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Pharmazeutische Betreuung
Lercanidipin und die Tücken der Pharmakokinetik
Ein Blick in die Literatur und in die Praxis
Als das Patent von Lercanidipin auslief, gaben Generikahersteller Bioäquivalenzstudien ihrer eigenen Präparate mit dem Originalpräparat Zanidip® (in Deutschland Carmen® bzw. Corifeo®) in Auftrag. Die Ergebnisse dieser Studien an gesunden Probanden waren so heterogen, dass man dies zum Anlass für eine weitere Auswertung der aus drei Bioäquivalenzstudien vorliegenden Daten machte.
Die im Juli 2012 erfolgte Publikation dieser Untersuchung von Alvarez et al. überraschte die klinischen Pharmakologen, zu den Hausärzten drang sie jedoch kaum durch [1]. In ihrer Schlussfolgerung empfahlen die Autoren dem Hersteller, seine Einnahmeempfehlung für das Präparat zu überarbeiten, um zu gewährleisten, dass die Pharmakokinetik von Lercanidipin im Anwendungsalltag den Verhältnissen in den Phase-III-Zulassungsstudien entspricht (ein Satz, der den zeitkritischen Leser an Dieselfahrzeuge erinnert, die auf dem Prüfstand völlig andere Abgaswerte haben als auf der Straße). Passiert ist dies nicht, offenbar hielten Hersteller und Behörden die Formulierung „mindestens 15 Minuten vor einer Mahlzeit“ für ausreichend. Immerhin hat man unter „Vorsichtsmaßnahmen“ den Hinweis aufgeführt, dass es sich bei dieser Mahlzeit bevorzugt um das Frühstück handeln sollte.
Mahlzeit erhöht die Bioverfügbarkeit
Im Detail: Der Verzehr einer Standardmahlzeit (nicht fett, nicht hochkalorisch) 15 Minuten nach der Einnahme von Lercanidipin erhöhte die Bioverfügbarkeit und die Spitzenplasmaspiegel von S-Lercanidipin um etwa den Faktor 1,8 verglichen mit einer Nüchterneinnahme ohne folgende Mahlzeit. Die Einnahme von Lercanidipin nach einer kohlenhydratreichen Mahlzeit führt zu einer Erhöhung dieser Werte um etwa den Faktor 2 verglichen mit der Nüchterneinnahme. Die Einnahme zu oder nach einer fetten, hochkalorischen Mahlzeit kann sogar zu einer Verdreifachung oder Vervierfachung der Bioverfügbarkeit von Lercanidipin führen. Alvarez und Kollegen haben nicht untersucht, welche Folgen die Einnahme von Lercanidipin 15 Minuten vor einer fetten Mahlzeit hat, aber sie erwarten für diesen Fall deutlich höhere Spiegel als den bei einer fettarmen Mahlzeit gemessenen [1].
Hört man sich bei den verschreibenden Ärzten um, gelangt man zu der Erkenntnis, dass kaum einer über die Notwendigkeit einer Nüchterneinnahme und die Verdreifachung oder gar Vervierfachung der AUC durch Nahrungsfett informiert ist. Bei vielen Apothekern ist es nicht besser.
Plasma-Halbwertszeit beeinflusst Wirkdauer kaum
Doch was sagen die pharmakokinetischen Daten aus? Fakt ist, dass die gemessenen Plasmaspiegel nur sehr unscharf mit der Wirkungsstärke und der Wirkdauer von Lercanidipin korrelieren – sonst müsste man die Substanz retardieren oder mehrmals täglich geben. Lercanidipin bindet an die Zellmembranen und wirkt damit deutlich länger, als es im Plasma in relevanter Konzentration nachweisbar ist. Das schränkt die Aussagekraft der Plasmaspiegel deutlich ein und mahnt zur Vorsicht.
Sehr starker First-pass-Effekt
Ein weiterer Faktor, der hier eine Rolle spielt, ist die Tatsache, dass Lercanidipin bei Nüchterneinnahme einen First-pass-Effekt von bis zu 97% aufweist und der pharmakodynamisch verfügbare Anteil entsprechend gering ist. Damit haben schon geringe Schwankungen der Metabolisierungsrate große Auswirkungen. Und die Schwankungen können erheblich sein, insbesondere wenn sich mehrere Störfaktoren (Nahrungsfett, Grapefruit, interagierende Arzneimittel) addieren. Hierzu ein Beispiel:
Interaktion mit Ciclosporin
Bei gleichzeitiger (nicht jedoch bei zeitversetzter) Einnahme von Lercanidipin und Ciclosporin ist die AUC von Lercanidipin den Fachinformationen zufolge um den Faktor 3 erhöht. Obwohl das nicht mehr ist als die Plasmaspiegelerhöhung durch die Einnahme zu oder nach einer fetten Mahlzeit, weisen die Hersteller diese Kombination als kontraindiziert aus. Und das offenbar aus gutem Grund:
Im August 2016 berichtete die Süddeutsche Zeitung über den einsamen Kampf einer Witwe durch zwei Gerichtsinstanzen. Eine Uniklinik hatte ihrem herzinsuffizienten und nierentransplantierten Ehemann Lercanidipin verschrieben – zusätzlich zu einer bestehenden Ciclosporin-Medikation. Er zeigte ab der ersten Einnahme eine deutliche Zustandsverschlechterung und verstarb wenige Tage danach. Bemerkenswert an diesem Fall ist auch, dass unter dem Einfluss offenbar sehr kollegialer Gerichtsgutachter und trotz der klaren Aussage der Fachinformation weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht zu einem Urteil gegen die Klinik kamen. Das OLG ließ nicht einmal eine Revision zu [2].
Anwendung kritisch beobachten
Dieser Fall mag die Spitze des Eisbergs sein. Festzuhalten bleiben deutliche Hinweise darauf, dass die überlegene Verträglichkeit von Lercanidipin im Vergleich zu anderen Calciumkanalblockern (nicht nur in Bezug auf Knöchelödeme) auf der Strecke bleibt, wenn die Einnahmehinweise unscharf formuliert sind und dann auch noch missachtet werden.
Lercanidipin verdient eine kritische Beobachtung, und die Patienten, die es einnehmen, benötigen eine gewissenhafte pharmazeutische Betreuung. |
Literatur
[1] Alvarez C et al. Differences in lercanidipine systemic exposure when administered according to labelling: in fasting state and 15 minutes before food intake. Eur J Clin Pharmacol 2012;68(7):1043-1047
[2] Berndt C. Tödliche Pillen. Süddeutsche Zeitung 30.08.2016, Seite 3
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