Ausbildung

Apotheker sollen Ärzte entlasten

Schweizer Gesundheitspolitiker fordern erweiterte Kompetenzen für Apotheker

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Von Helga Blasius | Nach dem Willen ihrer Gesundheitspolitiker sollen die Schweizer Apotheker sich in Zukunft erheblich stärker als bisher in die Grundversorgung einbringen. Unter anderem sollen sie die Ärzte durch die eigenständige Abgabe bestimmter rezeptpflichtiger Arzneimittel entlasten und eine größere Rolle bei der Vernetzung im Gesundheitswesen spielen. Die hierfür notwendigen rechtlichen Voraussetzungen sind bereits ­geschaffen. Nun geht es an die praktische Umsetzung. Näheres dazu ist aus einem Bericht des Schweizer Bundesrates zu erfahren.

Im November 2012 beauftragte die christlichdemokratische Nationalrätin Ruth Humbel den Schweizer Bundesrat über ein „Postulat“ damit, zu untersuchen, welche Aufgaben Apotheken im Gesundheitswesen wahrnehmen können, wie ihr Tätigkeitsgebiet zur Sicherung der Grundversorgung ausgebaut werden kann und welche Auswirkungen eine Neupositionierung der Apotheken auf die Aus- und Weiterbildung sowie auf allfällige Vergütungsmodelle hat. Mitte Oktober 2016 hat der Bundesrat seinen Bericht zu dem Postulat vorgelegt.

Zwei Hauptziele definiert

Hierin wird bekräftigt, dass den Apothekern, besonders in Anbetracht der Zunahme von Personen mit chronischen Erkrankungen und des fehlenden Nachwuchses bei den Hausärzten, eine wichtige Rolle in der medizinischen Grundversorgung zukommt. Der Bundesrat sieht diese Rolle primär in zwei Bereichen, und zwar in der:

  • Nutzung der Apotheken als niederschwelligen Zugang zum Gesundheitssystem und der
  • verstärkten Nutzung der pharmazeutischen Kompetenz der Apotheker zur Qualitätssteigerung in der Arzneimitteltherapie.

Die rechtlichen Pflöcke für die neue Positionierung wurden mit der Revision des schweizerischen Heilmittelgesetzes (HMG) und des Medizinalberufegesetzes (MedBG) zwischenzeitlich bereits eingeschlagen. Die neuen Ausbildungsziele für Apothekerinnen und Apotheker gemäß revidiertem MedBG sind per 1. Januar 2016 in Kraft getreten.

Abgabe von Rx-Arzneimitteln ohne Rezept

Was ist hiernach konkret vorgesehen? Im Fokus des niederschwelligen Zugangs zur Gesundheitsversorgung steht die rasche Behandlung leichter Erkrankungen durch die Apotheker ohne Hausarzt. In Zukunft sollen die Apotheker hierbei auch gewisse verschreibungspflichtige Arzneimittel ohne Vorliegen eines ärztlichen Rezepts abgeben dürfen. Dabei wird an Arzneimittel gedacht, die seit ausreichend langer Zeit bekannt sind und deren Verwendung umfassend dokumentiert ist (z. B. Arzneimittel zur Behandlung von Harnwegsinfektionen), Arzneimittel zur Prävention wie Impfstoffe oder auch Arzneimittel, die auf ärztliche Erstverschreibung hin bei chronischen Krankheiten verwendet werden (Weiterführen einer bestehenden Therapie). Die Liste der Indikationen, für die die Apotheker verschreibungspflichtige Arzneimittel ohne ärztliches Rezept abgeben dürfen, soll durch eine Fachkommission aus Vertretern der Ärzte- und der Apothekerschaft erstellt werden. Die Anhörung (Vernehmlassung) zu den hierfür notwendigen Ausführungsbestimmungen soll im Frühjahr 2017 eröffnet werden.

Alle Apotheker müssen impfen lernen

Im Bereich Impfen haben die Apotheker den Einstieg bereits geschafft. In einer Reihe von Kantonen dürfen sie schon jetzt auch ohne Rezept eigenständig bestimmte Impfungen durchführen, wenn sie hierzu eine spezielle Befähigung mit dem Titel „Impfen und Blutentnahme“ besitzen und der Kanton die Erlaubnis erteilt hat. In Zukunft müssen alle Schweizer Apotheker die Kompetenzen für gewisse Impfungen bereits während der Ausbildung erwerben. Siehe dazu auch DAZ 2016, Nr. 41, S. 20.

Mehr Aufgaben im Bereich Prävention

Außerdem sollen die Apotheker zur Verbesserung des niederschwelligen Zugangs zum Gesundheitswesen weitere Funktionen als Beobachtungs-, Beratungs- und Koordinationsstelle im Präventionsbereich übernehmen. Hier wird ­unter anderem an die Früherkennung und Begleitung von Demenzerkrankungen im Rahmen der Nationalen Demenzstrategie der Schweiz oder auch die Begleitung von Sucht­patienten gedacht.

Projekte zur interdisziplinären Zusammenarbeit

Bezüglich der verstärkten Nutzung der pharmazeutischen Kompetenz zur Qualitätssteigerung in der Arzneimitteltherapie beschreibt der Bericht mehrere Optionen. Ein Fokus liegt auf der Ausweitung der interdisziplinären Zusammenarbeit. Zwar gibt es in der Schweiz schon verschiedene Ansätze von patientenzentrierten Kooperationsmodellen von Apothekern mit anderen Medizinal- und/oder Gesundheitsfachpersonen, diese sind aber je nach Kanton sehr unterschiedlich und konnten sich bisher noch nicht breiter etablieren. Als erfolgsversprechend werden in dem Bericht die folgenden (Pilot-)Projekte angeführt:

  • SISCare-Programme zur Förderung der Adhärenz bei chronisch kranken Patienten. Das Konzept wurde bereits im Rahmen onkologischer und HIV-Therapien erprobt und hat dort sehr gute Resultate erzielt.
  • Spezialisierte Apotheken medinform. Ziel ist die optimierte Versorgung durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Apothekern, Spezialisten und Hausärzten in einem lokalen Netzwerk, inklusive der Schulung des Apothekenpersonals. Das Konzept hat sich mit den medinform Haut- und Atemwegsapotheken in der Deutschschweiz bereits etabliert und wird derzeit auf spezialisierte Kinderapotheken ausgeweitet.
  • Pilotprojekte zur Optimierung des Medikationsprozesses bei der Spitex (ambulante Pflege) Luzern zur Vermeidung von Medikationsfehlern bei Patienten, die von der Spitex nach einem Spitalaustritt betreut werden.
  • Interdisziplinäre Betreuung von Suchtpatienten, u. a. in dem Westschweizer Netzwerk COROMA (Collège romand de Médecine de l’Addiction).

Der Bundesrat will nun zunächst damit beginnen, zwei Pilotprojekte wissenschaftlich zu begleiten und gründlich zu evaluieren. Das eine bezieht sich auf die Kinderapotheken medinform und das zweite auf ein SISCare-Programm zur Förderung der Therapietreue bei Typ 2-Diabetikern. Die Auswertung der Ergebnisse soll 2018 vorliegen.

Qualitätszirkel in acht Kantonen

Eine große Bedeutung unter den interprofessionellen Modellen wird den Qualitätszirkeln von Ärzten und Apothekern beigemessen. Nach dem Bericht gibt es im ambulanten Bereich derzeit in acht Kantonen insgesamt gut 65 Qualitätszirkel (Stand 2014). Auch im stationären Bereich, das heißt in der pharmazeutischen Betreuung in Pflegeheimen, wurden in drei Kantonen bereits die ersten Schritte damit gemacht.

netCare funktioniert gut

Ein weiteres Gemeinschaftsprojekt von Ärzten und Apothekern ist das Projekt netCare des Schweizerischen Apothekerverbandes pharmaSuisse. Hierbei nehmen speziell weitergebildete Apotheker anhand von Ablaufdiagrammen (Algorithmen) eine Erstabklärung (Triage) gesundheitlicher Beschwerden vor. Bei Bedarf wird ein Arzt per Telefon oder Videokonferenz zu Rate gezogen. Nach der Konsultation kann der Arzt bei Bedarf rezeptpflichtige Medikamente verschreiben. Eine Pilotphase von netCare zwischen April 2012 und Juni 2014 mit 200 beteiligten Apotheken wurde erfolgreich abgeschlossen. Rund 6300 Patienten hatten das Angebot genutzt. Knapp drei Viertel der Fälle konnten die Apotheker selbstständig lösen, bei einem Fünftel wurde ein Telemediziner hinzugezogen. Nur sieben Prozent mussten an einen Arzt oder ins Spital überwiesen werden. Seit 2015 steht netCare allen Apotheken offen und soll damit einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden.

Selbstdispensierrecht als Bremsklotz

Sowohl die erweiterten Abgabekompetenzen als auch die Qualitätszirkel und das Projekt netCare stoßen bei der schweizerischen Ärzteschaft nicht unbedingt auf Gegenliebe. Warum das so ist, liegt eigentlich auf der Hand. Der wesentlichste Hindernisfaktor ist das Selbstdispensier(SD)-Recht der Ärzte. 2013 gab es in der Schweiz über 5900 praktizierende Ärzte mit einer Patientenapotheke. Über diesen Absatzkanal wurde im Jahr 2014 wertmäßig insgesamt fast ein Viertel aller Arzneimittel verkauft. Dies führt zu einer erheblichen Konkurrenzsituation in der medizinischen Grundversorgung und hemmt vor allem die Ausweitung der Qualitätszirkel. Dazu passt, dass diese bislang vor allem in Kantonen mit Rezeptursystem verbreitet sind. Eine Verpflichtung zur Teilnahme an ambulanten Qualitätszirkeln hält der Bundesrat jedoch nicht für zielführend. Sie könnte seiner Einschätzung nach sogar eher kontraproduktiv sein, weil die Ärzte sich damit noch mehr verweigern könnten.

Auf jeden Fall ein Rezept

Eine Einschränkung des Selbstdispensierrechts ist aber nach den Erfahrungen des Bundesrates ebenso wenig umsetzbar. Ein entsprechender Versuch im Rahmen der Revi­sion des Heilmittelgesetzes (HMG) war an dem massiven Widerstand in verschiedenen Stellungnahmen gescheitert. Immerhin dürfen die Patienten nach der HMG-Revision nun auch von einem SD-Arzt ein Rezept verlangen und das Arzneimittel anschließend über die Apotheke beziehen. Damit wird sichergestellt, dass sie jederzeit die Wahlfreiheit haben, bei welchem Leistungserbringer sie ihre Arzneimittel beziehen wollen.

Apotheker als hochgeschätzte Gesundheitsprofis

In der Bevölkerung scheint der Boden für die erweiterte Rolle der Apotheker in der Grundversorgung jedenfalls bereitet zu sein. Nach dem Apothekenmonitor 2016 im Auftrag von pharmaSuisse sind die Schweizer Apotheker in den Augen der Bevölkerung hochgeschätzte Gesundheitsprofis, die hohes Vertrauen genießen. Das breite Dienstleistungsportfolio der Apotheken ist in den Köpfen gut verankert. Erstmals ist nach der Umfrage 2016 der Gang in die Apotheke bei leichten Gesundheitsstörungen für einen größeren Bevölkerungsanteil naheliegender als der Besuch beim Arzt. Auch die Lockerung der Rezeptpflicht, die das Kompetenzgerangel zwischen Apotheken und der Ärzteschaft weiter befeuert hat, wird von der Bevölkerung aktiv wahrgenommen und beeinflusst das Urteil über Apotheken eher positiv.

Vergütung muss angepasst werden

Nach dem Bericht des Bundesrates wird eine angemessene Vergütung der Leistungen als wichtiger Erfolgsfaktor für die Stärkung der Rolle der Apotheker in der Grundversorgung angesehen. Bis Ende 2018 wollen die Tarifpartner ohnehin ein neues Abgeltungsmodell entwickeln, das die Vertriebsleistungen der Apothekenbetriebe und die patientenorientierten Leistungen des Fachpersonals besser abgrenzt und sachgerecht abgilt. Außerdem sollen die Fachleistungen durch klar definierte Zeit- und Leistungstarife ergänzt werden. Wegen der erweiterten Kompetenzen soll dann auch ein zusätzliches Tarifbudget für neue, bisher nicht erbrachte Apothekerleistungen wie das Impfen definiert werden. |

Quelle

Schweizerische Eidgenossenschaft. Positionierung der Apotheken in der Grundversorgung. Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Humbel (12.3864) vom 27. September 2012. Bern, 12. Oktober 2016. https://www.parlament.ch/centers/eparl/curia/2012/20123864/Bericht%20BR%20D.pdf

Autor

Dr. Helga Blasius ist Fach­apothekerin für Arzneimittelinformation, Dipl.-Übersetzerin (Japanisch, Koreanisch) und regelmäßige ­Autorin in der DAZ.

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