochrane-Review erschienen [2 – 5]. Die Autoren kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass das Risiko für thromboembolische Ereignisse durch PSM im Vergleich zur konventionellen Betreuung durch den Arzt auf fast die Hälfte reduziert wird. Dazu passen auch Daten, dass Patienten die ihren Gerinnungsstatus selbst kontrollieren, sich zu über 80 Prozent eines Zeitraums im therapeutisch angestrebten INR-Bereich befinden (Time in therapeutic range, TTR), während die TTR bei ärztlicher Kontrolle teilweise unter 50 Prozent liegt.
Uneinheitlich sind die Daten zur Mortalität: Hier konnte nur in einigen Übersichtsarbeiten eine signifikant reduzierte Mortalität durch PSM beobachtet werden, in anderen blieb sie unverändert. Die Häufigkeit von schweren Blutungen wird durch die Art der Kontrolle nicht beeinflusst. Die deutlich niedrigere Komplikationsrate unter PSM im Vergleich zur Labordiagnostik nach Blutentnahme durch den Arzt beruht zum einen darauf, dass der Gerinnungsstatus im PSM deutlich häufiger bestimmt wird (als Richtgröße gilt einmal wöchentlich). Zum anderen ist bei Patienten, die ihren Gerinnungsstatus selbst kontrollieren, häufig eine höhere Compliance zu beobachten.
Weniger Komplikationen, keine Mehrkosten
Schließlich steht aus Sicht der Krankenkassen noch die Frage nach den Kosten im Raum. Hierzu finden sich in der Literatur verschiedene Hochrechnungen. Betrachtet man isoliert die Kosten für den Gerinnungshemmer und die INR-Bestimmung, so ist eine INR-Kontrolle durch den Arzt deutlich günstiger als durch den Patienten selbst. Eine aktuelle Übersichtsarbeit berechnete für den englischen Markt die Kosten in zehn Jahren mit durchschnittlich 1269 £ für die Standardversorgung durch den Arzt und 1717 £ für das Patienten-Selbstmanagement [6]. Rechnet man jedoch die Kosten für die Behandlung der auftretenden thromboembolischen Komplikationen mit ein, so kostet der durch den Arzt versorgte Patient 7324 £ und der Patient mit Selbstmanagement 6394 £. Die Zahlen variieren in anderen Hochrechnungen und sind sicher nicht direkt auf Deutschland übertragbar, doch wird deutlich, dass durch das PSM nicht automatisch Mehrkosten für die Krankenkasse entstehen.
Verschiedene INR-Messmethoden
Die INR-Bestimmung mit einem POC-Koagulometer ist vergleichbar mit der Blutzuckermessung: Ein Blutstropfen wird aus der Fingerbeere gewonnen und auf einen Teststreifen aufgetragen, den das Koagulometer dann auswertet. Bei dem (in Deutschland von den meisten Patienten verwendeten) Koagulometer CoaguChek® XS befinden sich auf dem Testfeld Eisenoxidpartikel, die durch zwei Magnetfelder in ständiger Bewegung gehalten werden. Die durch das Thromboplastin hervorgerufene Blutgerinnung stoppt diese Bewegung, die reflexionsphotometrisch erfasst wird. Das Koagulometer Alere INRatio® 2 bestimmt den Gerinnungszeitpunkt über die Veränderung der Impedanz der Blutprobe durch die Bildung des Fibrin-Gerinnsels. Bei einer retrospektiven Analyse der Daten von 4326 Patienten haben die Autoren weder hinsichtlich thromboembolischer Ereignisse noch hinsichtlich der TTR relevante Unterschiede zwischen den beiden Geräten gefunden und beiden eine ausreichende Genauigkeit für das Patienten-Selbstmanagement bestätigt [7].
MicroINR®, ein relativ neues Gerät, das in der zitierten Übersichtsarbeit noch nicht berücksichtigt ist, bestimmt den Gerinnungszeitpunkt photometrisch. Es zeichnet sich durch ein besonders kleines Probenvolumen von nur 3 µl aus und soll nach Angaben des Herstellers weniger empfindlich gegen Erschütterungen sein [8].
Schulung und Beratung
Die Schulung des Patienten zur richtigen Messtechnik und Interpretation der Messwerte erfolgt in spezialisierten Schulungszentren. Erst mit dem Schulungszertifikat kann die Verordnung des Arztes bei der Krankenkasse zur Genehmigung eingereicht werden.
Der Patient erwirbt die vom Arzt verordneten Teststreifen in der Regel in einer Apotheke, die ihm bei der Abgabe noch einmal nützliche Hinweise zur Durchführung der Messung geben sollte, beispielsweise zur Dosiskorrektur: Der Patient sollte deren Auswirkung zwei Tage später durch eine zusätzliche INR-Messung überprüfen. Bei Umständen, die die Blutgerinnung beeinflussen könnten wie fiebrige Erkrankungen, Flüssigkeitsmangel infolge starker Durchfälle oder der Beginn einer Diät, muss die INR engmaschiger kontrolliert werden. Die Messung sollte stets zur gleichen Tageszeit erfolgen. Vor der Gewinnung des Blutstropfens, die mit den gängigen Stechhilfen erfolgt, sollte der Finger gewaschen und gut abgetrocknet werden, eine Desinfektion ist aber nicht notwendig. Die Punktionsstelle darf nicht gequetscht werden, da austretendes Gewebsthromboplastin die Messung verfälschen könnte. Gleich der erste dicke Blutstropfen, der austritt, wird für die Messung verwendet. Kritisch ist die Zeit, die zwischen der Punktion und dem Auftragen des Blutstropfens auf den Teststreifen verstreicht: Sie darf maximal 15 Sekunden betragen.
Erleichternd für den Patienten ist, dass die Teststreifen für die heutigen Koagulometer – im Gegensatz zu früheren Modellen – nicht mehr im Kühlschrank gelagert werden müssen. Für individuelle Fragen und Probleme im Umgang mit dem Gerät bieten die Hersteller von CoaguChek® XS und INRatio® 2 eine Patienten-Hotline an.
Bei Warnsignalen zum Arzt
Seinen Arzt sollte der Patient grundsätzlich aufsuchen, wenn sein INR-Wert über 4,5 steigt, ansonsten immer bei schwankenden Messwerten, die sich nicht durch die Nahrungsmittelaufnahme oder andere Faktoren erklären lassen. Symptome, die auf eine zu hohe INR hindeuten, sind massives Nasen- oder Zahnfleischbluten, das Auftreten von großflächigen Hämatomen ohne vorausgegangenen Stoß, das Anschwellen von Gelenken als Folge von Einblutungen oder eine Braun- oder Rotfärbung des Harns. Sowohl auf eine Blutungskomplikation als auch auf ein thromboembolisches Ereignis können ungewöhnlich starke Kopfschmerzen oder Seh-, Sprach- und Gefühlsstörungen hindeuten.
Abschließend sei bei aller Selbstständigkeit der Patienten daran erinnert, dass sie den Antikoagulanzienpass mit der aktuellen Medikamentendosis und der persönlichen Ziel-INR stets mit sich führen sollten, damit Rettungskräfte und Kliniken bei Notfällen entsprechend reagieren können. |
Literatur
[1] Christensen TD et al. Precision and accuracy of point-of-care coagulometers used for self-testing and self-management of oral anticoagulation therapy. J Thromb Haemost 2012;10:251-60
[2] Sharma P et al. The clinical effectiveness and cost-effectiveness of point-of-care tests (CoaguChek system, INRatio2 PT/INR monitor and ProTime Microcoagulation system) for the self-monitoring of the coagulation status of people receiving long-term vitamin K antagonist therapy, compared with standard UK practice: systematic review and economic evaluation. Health Technol Assess 2015;19(48):1-172
[3] Siebenhofer A et al. Self-management of oral anticoagulation. Dtsch Arztebl Int 2014;111(6):83-91
[4] Heneghan C et al. Self-monitoring of oral anticoagulation: systematic review and meta-analysis of individual patient data. Lancet 2012;379:322-34
[5] Garcia-Alamino JM et al. Self-monitoring and self-management of oral anticoagulation. Cochrane Database of Systematic Reviews 2010, Issue 4. Art. No. CD003839
[6] Sharma P et al. Is self-monitoring an effective option for people receiving long-term vitamin K antagonist therapy? A systematic review and economic evaluation. BMJ Open 2015;5:e007758
[7] Brouwer JLP et al. The Clinical Impact of Different Coagulometers on Patient Outcomes. Adv Ther 2014;31:639-656
[8] Informationsmaterialen der Hersteller (Roche Diagnostics, Alere GmbH, Axon Lab AG)
Weitere Literatur bei der Autorin
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