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Schwangerschaft

Le scandale Dépakine

Wurde in Frankreich das teratogene Risiko von Valproat ignoriert?

In Frankreich ist ein mutmaßlicher Arzneimittelskandal in vollem Gange: Das Antiepileptikum Valproat (Dépakine®, Dépakote®) soll dort – entgegen anderslautender nationaler und europäischer Empfehlungen – in großem Ausmaß bei schwangeren Epilepsie-­Patientinnen und schwangeren Patientinnen mit bipolaren Störungen (BPS) angewandt worden sein und etliche Fehlbildungen, Schwangerschaftsabbrüche oder Totgeburten zur Folge gehabt haben. Patientinnen beklagen, nicht über das Fehlbildungsrisiko aufgeklärt worden zu sein. Die französische Opfervertretung APESAC spricht vom „Scandale de la Dépakine“. | Von Verena Stahl

Konkret gehen die französischen Behörden davon aus, dass in den Jahren 2007 bis 2014 14.322 Frauen Valproat während einer Schwangerschaft eingenommen haben. Zu dieser Zeit waren die mit Valproat assoziierten Fehlbildungsrisiken längst bekannt. Unklar ist, bei wie vielen Kindern die Exposition im Mutterleib Fehlbildungen hervorgerufen hat. Aufschrecken lässt auch die für diesen Zeitraum ermittelte Zahl von 4300 Schwangerschaftsabbrüchen in der Kohorte (30%) und 115 Totgeburten. Die französische Opfervertretung APESAC geht von einer hohen Dunkelziffer geschädigter Kinder aus.

Noch vor 20 bis 30 Jahren galten eine epileptische Erkrankung und eine antikonvulsive Therapie als Ausschlusskriterium für eine Schwangerschaft. Zu ungewiss war der Einfluss auf das ungeborene Leben. Auch herrscht(e) eine große Verunsicherung, ob Patientinnen mit bipolaren Störungen den Herausforderungen einer Schwangerschaft gewachsen sind und welchen Einfluss hier die Medikamenteneinnahme auf das Kind hat. Immerhin befinden sich 50% der Patientinnen mit bipolaren Störungen im gebärfähigen Alter. Dank intensiver Forschung in Bezug auf die Teratogenität der eingesetzten Antiepileptika sowie der ständigen Auswertung von Daten aus Schwangerschaftsregistern ist seit einigen Jahren weitestgehend bekannt, welches teratogene Potenzial von welchem Antiepileptikum ausgeht. Unter fachkundiger ärztlicher Betreuung, einer sorgfältigen Nutzen-Risiko-Abwägung und Beachtung einiger wesentlicher Einschränkungen (u. a. niedrigste wirksame Dosis, möglichst keine Polytherapie) ist heutzutage eine geplante Schwangerschaft trotz antikonvulsiver Therapie möglich. Aktuell wird in Frankreich aber diskutiert, ob unzählige Schwangere vermutlich unnötigerweise eine Therapie mit Valproat, dem Antiepileptikum mit dem höchsten embryotoxischen Potenzial erhalten haben. Von vielen Opfern wird kritisiert, es habe an der Aufklärung über die potenziellen Risiken gemangelt, weshalb sie unbedarft Valproat eingenommen hätten. Zudem seien alternative Therapeutika zu wenig berücksichtigt worden.

Fehlbildungen unter Valproat

Bereits zu Beginn der 80er-Jahre berichteten Wissenschaftler über Fehlbildungen unter Valproat-Exposition. Betroffene Kinder weisen sogenannte große Fehlbildungen wie Neuralrohrdefekte (Spina bifida), Gesichts- und Schädeldeformationen, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Missbildungen des Herzens, der Nieren, der Harnwege (insb. Hypospadien), der Sexualorgane sowie Gliedmaßendefekte auf. Sehr früh wurde auch der Begriff des fetalen Valproinsäure-Syndroms (FVS) geprägt, welches unter anderem kleine Anomalien der Finger und Zehen und Dysmorphien des Gesichts beschreibt. Daten aus einer Metaanalyse (einschließlich Registern und Kohortenstudien) konnten zeigen, dass es bei 10,73% der Kinder von Frauen mit Epilepsie, die während der Schwangerschaft eine Monotherapie mit Valproat erhalten haben, zu angeborenen Missbildungen gekommen ist (95% Konfidenzintervall: 8,16 bis 13,29) [1]. In der Allgemeinbevölkerung liegt das Risiko für schwerwiegende Missbildungen mit 2 bis 3% deutlich niedriger. Es stellte sich zudem heraus, dass das Fehlbildungsrisiko dosisabhängig ist, wie die Ergebnisse mehrerer Studien eindringlich zeigen konnten. Einer aktuellen Auswertung des europäischen Schwangerschaftsregisters EURAP (Europäisches Register für Schwangerschaften unter Antiepileptika) zufolge nahm das Risiko für große Fehlbildungen unter Valproat-­Monotherapie mit der Dosis zu und betrug 24,0% bei einer Valproat-Dosierung von ≥ 1500 mg pro Tag [2]. Wird Valproat in diesem Dosis­bereich mit Lamotrigin kombiniert, erhöht sich das Fehlbildungsrisiko sogar auf 31,0%.

Entwicklungsstörungen nach Valproat

Nicht nur Fehlbildungen werden Valproat angelastet, sondern auch gravierende Entwicklungsstörungen bei Kindern, die im Mutterleib Valproat exponiert waren. Ungefähr seit der Jahrtausendwende ist dies durch Studien belastbar bekannt, und seit 2003 finden sich entsprechende Hinweise hierzu in den Fach- und Gebrauchsinformationen. Alarmierend ist die angenommene Höhe des Anteils frühkindlicher Entwicklungsstörungen bei den exponierten Kindern. Man geht davon aus, dass 30 bis 40% der Kinder Auffälligkeiten wie Intelligenzminderung und Lernschwierigkeiten zeigen. Wie eine Studie mit sechsjährigen Kindern nahelegte, lernen die Betroffenen langsamer laufen und sprechen, haben Sprach- und Gedächtnisprobleme und einen geringeren Intelligenzquotienten als nicht-exponierte Kinder und Kinder unter anderer Antiepileptika-Therapie [3]. Das Risiko für Intelligenzminderung entpuppte sich bei Valproat als dosisabhängig, weitere untersuchte Antiepileptika (Lamotrigin, Carbamazepin, Phenytoin) führten hingegen nicht zu kognitiven Defiziten [3]. Es besteht darüber hinaus ein im Vergleich zur allgemeinen Studienpopulation erhöhtes Risiko für Störungen des autistischen Formenkreises (ca. dreifach erhöht) und kindlichem Autismus (ca. fünffach erhöht). Um das Risikopotenzial derartiger Entwicklungsstörungen, die sicherlich weitreichende Konsequenzen bis ins Erwachsenenalter haben können, abzuschätzen, bedarf es weiterer Studien im Schulkindalter und bei Jugendlichen und Erwachsenen, deren Mütter während der Schwangerschaft Valproat (oder andere Antiepileptika) eingenommen haben.

Dosisabhängige Schädigung

Der schädigende Einfluss von Valproat erwies sich sowohl bei den großen Fehlbildungen als auch bei den kognitiven Entwicklungsstörungen als dosisabhängig [2, 3, 4]. Eine konkrete Schwellendosis ist nicht beschrieben, wobei in Studien häufig zwischen einer Tagesdosis von unter 1000 mg und über 1000 mg unterschieden wird. Eine Dosierung, unterhalb derer von keiner Schädigung auszugehen ist, ist nicht bekannt. Falls der Einsatz von Valproat nach kritischer Nutzen-Risiko-Abwägung bei Frauen im gebärfähigen Alter alternativlos und unverzichtbar ist, sollte möglichst die niedrigste wirksame Dosierung angestrebt werden (weniger als 1000 mg pro Tag) [5]. Um Serumspiegelspitzen zu vermeiden, sollte der Wirkstoff ferner in retardierter Form und verteilt auf mehrere Einzelgaben angewendet werden. Das Fehlbildungsrisiko kann des Weiteren gesenkt werden, wenn Antiepileptika in Monotherapie verabreicht werden [4].

Neue Risikominimierungsmaßnahmen

Im Oktober 2013 wurde – aus Sicht der Opfer und ihrer Vertreter verspätet – ein EU-weites Risikobewertungsverfahren zur Valproat-Anwendung in der Schwangerschaft initiiert, welches ein Jahr später abgeschlossen wurde. Valproat darf seitdem bei weiblichen Jugendlichen und Frauen im gebärfähigen Alter nur zur Behandlung von Epilepsien und zur Behandlung von manischen Episoden bei bipolaren Störungen eingesetzt werden, wenn andere Arzneimittel nicht wirksam sind oder nicht vertragen werden. Eine Schwangerschaft stellt somit keine Kontraindikation dar, die Indikation wurde aber erheblich eingeschränkt. Die Einleitung und Überwachung der Behandlung mit Valproat soll nur noch von Ärzten erfolgen, die in der Behandlung von Epilepsie oder bipolaren Störungen Erfahrung haben. Um Patientinnen, ihre Angehörigen und Ärzte umfassend zu informieren, wurden Schulungsmaterial und eine Patienteninformationsbroschüre entwickelt, welche über die mit Valproat verbundenen Risiken in der Schwangerschaft informieren sollen. Zentraler Punkt zum Zweck der Patientenaufklärung ist ein Formular zur Bestätigung der Risikoaufklärung, welches nach Vorgaben der europäischen Behörden bei jeder Patientin im gebärfähigen Alter unter Valproat-Therapie ausgefüllt und von Arzt und Patientin (bzw. gesetzlichen Vertretern) unterzeichnet werden muss [6]. Die Information der Ärzte und Apotheker in Deutschland über die verstärkten Sicherheitswarnungen und erlassenen Risikominimierungsmaßnahmen erfolgte im Dezember 2014 per Rote-Hand-Brief [7]. In den Fach- und Gebrauchsinformationen mussten ebenfalls umfangreiche Risikoinformationen und Warnhinweise ergänzt werden. Am 6. März 2017 gab das BfArM im Rahmen des Stufenplanverfahrens bekannt, das eine Patientenkarte für Valproat enthaltende Arzneimittel eingeführt werden soll, die jeder Originalpackung beizufügen ist und mit dem Symbol der „Blauen Hand“ versehen wird [14].

Überlegenheit bei Anfallskontrolle

Weshalb wurde und wird Valproat in der Behandlung von Frauen mit Epilepsie trotz des bekannten teratogenen Risikos in manchen Fällen anderen weniger teratogenen Anti­epileptika vorgezogen? Eine Bevorzugung von Valproat ist oft dem vorliegenden Epilepsiesyndrom geschuldet. Formen wie die der fokalen Epilepsien lassen sich in vielen Fällen erfolgreich mit alternativen Antiepileptika behandeln, weshalb der Einsatz von Valproat bei Frauen im gebärfähigen Alter mit dieser Epilepsieform verzichtbar ist. Die Gruppe der idiopathisch generalisierten Epilepsien (z. B. Absencen, myoklonische Anfälle und tonisch-klonische Anfälle) spricht allerdings häufig nur auf Valproat an. In einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie e. V. (DGfE) aus dem Jahr 2010 zum Einsatz von Valproat bei epilepsiekranken Frauen heißt es [5]:

„Valproat ist für Frauen im gebärfähigen Alter mit fokalen Epilepsien nur als Reservepräparat bei Resistenz gegenüber anderen Antiepileptika (AED) der ersten und zweiten Wahl zu empfehlen. Bei idiopathisch generalisierten Epilepsien sollte die Ersteinstellung auf Valproat vermieden werden. Valproat sollte nur noch in gut begründeten Ausnahmefällen in der Ersteinstellung eingesetzt werden.“

Neben dem Ansprechen auf die Therapie wurde und wird Valproat oft deshalb bevorzugt, weil es bei vielen Patientinnen eine gute Anfallskontrolle zeigt, einem wichtigen Ziel in der Therapie der Epilepsie. Hier ist es anderen Antiepileptika überlegen, wie eine Studie von 3806 untersuchten Schwangerschaften aus dem EURAP-Register zeigte. Unter den vier am häufigsten verordneten Antiepileptika waren 75,0% der Schwangeren unter Valproinsäure komplett anfallsfrei, 73,4% unter Phenobarbital, 67,3% unter Carbamazepin und 58,2% unter Lamotrigin [8].

Einsatz bei bipolaren Störungen

Valproat ist in Deutschland auch zur medikamentösen Therapie der Manie bei bipolaren Störungen zugelassen, wenn Lithium kontraindiziert ist oder nicht vertragen wird. Die Weiterführung der Behandlung nach einer manischen Episode kann bei Patienten in Erwägung gezogen werden, die auf Valproinsäure bei der Behandlung der akuten Manie angesprochen haben. Besonders bei rapid cycling (Patienten mit mehr als vier Episoden pro Jahr) und atypischer Symptomatik zeigt es eine gute Wirksamkeit und wird als Stimmungsstabilisierer (mood stabilizer) eingesetzt. Therapeutisch werden durchschnittlich täglich 1000 bis 2000 mg oder mehr gegeben, bevorzugt als abendliche Einmalgabe, um die Adhärenz der Patienten zu fördern. Diese ist nicht immer optimal, da Patienten mit bipolaren Störungen Eingriffe wie eine medikamentöse Therapie krankheitsbedingt oft als Manipulation oder dergleichen empfinden und in manchen Fällen auch keine Behandlungseinsicht zeigen. Bezogen auf die teratogenen Effekte von Valproat ist die Empfehlung der hochdosierten täglichen Einmalgabe aber äußerst nachteilig, da eine Aufteilung in mindestens zwei Einzeldosen zur Vermeidung von Serumspiegelspitzen zu bevorzugen ist. Die Autoren der S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie bipolarer Störungen empfehlen daher, Stimmungsstabilisierer in der Schwangerschaft in der kleinstmöglichen Dosierung zu verwenden und diese wiederum in kleine Dosen über den Tag zu verteilen, um Serumspiegelspitzen zu vermeiden [9]. Häufig ist jedoch eine Schwangerschaft in den ersten und für die Organogenese entscheidenden Wochen unentdeckt und eine Wirkstoff- bzw. Dosisoptimierung nicht mehr möglich, um teratogene Effekte abzuwenden.

Fachgesellschaften zum Einsatz von Valproat

In Deutschland empfahlen die entsprechenden Fachgesellschaften bereits vor der europaweiten Entscheidung Ende 2014 den zurückhaltenden Einsatz von Valproat bei Frauen im gebärfähigen Alter. Konkret verwies man auf das erhöhte Fehlbildungsrisiko und kognitive Einbußen, wie sie auch später im Rote-Hand-Brief dargestellt wurden. Die Deutsche Gesellschaft für bipolare Störungen und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde stellten in ihrer 2012 veröffentlichten S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie bipolarer Störungen fest [9]:

„Stimmungsstabilisierer sind bei der Behandlung von bipolaren affektiven Störungen oft nicht verzichtbar, dies gilt auch in der Zeitspanne von Schwangerschaft und Stillzeit.“

Besonders bei Patientinnen mit schweren bipolaren Störungen (z. B. häufige Episoden und Rückfälle, Suizidalität) kann auf eine medikamentöse Therapie in der Schwangerschaft nicht verzichtet werden, da diese die Krankheitsschwere der Mutter mindert, vor Rückfällen schützt und somit zur Sicherheit des ungeborenen Kindes beiträgt. Auch nach der Entbindung muss die Versorgung des Neugeborenen durch die Mutter gewährleistet werden, dies gelingt nur bei psychisch stabilen Patientinnen. Bezüglich Valproat lautete die Leitlinienaussage dann aber unmissverständlich:

„Aufgrund des hohen Risikos komplexer Fehlbildungen und der berichteten kognitiven Einschränkungen der Kinder nach der Geburt muss diskutiert werden, ob auf den Einsatz von Valproat bei Frauen mit Kinderwunsch gänzlich verzichtet werden sollte. […] Erwogen werden muss, ob von der Verordnung von Valproinsäure bei Frauen im gebärfähigen Alter generell abgeraten werden soll.“

So sah es bereits die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie e. V. in ihrer Stellungnahme von 2010 [5]:

„Während Valproat für nicht epileptologische Indikationen relativ leicht durch alternative Präparate zu ersetzen ist (z. B. in der Prophylaxe der Migräne und in der Phasenprophylaxe bipolarer Störungen), gilt dies nicht für alle Epilepsiesyn­drome. Die Situation ist insbesondere dann schwierig, wenn Frauen unter Valproat langjährig anfallsfrei waren und die Risiken einer Umstellung gegen das teratogene Potenzial der Substanz abgewogen werden müssen.“

Report deckt auf

Ins Rollen kam der „Scandale Dépakine“ spätestens im August 2016 mit der Veröffentlichung eines Reports der französischen Nationalen Agentur für die Sicherheit von Arzneimitteln und Gesundheitsprodukten ANSM und der französischen nationalen Krankenversicherung [10]. Hier wertete man retrospektiv anhand von pharmakoepidemiologischen Daten aus, wie viele Schwangere in den Jahren 2007 bis 2014 mit welcher Indikation Valproat erhielten. 14.322 Schwangerschaften standen unter dem Einfluss der teratogenen Substanz. Die Abort-Rate betrug 30% (n = 4300) und war somit auffallend hoch (41,4% in der Indikation bipolare Störungen, 21,5% in der Indikation Epilepsie). Interessant ist auch ein zu beobachtender Wandel in der Indikation: während 2007 noch zwei Drittel der Valproat-Anwenderinnen eine Epilepsie und ein Drittel eine bipolare Störung hatten, war die Anzahl der schwangeren Valproat-Anwenderinnen mit bipolaren Störungen im letzten Jahr des Auswertungszeitraums höher als die der schwangeren Epileptikerinnen. So erhielten im Jahr 2014 679 Schwangere Valproat bei bipolaren Störungen und 659 Schwangere bei Epilepsie. Während die Verordnungen in der Indikation Epilepsie im Laufe der Jahre um mehr als die Hälfte abnahmen (-55,9% im Vergleich zu 2007), konnte in der Indikation bipolare Störungen zwar auch eine Abnahme verzeichnet werden, diese fiel aber wesentlich weniger deutlich aus (-18,0% im Vergleich zu 2007).

Entschädigungsfond in Frankreich

Im vergangenen November traf das französische Parlament die Entscheidung, Geschädigte mithilfe eines Fonds in Höhe von zehn Millionen Euro zu entschädigen. Die Opferagentur APESAC bezeichnet die Höhe der Summe als absolut unzureichend, um alle Opfer zu entschädigen. Sie fordert, dass sich der Hersteller von Dépakine®, Sanofi, nicht aus der Verantwortung ziehen solle und ebenfalls Entschädigungen leisten müsse. Die Opfervertreter werfen Sanofi vor, nicht ausreichend nach Bekanntwerden der Risiken gewarnt zu haben. Der weitere Verlauf dieser Auseinandersetzung bleibt spannend.

Situation in Deutschland

Es lässt sich für Deutschland nicht ermitteln, wie viele Menschen durch Anwendung von Valproat im Mutterleib geschädigt wurden. Spekulationen auf Basis von Verordnungszahlen bei Frauen im gebärfähigen Alter sind hier sicherlich nicht zielführend. Fest steht, dass der medizinischen Fachwelt hierzulande schon lange vor Abschluss des Risiko­bewertungsverfahrens im Jahr 2014 und darauf folgender Veröffentlichung des Rote-Hand-Briefes bewusst war, dass von Valproat ein teratogenes Risiko ausgeht. Entsprechende Empfehlungen zur Behandlung epilepsiekranker Frauen mit Valproat wurden zum Beispiel von der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie (DGfE) im Jahr 2010 veröffentlicht [5]. Sofern alternative Wirkstoffe infrage kamen, sollte eine Neueinstellung von Mädchen und Frauen im gebär­fähigen Alter auf Valproat aufgrund dessen teratogener Risiken möglichst nicht erfolgen. Ist die Epilepsie-Patientin unter Valproat allerdings viele Jahre anfallsfrei gewesen, kann die Umstellung das Risiko eines Anfallsrezidivs mit einhergehenden u. a. psychosozialen Problemen erhöhen (psycho­logische Traumatisierung eines Anfalls nach langer Anfallsfreiheit, aber auch Verletzungsrisiko, Einschränkungen im Straßenverkehr, Berufsleben und Sport) und wurde womöglich gescheut. Es galt des Weiteren die Empfehlung, eine Valproat-Therapie bei Mädchen und Frauen im gebär­fähigen Alter regelmäßig unter Nutzen-Risiko-Aspekten zu überprüfen. Den verordnenden Neurologen, Psychiatern und Pädiatern muss zudem bekannt gewesen sein, welcher Stellenwert der Aufklärung über die Therapierisiken und einer sicheren Empfängnisverhütung eingeräumt werden musste. Allerdings ist es verständlicherweise bei Frauen, denen Valproat in der akuten Krankheitsphase der Manie verordnet wurde, schwierig, die negativen Auswirkungen auf eine Schwangerschaft im Detail zu vermitteln. Leider werden auch immer wieder behandelnde Neurologen und Psychiater nicht über einen Kinderwunsch in Kenntnis gesetzt bzw. Gynäkologen nicht über die Valproat-Therapie informiert.

Aufklärung für wen?

Teil der Risikominimierungsmaßnahmen ist ein Leitfaden für medizinische Fachkräfte, welcher für vier Szenarien detaillierte Empfehlungen zum Einsatz von Valproat gibt [11].

  • A Erstverordnung bei Mädchen
  • B Frauen im gebärfähigen Alter, die keine Schwangerschaft planen
  • C Frauen im gebärfähigen Alter, die eine Schwangerschaft planen
  • D Frauen, die ungeplant schwanger werden

Die größte Gefahr für teratogene Einflüsse jeglicher Art besteht während der Frühschwangerschaft in der dritten bis zur achten bzw. zwölften Schwangerschaftswoche (SSW), dem Zeitraum der Organogenese des Embryos. Daher müssen die wichtigsten Weichen bei Patientinnen mit Epilepsie oder bipolaren Störungen, die einen Kinderwunsch hegen (C), vor dem Eintreten einer Schwangerschaft gestellt werden (u. a. Nutzen-Risiko-Abwägung der Therapie, wenn möglich Umstellung der Behandlung, andernfalls Dosisreduktion, Aufteilung in kleine Dosen über den Tag verteilt, Bevorzugung von Retardpräparaten, wenn möglich Monotherapie, Folsäure-Supplementation). Auch junge Patientinnen, die noch nicht im gebärfähigen Alter sind bzw. noch keinen Kinderwunsch äußern, sollten vor dem Hintergrund von ungeplanten Schwangerschaften für die Thematik sensibilisiert und über die Notwendigkeit einer wirksamen Empfängnisverhütung aufgeklärt werden (A). Bei ungeplanten Schwangerschaften (D) könnten der teratogene Einfluss in der Frühschwangerschaft und/oder mögliche (abrupte) Therapie­änderungen negative Auswirkungen auf die Gesundheit von Mutter und Kind haben.

Wichtig ist in allen Fällen die Weitergabe der Patienteninformationsbroschüre, in der die mit Valproat verbundenen Risiken zusammengefasst sind, an die Patientin / die Angehörigen sowie die ausführliche Risikoaufklärung. Ein Formular zur Bestätigung über die Risikoaufklärung muss vom Arzt und der Patientin / den gesetzlichen Vertretern ausgefüllt und unterzeichnet werden [6]. Konkret muss hier bestätigt werden, dass die Patientin nicht hinreichend auf andere Behandlungen anspricht bzw. diese nicht verträgt und eine Behandlung mit Valproat benötigt. Des Weiteren ist anzukreuzen,

  • dass eine Risikoaufklärung erfolgt ist,
  • dass die Patientin über die Notwendigkeit der Anwendung einer wirksamen Verhütungsmethode aufgeklärt wurde,
  • dass die Notwendigkeit der regelmäßigen Überprüfung des Behandlungsbedarfs besprochen wurde,
  • dass die Patientin informiert wurde, ihre Therapie sofort überprüfen zu lassen, falls sie plant, schwanger zu werden, und
  • dass die Patienteninformationsbroschüre ausgehändigt wurde.

Eine enge Zusammenarbeit von behandelndem Neurologen oder Psychiater, Gynäkologen und der Patientin wird empfohlen. Im Schwangerschaftsverlauf ist eine engmaschige Betreuung der Patientin angezeigt (regelmäßige Blutspiegelkontrollen der Antiepileptika, pränatale Feindiagnostik mit Fruchtwasseruntersuchungen und Sonografien zur Überprüfung der fetalen Entwicklung/möglicher großer Fehlbildungen).

Folsäure-Gabe mangelhaft

Zwar kann eine Folsäure-Supplementierung das allgemeine Risiko für Neuralrohrdefekte senken, welches bei allen Schwangerschaften besteht, doch gibt es keine Evidenz dafür, dass sie das Risiko für Fehlbildungen, die mit der Exposition gegenüber Valproat im Mutterleib assoziiert sind, senkt. Dennoch sollten Frauen mit Kinderwunsch unter einer antikonvulsiven Therapie frühzeitig, d. h. ein bis drei Monate vor der Konzeption, mit der Folsäure-Substitution beginnen und mit 5 mg pro Tag hochdosiert anwenden [12]. Die Einnahme sollte mindestens bis zum Abschluss des ersten Trimenons fortgeführt werden. Die im Vergleich zu gesunden Frauen (0,4 mg Folsäure pro Tag) erhöhte Gabe ist erforderlich, da enzyminduzierende Antiepileptika zu einem verstärkten Folsäure-Abbau führen und dadurch das Risiko von Neuralrohrdefekten erhöhen (besonders Carbam­azepin und Valproinsäure). Angaben des deutschen Schwangerschaftsregisters zufolge erhielt nur fast die Hälfte aller abgeschlossenen prospektiv erfassten Frauen eine Folsäure-Substitution vor der Konzeption. Zwei Drittel der Frauen nahmen eine Tagesdosis von ≥ 5 mg Folsäure ein [13].

Nicht abrupt absetzen!

Im Rahmen der Diskussion zur Teratogenität von Valproat ist unbedingt zu beachten, dass ein unkritisches oder abruptes Absetzen des Wirkstoffs bei Epilepsien und bipolaren Störungen der werdenden Mutter und damit auch dem ungeborenen Kind schaden kann (Epilepsie: Anfallsrezidiv, BPS: hohe Rückfallraten). Frauen, die (ungeplant) unter der Medikation schwanger geworden sind, wird geraten, die Medikation unverändert weiter einzunehmen und sich umgehend bei spezialisierten Ärzten beraten zu lassen. Gemeinsam kann eine Nutzen-Risiko-Abschätzung der bisherigen Therapie vorgenommen und über risikominimierende Maßnahmen (z. B. Aufteilung der Tagesdosis auf mehrere Einzel­gaben) beraten werden. Es ergibt sich bei ungeplanten Schwangerschaften nicht zwangsläufig die Konsequenz eines Schwangerschaftsabbruchs.

Schwangerschaftsregister

Es wird empfohlen, alle Schwangerschaften von Frauen, die Antiepileptika einnehmen, dem europäischen Schwangerschaftsregister EURAP zu melden. Diese Empfehlung wurde auch in die neuen Schulungsmaterialien für Ärzte beim Einsatz von Valproat aufgenommen und erhöht hoffentlich die Meldebereitschaft. Die kontinuierliche Auswertung dieser Register erlaubt es, wichtige Rückschlüsse in Bezug auf das Fehlbildungsrisiko und sonstiger Auffälligkeiten zu ziehen. Wichtig für die prospektive Beobachtungsstudie ist, die Schwangerschaft möglichst früh zu erfassen, spätestens bis zur 16. Schwangerschaftswoche sollte der Einschluss erfolgen (www.eurap.de). In der deutschen Sektion des internationalen Schwangerschaftsregisters wurden bis zum 29. August 2014 2447 schwangere Patientinnen mit Antiepileptika-Exposition erfasst, für die Auswertungen kann man auf 933 abgeschlossene prospektive Fälle zurückgreifen [13]. Die bis zu diesem Auswertungszeitpunkt ermittelten Fehlbildungsraten betragen 9% unter Antiepileptika-­Therapie in der Schwangerschaft (Monotherapie 8,2%, Polytherapie 9,5%). Lesen Sie hierzu auch das DAZ-Interview mit Prof. Dr. Bettina Schmitz auf in dieser Ausgabe. |

Literatur

[1] Meador KJ et al. Pregnancy outcomes in women with epilepsy: a systematic review and meta-analysis of published pregnancy registries and cohorts. Epilepsy Res 2008;81(1):1–13

[2] Tomson T. et al. Dose-dependent teratogenicity of valproate in mono- and polytherapy: an observational study. Neurology 2015;85(10):866–872

[3] Meador KJ et al. (NEAD Study Group). Fetal antiepileptic drug exposure and cognitive outcomes at age 6 years (NEAD study): a prospective observational study. Lancet Neurol 2013;12(3):244–252

[4] Tomson T et al. Dose-dependent risk of malformations with antiepileptic drugs: an analysis of data from the EURAP epilepsy and pregnancy registry. Lancet Neurol 2011 Jul;10(7):609-617.

[5] Schmitz B et al. Valproat in der Behandlung von epilepsiekranken Frauen – Eine Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie. www.dgfe.org/cweb2/cgi-bin-noauth/cache/VAL_BLOB/3266/3266/849/VPA%20Stellungnahme%20DGfE-2010.pdf (letzter Zugriff am 27. Februar 2017)

[6] Formular zur Bestätigung über die Risikoaufklärung – Behandlung von Patientinnen mit Valproat. Informationen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Pharmakovigilanz/Risikoinformationen/RI_rhb/2014/valproat-formular.pdf;jsessionid=C40B2DDFF2BF25F7554384855AC31353.1_cid322?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Zugriff am 27. Februar 2017)

[7] Rote-Hand-Brief zu Valproat und -verwandte Substanzen enthaltenden Arzneimittel: Risiken für das ungeborene Kind im Falle einer Exposition während der Schwangerschaft. Veröffentlicht am 12. Dezember 2014, Informationen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RHB/2014/rhb-valproat.html (letzter Zugriff am 27. Februar 2017)

[8] Battino D et al. Seizure control and treatment changes in pregnancy: Observations from the EURAP epilepsy pregnancy registry. Epilepsia 12. Juli 2013, doi: 10.1111/epi.12302. [Epub ahead of print]

[9] S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie Bipolarer Störungen der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen und Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Stand: Mai 2012. AWMF-Register-Nr. 038/019, www.awmf.org (letzter Zugriff am 27. Februar 2017)

[10] Exposition à l‘acide valproïque et ses dérivés au cours de la grossesse en France de 2007 à 2014 - une étude observationnelle sur les données du SNIIRAM. Agence nationale de sécurité du médicament et des produits de santé (ANSM) und La Caisse Nationale de l‘Assurance Maladie, 24. August 2016, file:///D:/Download/Rapport_EtudeVPA_24.08-def%20(1).pdf (letzter Zugriff am 27. Februar 2017)

[11] Leitfaden für medizinische Fachkräfte. Informationen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Pharmakovigilanz/Risikoinformationen/RI_rhb/2014/valproat-leitfaden.pdf;jsessionid=250D3756CBE521B1A11DC890B35E7D0A.1_cid340?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Zugriff am 27. Februar 2017)

[12] Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter - Langfassung. Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Version 30. September 2012 (letzter Zugriff am 16. August 2013), www.awmf.de

[13] German Registry of Antiepileptic Drugs and Pregnancy (GRAP). Interim-Report 2014, www.izepilepsie.de/cweb2/cgi-bin-noauth/cache/VAL_BLOB/3978/3978/1029/GRAP_Bericht_2014.pdf (letzter Zugriff am 5. März 2017)

[14] Valproat enthaltende Arzneimittel: Risiken bei Anwendung in der Schwangerschaft. Einführung einer Patientenkarte für Valproat enthaltende Arzneimittel. Information des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), www.bfarm.de (letzter Zugriff am 7. März 2017)

Autorin

Dr. Verena Stahl ist Apothekerin und wurde an der University of Florida als Semi-Resident im landesweiten Drug Information and Pharmacy Resource Center ausgebildet. Ihre berufsbegleitende Dissertation fertigte sie zu einem Thema der Arzneimitteltherapiesicherheit an.

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