Arzneimittel und Therapie

Schlechter schlafen mit Methylphenidat

Neue Daten bestätigen Wirksamkeit und Nebenwirkungen von Stimulanzien

In den vergangenen Wochen gab es mehrere vielbeachtete Veröffentlichungen zur Therapie des Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) mit Stimulanzien. Ein Cochrane-Review hatte 185 Studien hinsichtlich des Nutzens und der Risiken von Methylphenidat bei Kindern und Jugendlichen analysiert. Eine Metaanalyse in der Fachzeitschrift Pediatrics widmete sich der Frage, ob diese Altersgruppe bei Gabe von Methylphenidat, Dexamfetamin oder Lisdex­amfetamin vermehrt unter Schlafproblemen leidet. In einer an deutschen Kliniken durchgeführten Untersuchung bei Erwachsenen wirkte eine Gruppentherapie plus Methylphenidat signifikant besser als in Kombination mit Placebo.
Foto: LEA PATERSON/SPL/Agentur Focus

Stimulanzien wie Methylphenidatkönnen bei Kindern zu Schlafproblemen führen. Die Wirkstoffe haben sich jedoch bei der Kontrolle der ADHS-Symptome als effektiv erwiesen.

Methylphenidat ist bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS der am häufigsten verordnete Wirkstoff. Trotz zahlreicher Studien zu dessen Wirksamkeit und Sicherheit fehlte bisher ein umfassender, systematischer Überblick über alle Erkenntnisse. Eine dänische Arbeitsgruppe hat kürzlich einen Cochrane-Review veröffentlicht, in dem 185 Studien des Zeitraums 1981 bis 2014 analysiert wurden. Die 12.245 Teilnehmer – Kinder und Jugendliche zwischen drei und 18 Jahren – hatten Methylphenidat durchschnittlich 75 Tage lang eingenommen. Das Durchschnittsalter über alle Studien lag bei rund zehn Jahren, das Verhältnis Jungen zu Mädchen betrug 5 : 1. Es handelte sich um 38 Studien mit Parallelgruppen-Design und 147 Studien mit Cross-over-Design. Die Kontrollgruppen erhielten entweder Placebo (175 Studien) oder keine Intervention (10 Studien).

Die Hauptergebnisse zur Wirksamkeit von Methylphenidat bezüglich ADHS-Symptome, Verhaltensauffälligkeiten und Lebensqualität lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • In 19 Studien mit 1698 Teilnehmern reduzierte Methylphenidat die von Lehrern auf der ADHD Rating Scale (0 bis 72 Punkte) bewerteten ADHS-Symptome durchschnittlich um 9,6 Punkte (95%‑Konfidenzintervall -13,75 bis -6,38), wobei ein Unterschied von mindestens 6,6 Punkten als klinisch relevant gilt.
  • In fünf Studien mit 668 Teilnehmern reduzierte Methylphenidat die von Lehrern bewerteten Verhaltens­auffälligkeiten um 0,87 Punkte (95%‑KI -1,04 bis -0,71).
  • In drei Studien mit 514 Teilnehmern besserte sich unter Methylphenidat die von den Eltern beurteilte Lebensqualität im Child Health Questionnaire (CHQ, von 0 bis 100 Punkte) im Mittel um 8 Punkte, wobei eine Verbesserung um mindestens 7 Punkte als klinisch relevant gilt.

Diese Ergebnisse legen nahe, dass Methylphenidat die ADHS-Hauptsymptome – Hyperaktivität, Impulsivität und mangelnde Konzentrationsfähigkeit – verringern kann, so die Schlussfolgerung der Autoren. Außerdem verbessern sich unter der Medikation das allgemeine Verhalten und die Lebensqualität der Betroffenen. Allerdings besitzen die Aussagen zur Wirksamkeit eine geringe Evidenz. Daher sind sich die Autoren nicht sicher, ob die Ergebnisse den tatsächlichen Nutzen von Methylphenidat richtig widerspiegeln können. Die geringe Evidenz kommt unter anderem dadurch zustande, dass in den ausgewerteten Studien möglicherweise nicht alle Ergebnisse publiziert worden waren. Ein großes Problem aller Studien war, dass sich eine Methylphenidat-Einnahme aufgrund der typischen Haupt- und Nebenwirkungen nicht wirklich verblinden lässt.

Kein höheres Risiko für schwere unerwünschte Wirkungen

Es gab keine Hinweise darauf, dass Methylphenidat die Rate schwerer, d. h. lebens­bedrohlicher Nebenwirkungen erhöht (relatives Risiko RR 0,98, 95%‑KI 0,44 bis 2,22 in 9 Studien mit 1532 Teilnehmern). Das Risiko für alle nicht schwerwiegenden Nebenwirkungen erhöhte sich unter Methylphenidat um 29 Prozent (RR 1,29, 95%‑KI 1,10 bis 1,51; 21 Studien mit 3132 Teilnehmern).

Die beiden häufigsten Nebenwirkungen waren Schlafprobleme und Appetitminderung. Kinder unter Methylphenidat besaßen ein um 60% höheres Risiko für Schlafstörungen (RR 1,60, 95%‑KI 1,15 bis 2,23; 13 Studien mit 2416 Teilnehmern) sowie ein 226 Prozent höheres Risiko für verminderten Appetit (RR 3,66, 95%‑KI 2,56 bis 5,23; 16 Studien mit 2962 Teilnehmern) als die Kinder in den jeweiligen Kontrollgruppen.

Hinweise für die Praxis

In einem Interview mit dem Portal MedicalResearch.com betonte der Erstautor des Cochrane-Reviews, Dr. Ole Jakob Storebø von der Süddänischen Universität (Syddansk Universitet) in Odense, dass bei einer so komplexen Störung wie ADHS noch weitere Untersuchungen notwendig sind, um die optimale Behandlungsstrategie identifizieren zu können. Kliniker sollten nicht zu hohe Erwartungen an das Medikament haben, aber andererseits die Behandlung auch nicht vorschnell beenden, falls nicht gleich Erfolge zu verzeichnen sind. Um die Risiken ei­ner Langzeitbehandlung von über sechs Monaten besser beurteilen zu können, seien insbesondere Studien mit längeren Beobachtungszeiträumen notwendig. Derzeit bereiten die dänischen Forscher einen systematischen Review auf der Basis von nicht-randomisierten Studien vor in der Hoffnung, bessere Erkenntnisse über Langzeitnebenwirkungen zu bekommen.

Studie speziell zu Schlafproblemen

Die kürzlich veröffentlichte Meta­analyse einer amerikanischen Arbeitsgruppe widmete sich speziell der Schlafqualität, die unter einer Therapie mit Stimulanzien (Methylphenidat, Dexamfetamin oder Lisdexamfetamin) häufig beeinträchtigt ist. Ausgewertet wurden neun randomisierte klinische Studien mit 246 Teilnehmern. Die Schlafparameter waren nicht durch Befragungen, sondern mittels objektiver Methoden (Aktigrafie oder Polysomnografie, s. Kasten: Erfassung von Schlafparametern) ermittelt worden. Es fand sich eine signifikante Verlängerung der Einschlafzeit unter Methylphenidat, die in Zusammenhang mit der Applikationshäufigkeit stand, das heißt: Der negative Effekt war umso größer, je mehr Dosen am Tag verabreicht wurden.

Bezüglich der Erholsamkeit der Nachtruhe (Schlafeffizienz) zeigte sich ebenfalls ein signifikanter negativer Effekt einer Stimulanzien-Therapie. Interessanterweise nahm die Wirkstärke ab, wenn die Medikation über längere Zeit eingenommen wurde.

Stimulanzien verkürzten in den betrachteten Studien außerdem die Gesamtschlafdauer signifikant.


Erfassung von Schlafparametern

Aktigrafie:

Bei dieser Methode trägt der Patient ein Gerät am Handgelenk, das seine Bewegungen aufzeichnet. Mithilfe spezieller Algorithmen lassen sich aus diesen Daten Schlafparameter abschätzen. Vorteil dieser Methode ist, dass der Patient die Untersuchung zu Hause durchführen kann.

Polysomnografie:

Nach wie vor gilt diese Methode als Goldstandard der Schlafbeurteilung. Sie wird in einem Schlaflabor durchgeführt. Während der Nacht werden drei Parameter kontinuierlich aufgezeichnet: eine Elektroenzephalografie (EEG) misst die Hirnströme, eine Elek­trookulografie die Augenbewegungen und eine Oberflächen-Elektromyografie die Erschlaffung der Muskulatur, die während bestimmter Schlafphasen eintritt. Somit liefert diese Methode zusätzliche Informationen über die Schlafphasen, hat aber den Nachteil, dass die Daten nicht in der gewohnten Umgebung des Patienten erhoben werden.

Quelle: Martin JL. Wrist Actigraphy. CHEST J. 2011;139:1514

Armon C et al. Polysomnography. Medscape Reference: reference.medscape.com, aktualisiert am 2. Mai 2014

Fazit: Stimulanzien können die Einschlafzeit verlängern sowie die Erholsamkeit und die Dauer des Schlafs verringern. Daher sollten Kinderärzte Schlafprobleme sorgfältig überwachen und die Behandlung entsprechend anpassen, um eine erholsame Nachtruhe zu ermöglichen.

Studie mit Erwachsenen

Ein großer Teil der Jugendlichen mit ADHS nimmt die Störung mit ins Erwachsenenalter. Die Symptome verändern sich mit zunehmendem Alter. So kann sich beispielsweise die offensichtliche Hyperaktivität und Impulsivität in eine innere Unruhe wandeln. Während für die ADHS-Prävalenz im Kindes- und Jugendalter recht verlässliche Daten vorliegen (zwischen 3 und 7%), ist diese bei Erwachsenen weniger gut belegt (Angaben von 2 bis ca. 5%). Für erwachsene ADHS-Patienten sind in Deutschland Methylphenidat und Atomoxetin zugelassen.

Zwischen 2007 und 2013 war an sieben deutschen Standorten (darunter die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg) eine prospektive Studie mit 433 ADHS-Patienten zwischen 18 und 58 Jahren durchgeführt worden. Es handelt sich nach eigenen Angaben um die weltweit größte ADHS-Studie mit Erwachsenen. Die Patienten erhielten eine ADHS-spezifische Gruppenpsychotherapie oder Nicht-ADHS-spezifische Einzelgespräche, jeweils in Kombination mit Methylphenidat oder Placebo. Die Hypothese war, dass die Gruppentherapie effektiver ist als die Einzelgesprächstherapie.

Die Patienten wurden wie folgt auf vier Gruppen randomisiert (insgesamt 419 auswertbare Datensätze):

  • Gruppentherapie + Methylphenidat
  • Gruppentherapie + Placebo
  • Einzelgespräche + Methylphenidat
  • Einzelgespräche + Placebo


Therapieoptionen für ADHS

Als Mittel der ersten Wahl steht das amphetaminartige Methylphenidat zur Verfügung. Darüber hinaus können der selektive Hemmer des präsynaptischen Noradrenalin-Transporters (SNRI) Atomoxetin, die Amphetaminderivate Dexamphetamin und Lisdexamphetamin sowie der α2-Agonist Guanfacin eingesetzt werden.

Die Diagnose muss auf einer vollständigen Anamnese und Untersuchung des Patienten basieren. Eine Medikation ist im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts indiziert, wenn sich andere Maßnahmen allein als unzureichend erwiesen haben. Die Gesamtstrategie umfasst sowohl psychologische, pädagogische, soziale und pharmakotherapeutische Maßnahmen.

Zum Weiterlesen:

DAZ 2014, Nr. 25, S. 44: POP-Fall ADHS

DAZ 2013, Nr. 16, S. 54: Aktuelle Therapieoptionen für ADHS

Die Einzel- bzw. Gruppensitzungen wurden in den ersten drei Behandlungsmonaten wöchentlich, anschließend bis zu einem Jahr monatlich durchgeführt. Methylphenidat bzw. Placebo wurde ein Jahr lang verabreicht.

Primärer Endpunkt war die Veränderung im Conners Adult ADHD Rating Scale (CAARS), einem gebräuchlichen Fragebogen zur Evaluation der ADHS bei Erwachsenen, innerhalb der ersten drei Monate.

Der anfängliche Wert von 20,6 konnte bei den Patienten mit ausschließlich Gruppentherapie oder Einzelgesprächen mit Werten von 17,6 bzw. 16,5 nicht signifikant gesenkt werden.

Beim Vergleich der Gruppen mit und ohne Methylphenidat-Therapie, war Methylphenidat dem Placebo signifikant überlegen: Der CAARS-Wert wurde jeweils um 1,7 gesenkt (95%‑KI bei den Patienten mit Gruppentherapie -3,2 bis -0,1; 95%‑KI bei den Patienten mit Einzelgesprächen -3,3 bis -0,2).

Damit konnte gezeigt werden, dass psychologische Interventionen zu einem besseren Ergebnis führen, wenn sie mit Methylphenidat kombiniert werden. Die Hypothese eines Vorteils der Gruppentherapie gegenüber Einzelgesprächen wurde widerlegt. |

Quellen

Kidwell KM et al. Stimulant medications and sleep for youth with ADHD: A Meta-analysis. Pediatrics 2015; 136(6): 1144-53

Philipsen A et al. Effects of Group Psychotherapy, Individual Counseling, Methylphenidate, and Placebo in the Treatment of Adult Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder. JAMA Psychiatry 2015; 72(12): 1199-1210

Storebø OJ et al. Methylphenidate for children and adolescents with attention deficit hyperactivity disorder (ADHD). Cochrane ­Database of Systematic Reviews 2015; 11:CD009885; www.thecochranelibrary.com

ADHS bei Erwachsenen: Psychologische Behandlungen sind einer medikamentösen Therapie unterlegen. Pressemitteilung des Universitätsklinikums Freiburg vom 17.12.2015; www.uniklinik-freiburg.de

Bruhn C. Auch Erwachsene haben ADHS. Dtsch Apoth Ztg 2014; 154(13): 39

Fachinformation Ritalin® 10 mg Tabletten, Stand Oktober 2014

Interview mit OJ Storebø: Cochrane Analysis Reviews Studies of Ritalin For ADHD; ­medicalresearch.com, 26.11.2015

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

1 Kommentar

Schlafprobleme unter Methylphenidat

von Erwachsener ADHSler am 15.02.2019 um 19:46 Uhr

Ich bin selbst ein Betroffener. Erst mit 30 wurde ADHS bei mir diagnostiziert, zusammen mit Depressionen und Schlafstörungen. Nachdem ich erstmal Atomoxetin bekam, was außer Nebenwirkungen wie Schwindel, Schwitzen, Erektionsproblemen, Orgasmusstörungen und noch schlimmeren Schlafstörungen nichts brachte, wurde ich auf Buprobion umgestellt. Die Symptombekämpfung war besser, die Nebenwirkungen geringer, die schlimmen Schlafprobleme blieben.

Also wurde ich auf retardiertes Methylphenidat umgestellt, was sehr gut gegen, ich nenne es mal "psychotische innere Unruhezustände mit negativen Gefühlen, in der man keinen klaren Gedanken halten kann" hilft. Ansonsten gab es keine Nebenwirkungen, außer dass die Schlafprobleme zu einer, "ausgeprägten Insomnie" wurden. So schlimm, dass ich nach zahllosen Tagen ohne Schlaf Halluzination bekam (flackerndes Tageslicht, laute knallgeräusche im Ohr). Was zum Schlafen hilft: Nochmal Methylphenidat in niedriger Dosis vor dem Schlafen einnehmen. Die Schlafqualität ist dennoch nicht so gut, bin morgens oft "gerädert".

Woher weiß was guter Schlaf ist? Ich habe im Alter von 24-29 täglich ~1g Cannabis geraucht. Ich hatte keine Depressionen, keine Schlafprobleme, keine der o.g. Nebenwirkungen. Ich hörte dem Cannabis Konsum aus finanziellen Gründen und Angst um meinen Führerschein / wegen der Kriminalisierung auf. Ich bereue es heute, 6 Jahre später, immer noch und habe vor kurzem mehrer Ärzte darauf angesprochen.

Unglaublich, was man da zu hören kriegt. Man verliert den Glauben, dass diese Menschen studiert haben, kompetent und objektiv sind. Ich lese viel im Internet von Leuten, die Multiple Sklerose, Insomnie, AD(H)S, Depressionen, Krebs oder sonst was schlimmes haben und keinen Arzt finden der Cannabis verschreibt, genau wie bei mir.

Warum? Gibt keine "qualitativ hochwertigen Studien"? Warum ist es dann verboten und auch unter Ärzten "verschrien", trotz der zahlreichen positiven Indizien? Schämen Sie sich! Ich wünsche allen Cannabis Gegnern, ADHS, Depressionen und ne ausgeprägte Insomnie. Dann sollen sie die Erfahrung machen, wie gut Cannabis hilft und dann sollen sie es weg genommen kriegen und Jahre lang leiden. Seien sie ruhig, glücklich und schlafen Sie gut... :)


» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.