Arzneimittel und Therapie

Wie gleich ist gleich genug?

Äquivalenz bei komplexen Molekülen ist schwer zu beurteilen

Wie legt man fest, dass zwei Arzneimittel gleichwertig und somit austauschbar sind, wenn man eigentlich nichts weiß? Wenn man weder die genaue Zusammensetzung bzw. die wirksamkeitsbestimmenden Bestandteile kennt, noch die Möglichkeit hat, einen Blutspiegel zu messen? Ein Problem, das beispielsweise bei den meisten Phytopharmaka, dem MS-Therapeutikum Glatirameracetat und den niedermolekularen Heparinen besteht. | Von Julia Borsch 

Wirkstärke, identische Packungsgröße, Zulassung für mindestens ein gemeinsames Anwendungsgebiet und die gleiche oder eine austauschbare Darreichungsform – treffen diese Kriterien zu, darf ein verordnetes Arzneimittel gegen ein wirkstoffgleiches ausgetauscht werden. So hat es der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) festgelegt. Die üblichen Aut-idem-Kriterien stoßen allerdings bei manchen Wirkstoffen und Darreichungsformen an ihre Grenzen. Mit dem Austauschverbot bei Biosimilars und der Substitutionsausschlussliste wurde versucht, dem Rechnung zu tragen.

Eine Gruppe, über die diesbezüglich noch sehr wenig diskutiert wurde, sind die sogenannten „Non-biological complex drugs“ – also Wirkstoffe, die nicht wie die Antikörper oder die Wachstumsfaktoren zu den Biologicals zählen, aber aufgrund ihrer Komplexität auch nicht den „einfachen“ chemisch definierten Arzneistoffen zugerechnet werden können. Dazu gehören nach der Definition der amerikanischen Behörden zum Beispiel Liposomen, Glatirameroide (Glatiramer-Derivate) oder Eisen-Sucrose-Komplexe. Die Frage nach dem Austausch hat sich in Ermangelung von Nachahmerpräparaten bisher kaum gestellt. Lediglich für den Eisen-Sucrose-Komplex gibt es bereits seit einiger Zeit ein Generikum.

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Biologisch oder nicht? Bei niedermolekularen Heparinen eine klare Sache: Sie werden aus Schweinedarmmukosa gewonnen und sind demnach biologischen Ursprungs. Ihre Zuordnung zu den „Non-biological complex drugs“ ist daher verwirrend. Bei dieser Gruppe handelt es sich um Wirkstoffe, die weder zu den Biologicals noch zu den chemisch eindeutig zu identifizierenden Substanzen zählen. Schwierig gestaltet sich in diesem Zusammenhang die Frage nach ihrer Austauschbarkeit.

Seit Anfang September ist mit Clift eine generische Alternative zum MS-Therapeutikum Copaxone® (Glatirameracetat) auf dem Markt – für knapp 300 Euro weniger als das Original (bezogen auf die 30-Stück-Packung). Die Frage nach dem Austausch ist hier plötzlich akut. Und auch bei anderen Wirkstoffen, wie den niedermolekularen Heparinen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich stellen wird. In den USA ist bereits ein generisches Enoxaparin auf dem Markt. Anlass genug für das House of Pharma und Healthcare und die Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft (DPhG), Experten aus der Hochschule und der Industrie sowie Vertreter der Behörden, der Apotheker und der Ärzteschaft zum „Gespräch am Campus“ einzuladen, um über die Austauschbarkeit „Non-biological complex drugs“ zu diskutieren.

Was sind „Non-biological complex drugs“?

Bei „Non-biological complex drugs“ (NBCD) handelt es sich um eine heterogene Gruppe, die es in Europa – zumindest aus regulatorischer Sicht – gar nicht gibt. Die DPhG hat sie in ihrer Leitlinie zur guten Substitutionspraxis aufgegriffen – angelehnt an die US-amerikanische Definition. Dort heißt es: Wegen der molekularen Komplexität dieser recht neuen Wirkstoffklasse rät die DPhG von einer Substitution ab.

Die Bezeichnung „Non-biological complex drugs“ ist jedoch nicht für alle Substanzen zutreffend (z. B. Heparine). Im Gegensatz zu den üblicherweise als Biologicals bezeichneten Arzneimitteln (bzw. die Nachahmer als Biosimilars) ist bei den NBCD die wirksame Komponente nicht bekannt. Ähnlich wie bei Phytopharmaka, wo der Gesamtextrakt für den pharmakologischen Effekt verantwortlich ist, ist hier der gesamte Komplex wirksam. Eine Gemeinsamkeit mit den „typischen“ Biologicals, wie Antikörpern, Insulinen und Wachstumsfaktoren, ist das Postulat „The product is the process“.

Beispiel Niedermolekulare Heparine

Heparine sind Polysaccharide. Die Bezeichnung „non-biological“ ist schlichtweg falsch, denn Heparin wird aus Schweinedarmmukosa gewonnen. Treffender wäre „non-Protein-Biological-Drugs“ oder „Biological Drugs with increased complexity due to depolymerisation“. Denn durch Depolymerisation des unfraktionierten Heparins entstehen die niedermolekularen Heparine. Der jeweilige Herstellungsprozess lässt individuelle Wirkstoffe mit unterschiedlichen biochemischen Eigenschaften entstehen. Deren Struktur ist abhängig vom Depolymerisationsverfahren (z. B. Desaminierung, ß-Elimination, enzymatisch oder chemisch) sowie den Prozessparametern wie Temperatur, pH-Wert und Reaktionszeit. So wird beispielsweise Enoxaparin (Clexane®) alkalisch gespalten, Tinzaparin (Innohep®) enzymatisch.

Niedermolekulare Heparine sind eine komplexe Mischung aus Polysacchariden. Sie sind nicht vollständig charakterisiert. Auch wenn in den letzten zehn Jahren große Fortschritte in der Analytik gemacht wurden, ist die Struktur von 30% der Moleküle nach wie vor unbekannt. Der am besten untersuchte Wirkstoff ist Enoxaparin.

Da keine Gehaltsbestimmung möglich ist, hat man sich als Notlösung auf die Messung der Anti-Xa-Aktivität zur Bestimmung der Wirkstärke geeinigt. Außerdem wird die Hemmung von Thrombin (IIa) durch Antithrombin gemessen, die durch Heparin verstärkt wird, und das Verhältnis von Anti-Xa- zu Anti-IIa-Aktivität bestimmt. 85 bis 90% der Moleküle haben jedoch keine Anti-Xa-Aktivität, sind aber bioaktiv. Außerdem gibt es keine Korrelation zwischen Xa-Spiegel und der Wirksamkeit bzw. Sicherheit.

Dazu wird eine Reihe anderer physiochemischer Eigenschaften bestimmt, wie das mittlere Molekulargewicht und chemische Strukturen an den Enden. Die jeweiligen Grenzwerte legt das Arzneibuch fest. Doch inwiefern reicht diese Charakterisierung aus, um Bioäquivalenz eines Generikums nachzuweisen? Die Kenntnisse zu den pharmakologischen Konsequenzen und der klinischen Relevanz von Abweichungen sind bislang spärlich.

Beispiel Glatirameracetat

Das MS-Therapeutikum Glatirameracetat hat mit den niedermolekularen Heparinen eigentlich nur gemeinsam, dass man die genaue Zusammensetzung nicht kennt und sich keine pharmakokinetischen bzw. -dynamischen Parameter bestimmen lassen. Im Unterschied zu Enoxaparin und Co. stimmt hier allerdings die Bezeichnung „non-biological“, denn bei Glatiramer handelt es sich um ein synthetisches Copolymer. Bekannt sind lediglich die Grundbausteine – die vier Aminosäuren L-Alanin, L-Glutaminsäure, L-Lysin, L-Tyrosin – sowie deren Verhältnis. Die genaue Zusammensetzung des Wirkkomplexes wird durch den Herstellungsprozess bestimmt.

Durch Kombination zum Teil sehr aufwendiger analytischer Methoden lassen sich viele physikochemische Eigenschaften bestimmen. Deren Aussagekraft ist aber hinsichtlich der pharmakologischen Eigenschaften sehr begrenzt. Erschwerend kommt hinzu, dass es für Glatiramer keine Biomarker oder Aktivitätsassays gibt, die zur Charakterisierung herangezogen werden können.

Grundsätzlich wird der Outcome bei MS-Therapeutika anhand von klinischen Parametern, wie Schubrate oder Behinderungsprogression, und bildgebenden Parametern, wie Gadolinium-anreichernde Läsionen im Gehirn, gemessen. Diese Parameter werden auch zur Beurteilung der therapeutischen Äquivalenz herangezogen. Doch auch hier stellt sich die Frage: Reicht das? So wurde beispielsweise das generische Glatimeroid über einen Zeitraum von neun Monaten sowohl mit dem Original als auch mit Placebo verglichen. Ein Endpunkt waren die im MRT sichtbaren Gadolinium-anreichernden Läsionen. Experten halten MRT-basierte Vergleichsstudien aber für ungeeignet, um die therapeutische Äquivalenz von Generikum und Original zu belegen. Sie hätten keinen prädiktiven Wert für den Krankheitsverlauf. Begründet liegt dies im Wirkmechanismus von Glatiramer: Es dichtet gewissermaßen die Blut-Hirn-Schranke ab, deren Durchlässigkeit für fehlgesteuerte Immunzellen bei MS erhöht ist. Die therapeutische Äquivalenz könnte demnach nur anhand von klinischen Studien beurteilt werden. Diese müssen aber mindestens über einen Zeitraum von zwei Jahren laufen, um überhaupt einen Unterschied sehen zu können, denn die Schubrate beträgt unbehandelt im Schnitt 0,5 bis 0,8 pro Jahr.

Fazit der Expertenrunde

Wie beurteilt man also, ob ein Generikum gleichwertig ist? Im Bereich der Zulassung sind die Regeln sehr eindeutig. Den Begriff „Non-biological complex drugs“ gibt es in Europa aus regulatorischer Sicht nicht. Nachahmerpräparate können entweder als Generikum, als Biosimilar oder auf Basis einer Hybrid-Zulassung auf den Markt kommen (siehe Kasten „Zulassungsarten“). Allerdings beurteilt das BfArM nur die grundsätzliche, therapeutische Äquivalenz von Original und Generikum. Ob sie während einer laufenden Therapie gegeneinander ausgetauscht werden können, ist nicht Gegenstand der Zulassung.

Zulassungsarten

Generikum: Bei der Zulassung wird auf die Unterlagen zu einem bereits zugelassenen Arzneimittel (Referenzarzneimittel), ohne Zustimmung des Zulassungsinhabers dieses Arzneimittels, Bezug genommen.

Hybrid-Antrag: Unter bestimmten Voraussetzungen ist es neben der Bezugnahme auf Unterlagen eines Referenzarzneimittels zusätzlich erforderlich, bestimmte Ergebnisse aus eigenen präklinischen oder klinischen Studien vorzulegen. Die Einreichung solcher zusätzlicher Daten ist immer dann verpflichtend, wenn die wesent­liche Vergleichbarkeit zum Referenzarzneimittel nicht belegt werden kann.

Biosimilar: Ähnlich wie bei generischen Anträgen kann auf ein Referenzarzneimittel Bezug genommen werden, allerdings kann aufgrund der Komplexität der Wirkstoffe und der bereits beschriebenen Variabilität nicht davon ausgegangen werden, dass das beantragte Arzneimittel mit dem Referenzarzneimittel identisch ist. Bei den beiden Wirkstoffen handelt es sich somit um die gleiche biologische Substanz, die aber nicht als identisch, sondern als biotechnologisch ähnlich angesehen wird.

Quelle: www.bfarm.de

Im Fall der niedermolekularen Heparine stellt sich die Frage der Austauschbarkeit allerdings aus mehreren – sowohl therapeutischen als auch regulatorischen – Gründen nicht. Denn eine Heparin-Therapie ist in der Regel zeitlich begrenzt, ein Wechsel vom Original auf ein anderes Präparat oder auf ein Generikum während einer laufenden Behandlung ohne medizinische Indikation wäre eher ungewöhnlich. Zudem stuft das BfArM die niedermolekularen Heparine als Wirkstoffe biologischen Ursprungs ein und Nachahmerpräparate somit als Biosimilars. Für die Gruppe der niedermolekularen Heparine existiert eine produktspezifische Guideline. Hersteller müssen bei der Zulassung Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit vorlegen. Für diese Gruppe ist eine Substitution zum Beispiel aufgrund von Rabattverträgen derzeit nicht erlaubt. Selbst wenn diese Regelung gekippt werden sollte, dürften die niedermolekularen Heparine aus den genannten Gründen in der Praxis kaum Probleme bereiten.

Das Sorgenkind ist Glatiramer. Anders als in den USA gibt es hierzu in Europa keine produktspezifische Guideline. Bei der Zulassung des Generikums wurde ein schrittweiser Ansatz gewählt. Da Pharmakodynamik- und Pharmakokinetikstudien nicht möglich sind, wurde vom Hersteller zur Wirksamkeit und Sicherheit eine Vergleichsstudie vorgelegt, die über einen Zeitraum von neun Monaten lief. Auf Basis der Hybrid-Regelung erfolgte letztendlich die Zulassung. Die Aufsichtsbehörden sehen die therapeutische Äquivalenz zwischen Original und Generikum gegeben. Der Nachahmer wird als sicher und wirksam eingestuft. Nach den Regeln des G-BA sind die beiden austauschbar.

Im Gegensatz zu den Heparinen stellt sich bei der MS-Therapie die Substitutionsfrage in der Praxis durchaus. Es handelt sich um eine kostspielige Dauertherapie. Die beim Expertengespräch anwesenden Ärzte lehnen allerdings einen Präparatewechsel ab, da die derzeit verfügbaren Daten ihrer Ansicht nach nicht ausreichen, um dies zu verantworten. Darüber hinaus habe die MS eine große psychische Komponente. Es gelte, die Patienten nicht zu verunsichern. Das könnte unter Umständen sogar einen Schub auslösen. Zudem gefährde es die Adhärenz – eine Einschätzung, die Patientenvertreter bestätigen. Selbst bei besserer Datenlage würden Experten bei diesem Krankheitsbild deshalb von einem Präparatewechsel ohne zwingenden Grund absehen. Neueinstellungen mit generischen Präparaten stehen sie grundsätzlich offen gegenüber, jedoch fehlen im Fall von Glatiramer noch aussagekräftige Daten.

Aus Sicht der Apotheker und der Patienten wäre es wünschenswert, wenn der Besonderheit von Glatirameracetat Rechnung getragen und die Substitution ausgeschlossen würde. Bis dahin sollte die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt werden. Mit den pharmazeutischen Bedenken und dem Aut-idem-Kreuz stehen die notwendigen Instrumente zur Verfügung. Welche Parameter heranzuziehen sind, um die Äquivalenz komplexerer Moleküle zu beurteilen, ist aber noch lange nicht beantwortet. Da die Zahl der Nachahmerpräparate in diesem Bereich, biologischen wie nicht-biologischen Ursprungs, ebenso zunehmen wird wie der Kostendruck, wird man Wege finden müssen, dieses Problem in der Praxis zu lösen. |

Quelle

Austauschbarkeit von Arzneimitteln mit komplex zusammengesetzten Wirkstoffen (Non-biological complex drugs, NBCD). 20. Expertentreffen „Pro und Contra“, veranstaltet vom House of Pharma & Healthcare, Frankfurt, zusammen mit der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG), 8. September 2016, Frankfurt am Main


Autorin

Julia Borsch, Apothekerin, Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Redakteurin bei DAZ.online.

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