Das EuGH-Urteil

„Böse Überraschung“

Die Reaktionen auf das EuGH-Urteil zur grenzüberschreitenden Preisbindung

Von Benjamin Wessinger | Erschüttert und entsetzt zeigen sich die Vertreter der Apothekerschaft nach dem EuGH-Urteil vom Mittwoch letzter Woche, mit dem sie wohl auch nicht so recht gerechnet hatten. Erfreut sind naturgemäß die ausländischen Versandapotheken, die noch am selben Tag Bonusmodelle (wieder-)einführten. Die Politik reagierte unterschiedlich: Das BMG will das Urteil erst einmal prüfen, die SPD möchte die Vergütungssystematik der Apotheker reformieren, Linke und Union fordern ein Rx-Versandverbot – und Bayern hat eine Bundesratsinitiative angekündigt.

Kurz nach Bekanntwerden des EuGH-Urteils am Mittwoch, den 19. Oktober 2016 gegen 9.40 Uhr, reagierte die ABDA in einer Pressemeldung mit harscher Kritik an den Europarichtern: Die Entscheidung gefährde die nationalen Gesundheitssysteme, weil sie die langjährige Rechtsprechung des EuGH ausheble, der den Mitgliedstaaten hier weiten Wertungsspielraum eingeräumt hatte. Nun sei der deutsche Gesetzgeber gefordert, der schon aus Eigeninteresse seinen Handlungsspielraum wieder herstellen müsse. Immerhin widerspreche die Entscheidung dem erklärten Willen des deutschen Gesetz­gebers und der höchsten deutschen Gerichte.

Später legt ABDA-Präsident Friedemann Schmidt gegenüber DAZ.online nach: Das Urteil missachte, dass das deutsche Gesundheitswesen durchgängig auf einheitlichen Preisen basiere, genauso wie viele Steuerungsinstrumente. Das Urteil bezeichnete Schmidt als „böse Überraschung“, die Begründung lasse ganze Argumentationskomplexe vermissen.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) interviewt Schmidt in ihrer Ausgabe vom 21. Oktober. Die Apotheker fühlten sich von der Entscheidung „maximal provoziert“, so Schmidt, insbesondere durch die Geringschätzung ihrer pharmazeutischen Tätigkeit, die aus ihr spreche. „Es kann doch wohl nicht sein, dass ungezügelte Marktkräfte über den Verbraucherschutz im Gesundheitswesen triumphieren. Wenn in Zukunft auch bei den verschreibungspflichtigen Arzneimitteln der Wettbewerb über den Preis laufen soll, wird das manche Apotheke nicht überleben.“ Solche Entscheidungen, die in Politikfelder eingreifen, die den Mitgliedstaaten vorbehalten seien, nährten eine europakritische Stimmung, die man nicht brauche.

„Es kann doch wohl nicht sein, dass ungezügelte Marktkräfte über den Verbraucherschutz im Gesundheitswesen triumphieren.“

Friedemann Schmidt, ABDA

Die Lösung: Ein Rx-Versandverbot

Die „Lösung“ liegt für die ABDA jedenfalls auf der Hand: Ein Verbot des ungeliebten Versandhandels, zumindest mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln. Es gelte, die Arzneimittelversorgung „dem Zugriff der Europäischen Kommission zu entziehen“ und die „Tür für Rosinenpicker wieder zu schließen“, sagte Schmidt noch am Mittwoch gegenüber DAZ.online.

Für ein Versandverbot könnte sich laut ABDA das Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz AMVSG anbieten. Der Entwurf, der auch eine leichte Honorarerhöhung für die Apotheker bei der Rezepturherstellung und bestimmten Dokumentationen enthält, wurde in der vorvergangenen Woche im Bundeskabinett verabschiedet. Doch das nun beginnende parlamentarische Verfahren bietet noch Möglichkeiten für Änderungen.

Jedenfalls will die ABDA nun gegen die Wettbewerbsverzerrung kämpfen und dabei „aus allen Rohren schießen“, so Schmidt zur FAZ. „Dieser destruktive Eingriff in die Rechtsordnung, in ein funktionierendes Gesundheitswesen muss geheilt werden.“

Die Argumente der ABDA

Die ABDA hat ihre Argumente zum EuGH-Urteil und für ein Versandverbot zusammengefasst. Um das Papier im Wortlaut lesen zu können, geben Sie bitte den Webcode F6GZ6 auf DAZ.online (www.deutsche-apotheker-zeitung.de) in das Suchfeld oben rechts auf der Seite ein.

Reaktionen der Kammern und Verbände

Auch die Landesapothekerkammern und –verbände reagieren schnell auf das EuGH-Urteil. Teilweise nutzen sie dafür die ABDA-Pressemitteilung, andere Mitgliedsorganisationen verschicken eigene Texte. Mehrere Medien interviewen Apothekervertreter. So kommt Baden-Württembergs gerade wiedergewählter Kammerpräsident Hanke in der „Stuttgarter Zeitung“ und in den „Stuttgarter Nachrichten“ ausführlich zu Wort und begrüßt die Idee eines Versandverbots. Er weist aber auch darauf hin, dass die Preisbindung für deutsche Apotheken weiterhin gilt. Auf diesen Umstand hebt auch die Bayerische Landesapothekerkammer ab, die eine Argumentationshilfe für ihre Mitglieder veröffentlicht, wie diese mit Kundenwünschen nach Preisnachlässen umgehen sollen. Die Kammer Hessen weist ihre Mitglieder unmissverständlich darauf hin, dass sie Brüche der Preisbindung nicht akzeptieren und mit „mit allen juristischen Mitteln des Verwaltungsrechts, des Berufsrechts und des Wettbewerbsrechts“ gegen Apotheken vorgehen werde, die sich „illegale Wettbewerbsvorteile“ verschaffen wollten.

Zurückhaltung bei der GKV

Die Krankenkassen, die nach Einführung des Versandhandels diesen teils sehr aktiv unterstützt hatten, reagierten relativ zurückhaltend auf das Urteil. Einzelne Kassen hielten sich ganz zurück, der GKV-Spitzenverband möchte den Ausgang des Verfahrens vor dem OLG Düsseldorf abwarten, das zu dem EuGH-Entscheid geführt hat. „Nach den juristischen Entscheidungen beim EuGH und OLG wird der Ball beim Gesetzgeber liegen. Er muss dann beurteilen, ob und wie er reagiert, um ein Gleichgewicht zwischen Wettbewerb und Patientenschutz zu finden. Erst wenn feststeht, was der Gesetzgeber unternimmt, wird man einschätzen können, wie der Markt darauf reagiert und welche Auswirkungen es für den Verbraucher geben wird.“

„Wenn wir nicht gegensteuern, könnte die wohnortnahe Versorgung durch Apotheken ­gefährdet sein (...) Die Beratung muss in den Vordergrund der Apothekenvergütung rücken, nicht der Verkauf.“

Karl Lauterbach, SPD

Unterstützung für die Apotheker

Auch das Bundesgesundheitsministerium will das Urteil „sorgfältig auswerten und die Urteilsbegründung auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das deutsche Arzneimittelpreisrecht prüfen.“ Gesundheitsminister Gröhe (CDU) sagte, er sei fest entschlossen, „das Notwendige und das uns Mögliche zu tun, damit die flächendeckende Arzneimittelversorgung auf hohem Niveau durch ortsnahe Apotheken weiterhin gesichert bleibt“. Für die Menschen seien „Qualität und Sicherheit in der Arzneimittelversorgung unabdingbar mit einem flächendeckenden Netz wohnortnaher Apotheken verbunden. Der Versandhandel kann die wohnortnahe Versorgung durch Präsenzapotheken nicht ersetzen“. Deshalb gelte es, die bewährten Strukturen, zu denen auch die inhabergeführte Apotheke gehört, zu erhalten. Bei ihr stehe die pharmazeutische Tätigkeit eindeutig stärker im Fokus, die unmittelbare persönliche Verantwortung der freiberuflich tätigen Apothekerinnen und Apotheker sei ein Garant dafür, dass sich „die Menschen vor Ort kompetent sowie vertrauensvoll beraten und versorgt fühlen“.

Unterstützung für ein Rx-Versandverbot haben mehrere CDU-Gesundheitspolitiker signalisiert. Michael Hennrich sagte kurz nach der Urteilsverkündung, ein solches Verbot sei „ein erstes Signal“. Das löse zwar auch nur einen Teil des Problems, „aber es wäre wichtig, sich jetzt hinter die Apotheker zu stellen“. Für die gesundheitspolitische Sprecherin der Union, Maria Michalk, wäre das Verbot eine „überlegenswerte“ Variante. Die Linke betonte, dass sie schon lange ein Versandverbot für Rx-Arzneimittel fordere, das vom EuGH 2003 ausdrücklich als europarechtskonform bezeichnet worden sei. Die Linken-Gesundheitssprecherin Kathrin Vogler wiederholte diese Forderung: „Jetzt muss die Bundesregierung handeln und möglichst schnell den Versandhandel für rezeptpflichtige Arzneimittel verbieten.“

Den Worten schnell Taten folgen lassen will Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU). Sie hat noch am Freitag eine Bundesratsinitiative Bayerns angekündigt, den Rx-Versand in Deutschland zu verbieten. Hessen und Nordrhein-Westfalen haben bereits erklärt, die bayerische Initiative zu unterstützen.

… aber nicht für ein Versandverbot

Ihre Unterstützung für die Apotheker betonen auch SPD und Grüne, ein Versandverbot wollen sie allerdings nicht fordern. Die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, Cordula Schulz-Asche, sieht die Regierung in der Pflicht. Diese müsse umgehend ihren Plan B auf den Tisch legen, wie sie „auch in Zukunft eine qualitativ hochwertige und bezahlbare Versorgung der Patienten mit Arzneimitteln“ sicherstellen wolle. Auch die SPD äußert sich nicht pro Versandverbot. Ihr Fraktionsvize und Gesundheitsexperte Karl Lauterbach überlegt, „die Beratungsleistung der Apotheker in Deutschland besser zu vergüten“. In Richtung „differenzierter Vergütung“ denkt auch die SPD-Abgeordnete Sabine Dittmar. „Es sollte eben nicht nur von der Abgabe von Packungen abhängig sein, sondern auch von Beratung und Präsenz“, sagte sie.

DocMorris & Co. jubeln

„Es ist ein großer Tag für Patienten und Verbraucher in Europa – und für DocMorris“, jubelte deren Vorstandsvor­sitzender Olaf Heinrich nach dem Urteil. Man werde nun wieder Boni anbieten, kündigt die niederländische Versandapotheke an und verspricht per Pressemitteilung: „Chronisch kranke Menschen mit einem hohen und regelmäßigen Medikamentenbedarf werden so jährlich um mehrere hundert Euro entlastet. Der Patient spart, das Gesundheitssystem wird nicht belastet.“ Der DocMorris-Chefapotheker Christian Franken geht in der ZDF-Nachrichtensendung „heute“ noch weiter und verspricht den Patienten, sie könnten nun „bei DocMorris auf Rezept Geld sparen“.

Konkret bietet DocMorris seit dem 19. Oktober einen Bonus von mindestens 2 Euro pro verordnetem Arzneimittel, maximal 12 Euro pro Rezept. Nach Aussagen des DocMorris-Chefstrategen Max Müller werden diese gutgeschrieben und können mit der Zuzahlung oder anderen Einkäufen verrechnet werden. Zuzahlungsbefreite Kunden könnten sich die Boni bei Erreichen bestimmter Summen auch auszahlen lassen.

Die ebenfalls in Holland ansässige DocMorris-Wettbewerberin Europa Apotheek Venlo (EAV) bietet sogar Boni bis 10 Euro pro Arzneimittel also 30 Euro pro Rezept. Zum Urteil hat man sich bei der EAV dagegen bisher nicht geäußert.

… die deutschen Versender nicht unbedingt

Während in Holland gejubelt wird, sind die deutschen Versandapotheken „nicht glücklich“ mit dem Urteil, wie der Vorsitzende ihres Verbands BVDVA, Christian Buse, gegenüber DAZ.online erklärte. Denn dass die deutschen Versandapotheken weiterhin an die Preisbindung der AMPreisV gebunden sind, ist für ihn eine „nicht hinnehmbare Wettbewerbsverzerrung“. Statt eines Versandverbots – das Buse für verfassungs- wie europarechtswidrig hält – fordert er eine „Neugestaltung der AMPreisV“. Sein konkreter Vorschlag: Statt der heutigen fixen soll es zukünftig Höchtspreise geben. Buse: „Dann kann jede Apotheke selbst entscheiden, ob sie von diesem Preis nach unten abweicht in Form eines Bonus oder nicht“.

Verbraucherschützer warnen

Anders als viele Wirtschaftsjournalisten, die von einem Preiswettbewerb Vorteile für die Patienten erwarten, warnen Verbraucherschützer vor unliebsamen Folgen des EuGH-Urteils: Eine zunehmende Popularität des Arzneimittelversands könnte das Problem von Fälschungen verschärfen, fürchten sie. „Wir erwarten, dass sich zukünftig das Problem noch verschärfen wird“, erklärt beispielsweise die Verbraucherzentrale Niedersachsen gegenüber DAZ.online. Sie geht von einer hohen Dunkelziffer bei gefälschten Arzneimitteln aus dem Internet aus, da es sich oft um „sensible Ware“ wie Antidepressiva oder Schlankheitsmittel handle, über deren Einkauf man ungern rede. Auch das Landeskriminalamt Niedersachsen warnt – und fordert eine schnelle und konsequente Rechtsverfolgung bei Online-Betrug.

Was geschieht nun?

Wie es nun weitergeht, lässt sich im Moment nur schwer abschätzen. Vorerst ist der Zustand von vor der Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Bundesgerichte wiederhergestellt: Ausländische Versandapotheken gewähren beim Versand von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln nach Deutschland Preisnachlässe, die den deutschen Apotheken verwehrt sind. Inwieweit dies zu Verschiebungen der Marktanteile führt, wird man beobachten müssen. Bei den nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln und Apothekenprodukten haben die Versandapotheken seit 2004 durch eine teilweise aggressive Preisstrategie Marktanteile von etwa 15 Prozent erreichen können.

Nicht abzusehen ist bisher auch, wie die deutschen Apotheker auf die „Inländerdiskriminierung“ reagieren werden. Werden einzelne (Versand-)Apotheken nun ebenfalls Boni gewähren und den Streit gegebenenfalls durch die Instanzen treiben? Werden Modelle wie „Vorteil24“ (bei dem die Arzneimittel mit Nachlass aus dem Ausland bestellt, aber in deutschen Apotheken mit Beratung abgegeben wurden) ­wieder aufleben?

„Die Vorstellung, dass gerade die Rezeptur ein wirksamer Wettbewerbsvorteil für die ‚traditionellen‘ deutschen Apotheken gegenüber holländischen Versendern mit ihren Preisnachlässen sein soll, kann auch nur aus der weiten räum­lichen wie inhaltlichen Distanz der Richter in Luxemburg stammen.“

Barbara Neusetzer, Adexa

Dazu kommt die Gefahr, dass sich die Protagonisten einer Systemveränderung und „Liberalisierung“ durch das Urteil ermuntert fühlen könnten, weitere Attacken auf die – zum Schutz der Patienten, nicht der Apotheker erlassenen! - Regulierungen des deutschen Apothekenmarktes zu reiten.

Auch um solche Angriffe im Keim zu ersticken, die das heutige bewährte System und die flächendeckende Arzneimittelversorgung in akute Gefahr bringen würden, ist die Reaktion der Politik entscheidend. Die Bedeutung des Urteils scheint den Akteuren in Berlin klar zu sein. Entscheidend wird nun sein, welche Konsequenzen sie daraus ziehen. |


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