Beratung

Wenn Diabetes juckt

Hilfe bei chronischem Pruritus

Chronischer Pruritus (Juckreiz) ist ein häufiges Symptom systemischer Erkrankungen. Auch Diabetiker ohne oder mit diabetischen Folgeerkrankungen sind betroffen. Der Leidensdruck der Patienten ist hoch, ihre Lebensqualität deutlich eingeschränkt. Die Apotheke vor Ort kann sie umfassend über die Ursachen und Therapiemöglichkeiten informieren und durch die Anfertigung individueller Rezepturen zur Verbesserung ihrer Lebensqualität beitragen. | Von Tatjana Buck

Pruritus ist ein unangenehmes Hautjucken, das akut oder chronisch (länger als sechs Wochen) auftreten kann. Die Diagnostik ist komplex und erfordert eine gründliche Anamnese sowie laborchemische, eventuell auch ap­parative Untersuchungen für Differen­zialdiagnosen (Tab. 1). Pruritus kann aber auch eine unerwünschte Arzneimittelwirkung sein, die durch eine einfache Medikationsanalyse erkannt werden kann.

Klassifikation

Das IFSI (International Forum for the Study of Itch) unterscheidet drei Gruppen des chronischen Pruritus:

  • I: chronischer Pruritus auf primär veränderter Haut (bei Vorliegen einer Hauterkrankung).
  • II: chronischer Pruritus auf primär unveränderter Haut (ohne initiales Vorliegen einer Hauterkrankung).
  • III: chronischer Pruritus mitKratzläsionen, die keine Zuordnung in die erste oder zweite Gruppe ermöglichen.

Symptome: Wo juckt es?

Ein Pruritus bei Diabetes mellitus kann generalisiert oder lokal auftreten. Der lokale Juckreiz betrifft vor allem die Extremitäten, die Vulva, den Anus und die Kopfhaut. Die Haut ist primär unverändert (IFSI-Gruppe II). Im Laufe der Erkrankung kommt es oft zu Kratzläsionen, die zu Infektionen neigen können (IFSI-Gruppe III). Typisch sind dabei Kratz-Aussparungen am zentralen Rücken.

Hautveränderungen können bereits vor der Erstmanifestation eines Diabetes auftreten. Eine verringerte Glucose­toleranz und ein erhöhter Nüchternblutzuckerspiegel begünstigen einen sogenannten prämonitorischen Pruritus. Apotheken können Patienten mit dauerhaftem Hautjucken eine Messung des Blutzuckerspiegels anbieten, um diesen Verdacht zu klären.

Bei bis zu 70% der Diabetiker lassen sich Hautsymptome beobachten. Von ihnen leidet jeder Zweite an chronischem Pruritus. Aber auch jeder zweite bis vierte Patient mit chronischer Niereninsuffizienz (mit und ohne Dialyse) klagt über Hautjucken (Tab. 1).

Tab. 1: Laborchemische Diagnostik bei Patienten mit chronischem Pruritus auf primär unveränderter Haut zur Stellung der Differenzialdiagnosen Diabetes mellitus und chronische Niereninsuffizienz (nach AWMF-Leitlinie [1], Tab. 7).
Differenzialdiagnose
Diagnostik
Diabetes mellitus
Blutglucose nüchtern, HbA1c
Glucosetoleranztest
chronische Niereninsuffizienz
Creatinin, Harnstoff, errechnete glomeruläre Filtrationsrate, Kalium, Parathormon, Phosphat, Calcium

Ursachen: AGEs und Zytokine

Die genauen Ursachen der Entstehung von chronischem Pruritus bei Diabetes mellitus sind unklar. Als mögliche Gründe werden sowohl der Diabetes selbst als auch dessen Folgeerkrankungen Nephropathie und Neuro­pathie diskutiert (Tab. 2).


Tab. 2: Mögliche Ursachen für chronischen Pruritus bei Patienten mit Diabetes mellitus und dessen Folgeerkrankungen.
Diabetes (Grunderkrankung)
Diabetische Nephropathie
Diabetische Neuropathie
  • oxidativer Stress
  • Exsikkose mit trockener Haut
  • Hypohidrosis (vermindertes Schwitzen) mit Verlust des Säureschutzmantels der Haut
  • Antidiabetika (z. B. Glimepirid, Metformin, Tolbutamid)
  • oxidativer Stress
  • AGEs
  • Niere: Proliferation der Mesangialzellen; Basalmembran­verdickung und Sklerose der Glomeruli
  • arterieller Bluthochdruck
  • oxidativer Stress
  • Histamin, Zytokine und andere Botenstoffe
  • AGEs
  • Störungen im Polyol­metabolismus mit Anhäufung von Sorbitol

In allen Gruppen spielt oxidativer Stress eine Rolle. Dieser beruht auf der übermäßigen Bildung freier Sauerstoffradikale, die beim Diabetiker vermehrt während der Glucoseoxidation und Glykierung entstehen.

Die irreversible Glykierung von Proteinen, Lipiden und Nucleinsäuren liefert Advanced Glycation Endproducts (AGEs), die an AGE-Rezeptoren (RAGE) auf Entzündungszellen binden. Die RAGE-Aktivierung induziert die Bildung verschiedener inflammatorischer Zytokine (NFκB, Interleukine 1 und 6, IGF-1, TNF-α). Es kommt zu Entzündungsreaktionen und einer zunehmenden Insulinresistenz. In den Nervenfasern können dadurch die Schwann-Zellen und die Myelinscheide nachhaltig geschädigt werden.

In der Niere bewirken AGEs u. a. eine Verdickung der glomerulären Basalmembran. Zudem beeinflussen sie wichtige Enzym- und Membransys­teme sowie essenzielle Stoffwechselprozesse.

Foto: nebari – Fotolia.com
Ein Diabetes-bedingter Juckreiz tritt häufig an den Beinen und Füßen auf.

Aktivierung von Prurizeptoren

Der genaue Pathomechanismus des chronischen Pruritus ist noch nicht geklärt, doch spielen Prurizeptoren dabei eine Rolle. Bei ihnen handelt es sich um eine Variante von Nozizeptoren, d. h. um freie Nerven­endigungen polymodaler C‑Fasern in der Epidermis. Sie sind mit drei verschiedenen Rezeptortypen ausge­stattet:

  • G-Protein-gekoppelte Rezeptoren,
  • Cytokin-Rezeptoren und
  • Toll-like-Rezeptoren (TLR).

Die Rezeptoren werden durch bestimmte Botenstoffe aktiviert (siehe Kasten „Neuropathischer Pruritus“). Dadurch setzen sie in den Nervenzellen eine Reaktionskaskade in Gang, die zur Öffnung bestimmter Kationenkanäle (TRP-Kanäle, von engl. transient receptor potential) und zur Aus­lösung eines Aktions­potenzials führt

Neuropathischer Pruritus

Folgende Botenstoffe wirken pruritogen, indem sie poly­modale C -Nervenfasern in der Epidermis aktivieren.

  • Histamin
  • Substanz P
  • Serotonin
  • Interleukin 31
  • Thrombozyten-aktivierender Faktor (PAF)
  • Leukotrien B4

Therapie

Die S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie des chronischen Pruritus empfiehlt zur Therapie ein stufen­weises symptomatisches Vorgehen [1]. Ziel ist die Beseitigung oder Linderung des Juckreizes sowie die Unterbrechung des Juck-Kratz-Zirkels. Das Ansprechen auf die Therapie ist individuell sehr unterschiedlich und kann nach einer Woche oder erst nach zwölf Wochen eintreten. Die Therapie der Grunderkrankung Diabetes mellitus ist dabei ebenso wichtig wie die Therapie des Pruritus.

Capsaicin – Mittel der 1. Wahl

Laut Leitlinie ist bei lokalem neuropathischem Pruritus Capsaicin das Mittel der ersten Wahl (Tab. 3). Capsaicin (Methylvanillyl-nonenamid) ist ein selektiver Agonist an TRPV1-Kanälen (V1 = Vanilloid 1), die für Na+, K+ und Ca2+ sowie Protonen permeabel sind. Nach spannungsabhängiger Aktivierung von TRPV1 setzen die Neuronen vasoaktive Neuropeptide frei, darunter den Neurotransmitter Substanz P. Eine Vasodilatation mit erhöhter Durchblutung und ein direkter Einfluss auf das Entzündungsgeschehen sind die Folgen.


Tab. 3: Therapeutische Optionen bei neuropathischem Pruritus aufgrund von Fallserien und Fallberichten (nach AWMF-Leitlinie [1], Tab. 16).
Einstufung, Anwendung
Therapie
1. Wahl, topisch
  • Capsaicin-Creme (0,025 – 0,1%) 4 – 6 × tgl.
  • Capsaicin-Pflaster 8%
1. Wahl, systemisch
  • Gabapentin (max. 3600 mg/d)
  • Pregabalin (max. 600 mg/d)
2. Wahl, systemisch
  • Antidepressiva (Paroxetin, Amitriptylin, Mirtazapin)
bei Kratzläsionen, topisch
  • kurzzeitig topische Steroide

Bei regelmäßiger Anwendung leert Capsaicin die Speicher der Neuro­peptide und verhindert zeitweise deren Neusynthese. Außerdem setzt es die Empfindlichkeit der Prurizeptoren ­herab. Aufgrund seiner direkten Wirkung auf die polymodalen Nerven­fasern eignet es sich sehr gut zur Behandlung von Pruritus (sofern dieser nicht durch Histamin induziert ist).

Die Behandlung beginnt mit einer 0,025%igen Capsaicin-Zubereitung. Bei guter Verträglichkeit steigert man in wenigen Tagen die Konzentration über 0,05% und 0,075% auf 0,1%.

Individuelle Rezepturen

Eine individuelle Therapie ist mit den im Handel befindlichen Fertig­arzneimitteln nicht möglich; die Salben und Cremes enthalten 0,02 bis 0,05% Capsaicin und sind für die Therapie von Muskelverspannungen zugelassen.

Die Apotheke kann für Patienten mit chronischem Pruritus individuelle Rezepturen herstellen und dadurch zur Beschwerdelinderung und Verbesserung der Lebensqualität beitragen. Im DAC/NRF 2015/1 sind folgende Rezepturen mit Capsaicinoiden (dieser Begriff umfasst auch Varianten des Capsaicins) aufgeführt:

  • NRF 11.125. Hydrophile Capsaicinoid-Creme 0,025% / 0,05% / 0,1%,
  • NRF 11.146. Lipophile Capsaicinoid-Creme 0,025% / 0,05% / 0,075% / 0,1% / 0,25%.

Vor der Abgabe einer Capsaicin-Creme muss der Patient über wichtige Punkte der Therapie informiert werden:

  • Die Cremes werden vier- bis sechsmal täglich über mindestens sechs Wochen angewendet.
  • Der antipruritische Effekt setzt nach ein bis sechs Wochen ein.
  • Als Applikationshilfen sind Spatel und Handschuhe zu verwenden.
  • Unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind Hautrötung, Wärmegefühl, Brennen, Juckreiz, Schmerz an der Applikationsstelle sowie Husten- und Niesreiz.
  • Zur Vermeidung lokaler Symptome kann der Patient vor Behandlungs­beginn ein Lokalanästhetikum auftragen.
  • Bei Überempfindlichkeit, offenen Wunden, Ulzerationen und Fissuren sowie bei Kindern unter zwölf Jahren und schwangeren Frauen ist die Anwendung kontraindiziert.

Capsaicin wird nicht nur bei neuro­pathischem Pruritus, sondern auch zur Behandlung des nicht-Histamin-induzierten nephrogenen Pruritus eingesetzt. In einer randomisierten kontrollierten klinischen Studie zeigte sich ein signifikanter Therapieerfolg für eine 0,3%-Creme.

Zusatztipps

Damit ein Pruritus nicht chronisch wird, können Diabetiker durch eine konsequente Hautpflege vorbeugen. Sie sollen Faktoren, die eine trockene Haut begünstigen, meiden. Hierzu zählen trockenes Klima, Hitze, Sonnenbaden, häufiges Waschen, Duschen und Baden. Zur Hautreinigung verwenden Diabetiker am besten milde, pH-neutrale Seifen. Ihre Haut sollten sie mindestens einmal täglich ein­cremen. Geeignet sind insbesondere W/O-Emulsionen, eventuell mit Harnstoff- und Glycerolzusatz. |

Quellen

[1] S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie des chronischen Pruritus. AWMF-Reg.-Nr. 013/048, Version 3.0/2016, Stand 05/2016

[2] Misery L, Ständer S. Pruritus, 2nd edition. Springer, London 2016

[3] Ständer S et al. Klinisches Management bei Pruritus. J Dtsch Dermatol Ges 2015;13:101-116

[4] Doebis C. Advanced Glycation Endproducts (AGEs); www.imd-berlin.de > Fachinformationen

Autorin

Tatjana Buck, studierte Pharmazie in Tübingen, 2007 Approbation, Weiterbildung in Homöopathie und Naturheilkunde sowie geriatrischer Pharmazie, ATHINA-Apothekerin und -Tutorin.

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