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Hormonelle Kontrazeption

Schöne Gefahr?

Gestagene der 3. und 4. Generation und ihr Thromboembolierisiko

 „Die Pille der Unvernunft“ titelte die „Zeit“ im November 2015 und meinte damit die Antibabypillen der dritten und vierten Generation, die im Verdacht stehen, häufiger Thromboembolien auszulösen als die Pillen der zweiten Generation. Ist der Verdacht substanziell? Sollte von der 3. und 4. Generation abgeraten werden – wo sich doch die Anwenderinnen freuen, dass diese Präparate nicht nur eine Schwangerschaft verhüten, sondern auch noch schöner und nicht dicker machen? | Von Dorothee Dartsch

In Deutschland nehmen knapp 7 Millionen Frauen hormonelle Kontrazeptiva [1]. Sie möchten eine sichere Empfängnisverhütung ohne unerwünschte Wirkungen. Da es 100%ig sichere Arzneimittel nicht geben kann, muss diese Forderung in etwas abgewandelter Form gestellt werden: Das Risiko für Therapieversagen und Nebenwirkungen insgesamt muss „sehr gering“ sein, schwerwiegende Nebenwirkungen sollten „extrem selten“ auftreten. Welches Risiko eine Anwenderin bereit ist zu tragen, ist eine individuelle Entscheidung. Wichtig ist, dass Arzt und Apotheker ihr helfen, die Risikomaßzahlen zu verstehen, damit die Entscheidung auf einer fundierten Basis getroffen werden kann.

Die klassische Form der Pille ist das Einphasenpräparat, d. h., dass alle 21 Tabletten eines Einnahmezyklus dieselbe Estrogen-Gestagen-Kombination enthalten. In der siebentägi­gen Placebo- oder Pillenpause findet eine Entzugsblutung statt (Schema: 21/7). Solche Einphasenpräparate können auch im Langzyklus (84/7) oder kontinuierlich (365/0) eingesetzt werden.

Das Bestreben, den physiologischen Zyklus nachzuahmen, führte zur Entwicklung von Zwei- und Dreiphasen­präparaten, in denen die Estrogen- und Gestagen-Gehalte an den einzelnen Einnahmetagen variieren. Auch hier ist ein hormonfreies Intervall mit Entzugsblutung vorgesehen.

Daneben gibt es die Minipille, die ausschließlich Gestagen enthält. Unerwünschte Wirkungen können vor allem zu Beginn in Form von Zwischenblutungen, erniedrigter Glucosetoleranz, Gewichtszunahme und androgenen Wirkungen (Seborrhö, Akne) auftreten. Bei längerfristiger Einnahme kann sich eine Hypertonie entwickeln.

Wie war das noch mit der hormonellen Verhütung?

Physiologie

Drei Hormondrüsen bilden die gonadotrope Achse, und zwar sezernieren

  • der Hypothalamus das Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnRH),
  • die Hypophyse die Gonadotropine (LH und FSH) und
  • die Gonaden (Ovarien bzw. Testes) die Sexualhormone, im weiblichen Organismus v. a. Estrogene und Progesteron. Sie unterstützen die Follikelreifung und bereiten den Uterus mit dem Endometrium auf eine Implantation und Schwangerschaft vor; während einer Schwangerschaft hemmen sie die Gonadotropinfreisetzung (s. Pharmakologie).

Chemie

Sexualhormone sind Steroide, die aus dem Cholesterol ent­stehen. Verschiedene Enzymsysteme vollziehen auf dem Weg zum Progesteron einen oxidativen Abbau der Seitenkette am C17, die Oxidation der OH-Gruppe am C3 und die Wanderung der Doppelbindung von C5-C6 im Ring B nach C4-C5 im Ring A. Auf dem Weg zum Estradiol wird die C17-Seitenkette komplett entfernt und durch eine OH-Gruppe ersetzt, die Methylgruppe am C10 abgespalten und der Ring A aromatisiert.

Technologie

Neben der am häufigsten verordneten oralen Anwendung gibt es hormonelle Kontrazeptiva in transdermalen Systemen, als Vaginalring, als Dreimonatsspritze, als Implantat und als Intrauterinsystem. Die nicht-oralen Wege sind ebenso sicher wie die oralen: Der Pearl-Index, also die Zahl der ungewollten Schwangerschaften im ersten Anwendungsjahr pro 100 Frauen, beträgt für alle Applikationsformen bei korrekter Anwendung etwa 0,3.

Pharmakologie

Die Steroidhormone binden sowohl an intrazelluläre als auch an membranständige Rezeptoren, die in der Folge die Expression von Zielgenen beeinflussen bzw. Signalkaskaden in Gang setzen. Orale Kontrazeptiva mit einer Kombination aus Estrogen und Gestagen hemmen die Gonadotropinfreisetzung. Hierdurch werden die Follikelreifung und die Ovulation unterdrückt. Zudem trägt die gestagenvermittelte Zunahme der Viskosität des Zervikalsekrets zur Empfängnisverhütung bei.

Klinische Pharmazie

Die kontrazeptive Wirksamkeit der Hormonpräparate ist sehr zuverlässig, vorausgesetzt, sie werden vorschriftsmäßig eingenommen. Jedoch vergessen ca. 50% der Frauen mindestens eine und fast 25% der Frauen zwei und mehr Tabletten pro Einnahmezyklus. Für Patientinnen, die eine vorschriftsmäßige Einnahme nicht gewährleisten können, sind z. B. ein Intrauterinpessar, ein Gestagenimplantat oder ein Depot-Gestagen sicherere Verhütungsmethoden. Bei Patientinnen mit Begleiterkrankungen sind Risiken und Kontraindikationen der Hormonpräparate sowie deren Interaktionen mit anderen Arzneimitteln zu beachten. Eine S3-Leitlinie zur Empfängnisverhütung wird derzeit erstellt und soll zum Ende dieses Jahres fertig sein. Sie soll Empfehlungen für eine gut verträgliche Verhütung in Abhängigkeit von den Lebensumständen und dem Risikoprofil der Anwenderin geben.

Diskussionsstoff: Thromboemboliegefahr

Hauptsächlich wegen des erhöhten Thromboembolierisikos sind orale Kontrazeptiva in der Diskussion. Dieses ist grundsätzlich sowohl durch Estrogene wie Gestagene bedingt, hängt also bei modernen Präparaten mit niedriger Estrogendosis (< 50 µg) vor allem vom Gestagen ab.

Um die Sicherheit und Verträglichkeit der oralen hormonellen Kontrazeptiva zu optimieren, wurden in den vergangenen rund 50 Jahren neue synthetische Estrogene und Gestagene entwickelt, Dosierungen reduziert und neue Einnahme­schemata erprobt. Anhand von Art und Gehalt der Hormone lassen sich vier Generationen unterscheiden (Tab. 1).


Tab. 1: Die Generationen der Estrogen-Gestagen-Kombinationen: Inhaltsstoffe und Arzneimittel.
Gestagen
Estrogen
Arzneimittel (Beispiel)
1. Generation
Norethisteron
Ethinylestradiol oder Mestranol, > 50 µg
Kliogest®; nur noch zur Hormonersatztherapie ­zugelassen
2. Generation
Levonorgestrel, Norethisteron
Ethinylestradiol, 20 – 30 µg
Evaluna®, Synphasec®
3. Generation
Desogestrel, Gestoden, Norgestimat
Lamuna®, Minulet®, Marvelon®, Cilest®
4. Generation
Drospirenon, Chlormadinon, Dienogest, Nomegestrol
Maitalon®, Belara®, Maxim®, Zoely® (enthält Estradiol 1,5 mg)

Häufig vorkommende unerwünschte Wirkungen der hormonellen Kontrazeption mit Gestagenen der 1. und 2. Generation sind Befindlichkeitsstörungen wie Müdigkeit und Übelkeit, androgene Effekte wie Seborrhö und Akne sowie Gewichtszunahme und eine verringerte Glucosetoleranz. Gestagene der 3. Generation haben keine androgene Aktivität, Gesta­gene der 4. Generation besitzen sogar eine antiandrogene Aktivität. Letztere werden mit vorteilhaften Effekten u. a. auf Haut und Haar beworben, z. B. so: „Zusatzeigenschaften, die Frauen strahlen lassen: Sie [die Pille] sorgt für reine Haut, schönes Haar, weniger Regelschmerzen, stabilen Zyklus und gesteigertes Wohlbefinden. Zudem hat sie keinen relevanten Einfluss auf Gewicht und Libido“ [2].

Antiandrogene Eigenschaften = höheres Risiko?

Das Risiko für Thrombosen und Thromboembolien ist unter hormonellen Kontrazeptiva erhöht. Insgesamt sind sie sehr selten, aber auch sehr schwerwiegend. Die Sexualhormone wirken vermutlich indirekt auf den Gerinnungsstatus des Blutes. Etliche in der Leber gebildete pro- und antikoagulatorische Proteine wie Fibrinogen, Faktor VII, Plasminogen, Protein-C, Antithrombin, Gewebsplasminogenaktivator (t‑PA) und Plasminaktivator-Inhibitor (PAI) stehen unter dem Einfluss von Estrogenen. Durch die Modulation der Konzentrationen und Funktion dieser Proteine stellen Estrogene – vor allem Ethinylestradiol – eine prokoagulatorische Gesamt­situation her [3]. Die androgenen Gestagene Levonorgestrel und Norethisteron können diese Wirkung ein Stück weit kompensieren. Den Gestagenen der 3. und 4. Generation mit ihrer fehlenden oder sogar antiandrogenen Wirkung fehlt dieser Schutzeffekt [4]. Da Aldosteron vermutlich einen schwachen gerinnungshemmenden Effekt hat, ist das Risiko vermutlich weiter erhöht, wenn auch noch eine antimineralocorticoide Wirkung hinzukommt, wie bei Drospirenon [5].

Unter hormonellen Kontrazeptiva ist sowohl das Risiko für venöse als auch für arterielle Thrombosen und Thromboembolien erhöht:

  • Arterielle Thromben entstehen bevorzugt in den Koronar- und Hirnarterien und verursachen dann Herzinfarkte und ischämische Schlaganfälle. Das Risiko für eine arterielle Thrombenbildung unter hormonellen Kontrazeptiva ist etwa doppelt so hoch wie bei Frauen, die kein solches Kontrazeptivum anwenden; es liegt bei 2,1 Schlaganfällen und 1,7 Herzinfarkten pro 10.000 Anwenderinnen pro Jahr. Dieses Risiko ist an Estrogen gekoppelt und weit­gehend unbeeinflusst vom Gestagen [6].
  • Im venösen System sind am häufigsten die Beinvenen betroffen. Löst sich der Thrombus, kommt es zur Lungen­embolie. Venöse Thromboembolien unter hormonellen Kontrazeptiva sind etwa drei- bis viermal häufiger als arterielle Thromboembolien; allerdings führen sie seltener zu langfristigen Beeinträchtigungen oder zum Tod.

In ihrem im Januar 2014 abgeschlossenen Risikobewertungs­verfahren zu kombinierten hormonellen Kontrazeptiva beziffert die EMA das Thromboembolierisiko durch Gestagene wie folgt:

Von 10.000 Frauen ohne hormonelle Kontrazeption und ohne Schwangerschaft erleiden zwei eine venöse Thromboembolie. Bei Frauen, die ein Levonorgestrel-, Norethisteron- oder Norgestimat-haltiges Kontrazeptivum anwenden, sind es fünf bis sieben. Mit den in Pflastern und Vaginalringen enthaltenen Gestagenen Etonogestrel und Norelgestromin sind sechs bis zwölf, unter Drospirenon, Gestoden oder Desogestrel neun bis zwölf Fälle pro Jahr zu erwarten [7].

Das Risiko für Chlormadinon, Dienogest oder Nomegestrol hat die EMA mangels abgeschlossener Studien noch nicht beziffert. Erste Hinweise gibt jedoch eine Auswertung von Daten deutscher Patientinnen, denen zufolge das Risiko unter Chlormadinon 2,5-fach und unter Dienogest 3-fach erhöht war, verglichen mit Levonorgestrel [8].

Die Häufigkeiten, die sich aus diesen Risiken für eine Population von 7 Mio. Anwenderinnen im Zeitraum von einem Jahr ergeben, sind in Tabelle 2 dargestellt: Würden alle 7 Mio. Pillenanwenderinnen auf die hormonelle Kontrazeption verzichten, wäre mit 1400 Thromboembolien pro Jahr zu rechnen; würden sie allesamt Drospirenon, Gestoden oder Desogestrel anwenden, mit 7350 Thromboembolien. Die Gruppe der thrombosefreien Frauen würde sich in diesem Fall von 6.998.600 auf 6.992.650 verkleinern.

Übrigens ist es unerheblich, in welcher Form die Gesta­gene der 3. und 4. Generation verabreicht werden. Auch bei Vaginal­ringen und Pflastern ist das Thromboembolierisiko erhöht [9]. Darauf, dass in der Schwangerschaft ein stark erhöhtes Risiko von ca. 60 Embolien je 10.000 Frauen besteht, weist die Fachinformation von Cilest® hin.


Tab. 2: Venöse Thromboembolien bei Frauen – geschätzte Häufigkeiten pro Jahr im Zusammenhang mit der Anwendung hormoneller Kontrazeptiva. Relative Risiken und absolute Fallzahlen, jeweils bezogen auf eine Population von sieben Millionen Frauen.
Angewendetes Gestagen
Relatives Risiko
Venöse Thromboembolie
Keine venöse Thromboembolie
– (keine hormonelle Kontrazeption)
2 von 10.000
1.400
6.998.600
Levonorgestrel, Norethisteron, Norgestimat
6 von 10.000
4.200
6.995.800
Etonogestrel, Norelgestromin
9 von 10.000
6.300
6.993.700
Drospirenon, Gestoden, Desogestrel
10,5 von 10.000
7.350
6.992.650

Besondere Gefahr im ersten Anwendungsjahr

Als besonders hoch wird das Risiko im ersten Anwendungsjahr (und dort besonders in den ersten drei Monaten) eines kombinierten hormonellen Kontrazeptivums betrachtet. Gleiches gilt für die Wiederaufnahme der Anwendung nach einer mindestens vierwöchigen Unterbrechung.

Risikofaktoren für die Entwicklung einer venösen Thromboembolie sind (unabhängig von der Kontrazeption): starkes Übergewicht, Alter über 35 Jahre, Rauchen, Thromboembolie in der eigenen oder Familienanamnese, speziell wenn sie vor dem 51. Lebensjahr auftrat, und Migräne. Zudem ist das Risiko binnen drei Wochen nach einer Entbindung und bei längerer Immobilität erhöht.

Risikofaktoren für arterielle Thromben sind ein Alter ab 35 Jahren sowie die zum metabolischen Syndrom gehörigen Erkrankungen [6].

Die aktuellen Empfehlungen lauten daher, dass übergewichtige Frauen, Raucherinnen, Frauen mit positiver (Familien-)Anamnese bezüglich Thromboembolien und Frauen mit einem Blutdruck über 140/90 mmHg auf Gestagene der 3. und 4. Generation verzichten sollten. Auch Migräne steht im Verdacht, mit Thromboembolien assoziiert zu sein, und wird als Risikofaktor angegeben, ebenso Komorbiditäten mit erhöhtem Thromboserisiko, also Krebs, systemischer Lupus erythematodes, Sichelzellanämie, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa und hämolytisch-urämisches Syndrom. Ferner ist die Kombination mit thrombogenen Arzneimitteln zu vermeiden (z. B. Corticosteroide, Neuroleptika, Antipsychotika, Antidepressiva, Chemotherapeutika) [10]. Vier Wochen vor einer geplanten Operation und bis zwei Wochen nach vollständiger Remobilisierung sowie bis drei Wochen nach einer Entbindung sollte überhaupt kein hormonelles Kontrazeptivum eingenommen werden. Eine Übersicht, basierend auf der BfArM-Checkliste für Verordner [10], enthält die Tabelle 3.


Tab. 3: Kontraindikationen für hormonelle Kontrazeptiva bei verschiedenen Kriterien wie Erkrankungen, Arzneitherapie, ­Messwerte von Körperfunktionen, Lebensstil usw. (nach [10]).
Kriterium
Kontraindikation nur für hormonelle Kontrazeptiva mit Gestagenen der 3. oder 4. Generation
Kontraindikation für alle hormonellen Kontrazeptiva
Thromboembolien
falls positive Familienanamnese (bereits in jungen Jahren aufgetreten)
falls positive Anamnese
Gerinnungsstörungen
ja
ja
Migräne
ja
falls Migräne mit fokalen neurologischen Symptomen (Aura)
Diabetes mellitus
ja
falls Gefäßschäden aufgetreten
Hypertonie
falls moderat (systolisch 140 – 160 mmHg oder diastolisch 90 – 99 mmHg)
falls stark (systol. > 160 mmHg oder diastol. > 100 mmHg)
Blutlipidspiegel
falls sehr hoch bei der Frau oder einem nahen Verwandten
falls sehr hoch bei der Frau
Body-Mass-Index
falls BMI > 30 kg/m²
nein
Alter
falls älter als 35 Jahre
nein
Rauchen
ja
falls älter als 35 Jahre
kardiovaskuläre Vorerkrankung
Vorhofflimmern, Herzrhythmusstörungen, koronare Herzkrankheit, Herzklappenerkrankung
nein
chirurgischer Eingriff/Immobilität
falls größerer Eingriff oder längere Immobilisierung
falls größerer Eingriff oder ­längere Immobilisierung
Entbindung
etwa bis drei Wochen danach
etwa bis drei Wochen danach
geplante Reise
falls Mobilität länger als 4 Stunden eingeschränkt
nein
Erkrankungen mit er­höhtem Thromboserisiko
z. B. Krebs, systemischer Lupus erythematodes, Sichelzellanämie, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, hämolytisch-urämisches Syndrom
nein
potenziell thrombogene Arzneimittel
z. B. Corticosteroide, Neuroleptika, Antipsychotika, Antidepressiva, Chemotherapeutika
nein

Die Studienlage

Ältere klinische Studien hatten häufig methodische Probleme wie unzureichende Berücksichtigung der zeitlichen Verteilung des Risikos, schlechtere Diagnostik der Thromboembolie oder Unkenntnis der individuellen Risikofaktoren der Anwenderinnen [11]. Vor allem die früher weniger gute Thrombose­diagnostik kann dazu führen, dass in älteren Arbeiten das Risiko systematisch niedriger eingeschätzt wurde. Neuere Studien bemühen sich stärker um eine Kontrolle dieser Faktoren.

Drei Fall-Kontroll-Studien aus den Niederlanden [12], Großbritannien [13] und den USA [14] fanden eine Assoziation zwischen venösen Thromboembolien und der Anwendung von hormonellen Kontrazeptiva mit einer geschätzten mittleren Risikoerhöhung durch verschiedene Gestagene um den Faktor fünf im Vergleich zu Frauen ohne hormonelle Kontrazeptiva sowie eine Risikoerhöhung um den Faktor 2 – 3 für Drospirenon im Vergleich zu Levonorgestrel. Jedoch sind Fall-Kontroll-Studien methodisch anfällig für Verzerrung durch ungleich verteilte Risikofaktoren in den Vergleichsgruppen und Ungenauigkeit in der Abschätzung der Exposition (hier: der Anwendung von Kontrazeptiva).

Zwei Auswertungen von dänischen Registerdaten – einmal über die Jahre 1995 bis 2005 [15], einmal von 2001 bis 2009 [16] – zeigten allerdings ebenfalls ein zweifach erhöhtes Risiko von Gestagenen der 3. und 4. Generation gegenüber Levonorgestrel und Norethisteron. Levonorgestrel selbst erhöhte das Risiko um den Faktor 3 gegenüber Frauen, die keine Hormonpräparate anwenden. Dank der Registerdaten konnte hier die Verordnung von Kontrazeptiva in Art und Menge sehr genau erfasst, und Patientinnen mit Komorbiditäten, die Risikofaktoren darstellen, konnten ausgeschlossen werden. Die Verteilung anderer Risikofaktoren, d. h. Rauchen und Übergewicht, konnte dagegen nicht berücksichtigt werden, weil diese Daten im Register nicht zur Verfügung stehen. Mit Ausnahme der Studie von Lidegaard, 2011 [14] (Finanzierung durch Fa. Bayer) wurde keine der genannten Studien industriell finanziert.

Zwei andere Studien, eine deutsche Fall-Kontroll-Studie [17] und eine amerikanische prospektive Kohortenstudie [18], fanden für Levonorgestrel und Gestagene der 4. Generation ein leicht erhöhtes Risiko, aber keinen Unterschied zwischen Levonorgestrel, Dienogest und Drospirenon. Beide Studien waren von Bayer-Unternehmen finanziert worden.

Zwei neuere Studien bestätigten dagegen wiederum die oben genannten Fall-Kontroll- und Registerstudien, die für Drospirenon ein eindeutig höheres Risiko gefunden hatten als für Levonorgestrel. Eine davon ist eine sehr große zweiarmige Kohortenstudie an gut 835.000 Amerikanerinnen, die in der Kontrollgruppe Levonorgestrel, Norethindron oder Norgestimat einnahmen und in der Verumgruppe Drospirenon (Tbl.), Norelgestromin (TTS) oder Etonogestrel (Vaginalring) anwendeten [19]. Zahlreiche Komorbiditäten waren ausgeschlossen. Bezüglich etlicher verbleibender Risikofaktoren waren die Gruppen inhomogen, allerdings war der Anteil an Personen mit Hypertonie oder Hyperlipidämie und entsprechendem ­Gebrauch von Antihypertensiva oder Statinen in der Kontrollgruppe höher als in der Verumgruppe, sodass die Kontrollgruppe hinsichtlich dieser Faktoren ein höheres Risiko aufwies. Diese Studie bestätigte, dass das venöse Thromboserisiko unter oraler hormoneller Kontrazeption in den ersten drei Monaten der Anwendung am höchsten ist und im weiteren Verlauf abnimmt. Das Risiko für venöse Thromboembolien war für Drospirenon im Vergleich zu Levo­norgestrel nahezu verdoppelt; das Risiko für arterielle Thromboembolien war zunächst um den Faktor 1,6, ab einer Anwendungsdauer von zwölf Monaten sogar um den Faktor 2,74 erhöht.

Die zweite Studie ist eine britische Fall-Kontroll-Studie mit 52.600 Frauen [20]. Komorbiditäten und andere Risikofaktoren waren hier nicht ausgeschlossen, wurden aber erfasst und ihre Verteilung in den Vergleichsgruppen in der Analyse berücksichtigt. Sie bestätigte ebenfalls die Erhöhung des ­Risikos für venöse Thromboembolien durch Levonorgestrel, Norethisteron und auch Norgestimat um den Faktor 2,3 bis 2,6 gegenüber dem Verzicht auf hormonelle Kontrazeptiva. Desogestrel und Drospirenon erhöhten das Risiko dagegen stärker, und zwar um den Faktor 4,1 bis 4,3. Bei keiner der beiden letzt­genannten Studien ist eine Industriebeteiligung ausgewiesen.

Ein systematischer Cochrane-Review [21] kam 2014 aufgrund von 26 ausgewerteten Studien ebenfalls zu dem Schluss, dass die Anwendung hormoneller Kontrazeptiva mit einem um den Faktor 3,5 erhöhten Risiko für venöse Thromboembolien einherging, wobei das Risiko in einer Gruppe von Gestagenen der 3. und 4. Generation (Gestoden, Desogestrel und Drospirenon) um den Faktor 1,5 – 1,8 höher lag als das Risiko für Levonorgestrel.

Erhärteter Verdacht

Angesichts der komplexen Methodik weisen alle genannten Studien Vor- und Nachteile auf. Insgesamt scheint sich jedoch der Verdacht gerade auch durch die neueren Studien zu erhärten, dass Gestagene der 3. und 4. Generation mit einem höheren Risiko für arterielle und venöse Thromboembolien behaftet sind als Levonorgestrel. Zwar ist das zusätzliche absolute Risiko, durch Drospirenon & Co. eine Thromboembolie zu erleiden, gering und lässt sich durch sorgfältigen Ausschluss von Risikopatientinnen (s. u.) weiter verringern. Aber auch die seltenen Fälle sind konkret und treffen die jeweilige Person – in diesem Fall am ehesten eine jüngere Frau – unter Umständen schwerwiegend und langfristig.

Was ist zu tun?

Bei der Abgabe von Kontrazeptiva mit erhöhtem Risiko für venöse Thromboembolien sollte der Apotheker prüfen, ob die in Tabelle 3 beschriebenen Risikofaktoren bei der Anwenderin vorliegen, und er sollte die Anwenderin auf jeden Fall auf die typischen Symptome einer Embolie hinweisen, die sich über Tage oder auch Wochen entwickeln können:

  • starke Schmerzen oder Schwellung im Bein,
  • plötzliche, nicht auf andere Ursachen zurückführbare Atembeschwerden (Kurzatmigkeit, erhöhte Atem­frequenz, Husten),
  • Schmerzen in der Brust,
  • Schwäche oder Taubheit in Beinen, Armen oder Gesicht,
  • Anschwellen des Bauches.

Treten solche Beschwerden auf, muss die Anwenderin sofort einen Arzt aufsuchen und diesen auch über die Einnahme der Pille informieren, denn Thromboembolien bei jungen Menschen sind unerwartet und werden daher gar nicht selten z. B. für eine Wirbelblockade, Rippenfellentzündung oder einen schweren Atemwegsinfekt gehalten. Eine solche Fehldiagnose verzögert die richtige Therapie und erhöht die Folgeschäden (Morbidität, evtl. Tod). |

Literatur

 [1] Skouby SO. Contraceptive use and behavior in the 21st century: a comprehensive study across five European countries. Eur J Contracept Reprod Health Care 2010;15(Suppl 2):S42-53

 [2] Aus einem Pressetext der Firma Grünenthal zu Belara® vom 22.06.2006. www.pressetext.com/news/20060622020

 [3] Quehenberger P et al. Studies on oral contraceptive-induced changes in blood coagulation and fibrinolysis and the estrogen effect on endothelial cells. Ann Hematol 1993;67(1):33-6

 [4] Sitruk-Ware R, Nath A. Characteristics and metabolic effects of estrogen and progestins contained in oral contraceptives. Best Pract Res Clin Endocrinol Metabol 2013;27:13–24

 [5] Committee on Gynecologic Practice. Committee Opinion Number 540: Risk of venous thromboembolism among users of drospirenone-containing oral contraceptive pills. Obstet Gynecol 2012;120:1239–42

 [6] Lidegaard Ø et al. Thrombotic Stroke and Myocardial Infarction with Hormonal Contraception. N Engl J Med 2012;366:2257-66

 [7] EMA. Benefits of combined hormonal contraceptives (CHCs) continue to outweigh risks. EMA/35464/2014 vom 16.01.2014. www.ema.europa.eu > Find medicine > Human medicines > Referrals

 [8] Ziller M et al. Risk of venous thrombosis in users of hormonal contraceptives in German gynaecological practices: a patient database analysis. Arch Gynecol Obstet 2014;289(2):413-9

 [9] Throboembolierisiko untern neueren hormonellen Kontrazeptiva […]. arznei-telegramm 2012;43:15-6

[10] BfArM: Checkliste für die Verschreibung kombinierter hormonaler Kontrazeptiva vom 03.02.2014. www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Pharmakovigilanz/KOK/_node.html > Checkliste für Ärzte

[11] Shapiro S, Dinger J. Risk of venous thromboembolism among users of oral contraceptives: a review of two recently published studies. J Fam Plann Reprod Health Care 2010;36:33–8

[12] van Hylckama Vlieg A et al. The venous thrombotic risk of oral contraceptives, effects of oestrogen dose and progestogen type: results of the MEGA case-control study. BMJ 2009;339:b2921

[13] Parkin L et al. Risk of venous thromboembolism in users of oral contraceptives containing drospirenone or levonorgestrel: nested case-control study based on UK General Practice Research Database. BMJ 2011;342:d2139

[14] Jick SS et al. Risk of non-fatal venous thromboembolism in women using oral contraceptives containing drospirenone compared with women using oral contraceptives containing levonorgestrel: case-control study using United States claims data. BMJ 2011;342:d2151

[15] Lidegaard Ø et al. Hormonal contraception and risk of venous ­thromboembolism: national follow-up study. BMJ 2009;339:b2890

[16] Lidegaard Ø et al. Risk of venous thromboembolism from use of oral contraceptives containing different progestogens and oestrogen ­doses: Danish cohort study, 2001-9. BMJ 2011;343:d6423

[17] Dinger J et al. Risk of venous thromboembolism and the use of dienogest- and drospirenone-containing oral contraceptives: results from a German case-control study. J Fam Plann Reprod Health Care 2010;36(3):123–129

[18] Seeger JD et al. Risk of Thromboembolism in Women Taking Ethinylestradiol/Drospirenone and Other Oral Contraceptives. Obstet Gynecol 2007;110:587–93

[19] Sidney S et al. Recent combined hormonal contraceptives (CHCs) and the risk of thromboembolism and other cardiovascular events in new users. Contraception 2013;87;93–100

[20] Vinogradova Y et al. Use of combined oral contraceptives and risk of venous thromboembolism: nested case-control studies using the QResearch and CPRD databases. BMJ 2015;350:h2135

[21] De Bastos, M et al. Combined oral contraceptives: venous thrombosis. Cochrane Database of Systematic Reviews 2014;(3), Art. No. CD010813

Autorin

Dr. Dorothee Dartsch studierte Pharmazie in Hamburg und wurde dort im Fach Pharmakologie und Toxikologie promoviert. Von 2002 bis 2012 war sie Hochschullehrerin für Klinische Pharmazie an der Universität Hamburg. In dieser Zeit leitete sie auch den klinisch-pharmazeutischen Teil eines EU-Projekts zur Entwicklung postgradualer ­berufsbegleitender Online-Kurse für Apotheker. Seit 2012 leitet sie die Fortbildungsinstitution Campus Pharmazie GmbH.

CaP Campus Pharmazie GmbH, Planckstr. 13, 22765 Hamburg

autor@deutsche-apotheker-zeitung.de

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