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Neurologie
Ursachen für „herausforderndes Verhalten“ aufdecken!
Interview mit Professor Dr. Frank Jessen
DAZ: Herr Professor Jessen, Angehörige klagen oftmals über ein unangepasstes Verhalten oder sogar Verhaltensstörungen von Menschen mit Demenz und sind dadurch bei der Betreuung oft sehr belastet. Was kann man in solchen Fällen raten?
Jessen: Man sollte zunächst auch gegenüber den Betreuenden die Begrifflichkeit klarstellen. Denn es handelt sich in aller Regel nicht um Verhaltensstörungen, sondern um Verhaltenssymptome. Diese haben sehr oft einen konkreten Grund, den es zu eruieren gilt. So reagieren Menschen mit einer Demenz sehr sensibel auf Umweltfaktoren und sind ihnen durch die kognitive Einschränkung ja auch weitgehend hilflos ausgeliefert. Wenn die Patienten zum Beispiel unruhig sind oder sogar aggressiv reagieren, kann dies durch eine besonders angespannte Atmosphäre und möglicherweise eine Überforderungssituation im Pflegeheim oder auch in der Familie bedingt sein. Außerdem können die Symptome durch körperliche Beschwerden, die der Betreffende nicht verbalisieren kann – sehr oft handelt es sich um Schmerzen – verursacht sein. Es sind zudem psychische Symptome wie beispielsweise Depressionen und Verhaltenssymptome wie zum Beispiel motorische Unruhe zu differenzieren. Zusammenfassend spricht man auch vom „herausfordernden Verhalten“. Der Begriff soll anzeigen, dass das Verhalten des Patienten dazu herausfordert, die Gründe für die Symptome zu überdenken.
DAZ: Was können Apotheker tun, wenn pflegende Angehörige entsprechende Klagen äußern?
Jessen: Man kann den betreffenden Kunden klarmachen, dass primär zu prüfen ist, ob Umweltfaktoren und eventuell körperliche Symptome die Ursache der Verhaltensauffälligkeit sein können. Gibt es hierfür Hinweise, so sollte versucht werden, die verursachende Situation entsprechend zu ändern. Dass dies ein erfolgreiches Konzept darstellt, zeigen die Erfahrungen in auf die Betreuung Demenzkranker spezialisierten Pflegeheimen, in denen die Abläufe konkret auf die speziellen Bedürfnisse der Demenzpatienten ausgerichtet sind. Kommt es dort zu Verhaltenssymptomen bei den Demenzkranken, so reagieren die Mitarbeiter der Einrichtung mit einer Analyse der Einzelfallsituation und versuchen die Ursachen zu ergründen und zu beheben. In Pflegeheimen mit einem solchen Konzept werden deutlich weniger Medikamente zur Behandlung von Verhaltenssymptomen wie etwa Neuroleptika benötigt als in anderen Pflegeheimen und es kommt seltener zur Fixierung der Patienten.
DAZ: Wäre nicht eine medikamentöse Behandlung der Symptome für alle Beteiligten entlastender?
Jessen: Nein, das kann man so nicht sagen. Ich halte es für wichtig, die Ursache der Verhaltenssymptome möglichst aufzudecken, da dies die Chancen verbessert, die Symptome tatsächlich zu bessern und so die Belastungen für den Patienten selbst wie auch die Angehörigen wirkungsvoll zu reduzieren. In diesem Zusammenhang sollte auch bedacht werden, dass die ansonsten üblicherweise verordneten Antipsychotika und Neuroleptika nicht unerhebliche Nebenwirkungen haben können bis hin zu einer Verschlechterung der Demenz, einem erhöhten Schlaganfallrisiko und einer erhöhten Mortalität. Die Indikation zur medikamentösen Therapie von Verhaltenssymptomen ist deshalb sorgfältig zu prüfen und die Medikamente sollten im Bedarfsfall möglichst nur kurzfristig verabreicht werden. Etwas günstiger ist die Situation bei der Verordnung von Antidepressiva, die daher auch längerfristig gegeben werden können. Zu vermeiden ist unbedingt die Behandlung mit Benzodiazepinen, da diese die Kognition oftmals noch verschlechtern und zudem die Sturzgefahr erhöhen.
DAZ: An welche einfachen Maßnahmen zur Besserung der Problematik ist zu denken?
Jessen: Es sollte versucht werden, abzuklären, ob der Demenzkranke Schmerzen hat oder ob er möglicherweise an einem Harnwegsinfekt oder anderen Infektionen leidet, die zu Unruhe führen können. Ferner ist zu prüfen, ob das häusliche Umfeld der Situation des Demenzkranken Rechnung trägt. Sinnvoll sind zum Beispiel bewegungsabhängige Lichtschalter, die den Betreffenden helfen, sich auch nachts zu orientieren, zum Beispiel wenn sie die Toilette aufsuchen müssen. Und selbstverständlich sollten Stolperfallen wie Teppiche in der Wohnung entfernt werden. Bei Patienten, die in einem Pflegeheim betreut werden, ist es oft sehr hilfreich, ihren Lebensraum mit möglichst vielen vertrauten Gegenständen aus ihrer eigenen Wohnung auszustatten, zum Beispiel mit dem Lieblingssessel, mit Bildern an der Wand und mit Fotos von ihren Angehörigen.
DAZ: Gibt es weitere Möglichkeiten für Apotheker, die Angehörigen zu unterstützen?
Jessen: Wenn man weiß, dass ein Demenzkranker in der Familie betreut wird, kann es für den Angehörigen sehr entlastend sein, wenn der Apotheker einmal aktiv nachfragt, wie es zu Hause klappt mit der Pflege, ob eine gute Beratung durch den Hausarzt erfolgt ist und ob noch ein Informationsbedarf besteht. Denn gerade die Thematik der Verhaltenssymptome ist oft schambesetzt und die Betreffenden verbalisieren die häuslichen Spannungen häufig nicht. Angehörigen sollte in diesem Zusammenhang auch vermittelt werden, dass es spezielle Beratungsstellen für die Betreuer von Demenzkranken gibt und zudem auch Organisationen wie etwa die Deutsche Alzheimer Gesellschaft, bei der sie Rat einholen und Unterstützung finden können. Davon abgesehen sind die Angehörigen von Demenzpatienten unbedingt darin zu bestärken, auch an sich selbst zu denken und regelmäßige Freiräume für sich zu schaffen, also für Auszeiten von der Betreuung des Demenzkranken durch sie selbst zu sorgen.
DAZ: Herr Professor Jessen, haben Sie vielen Dank für das Gespräch. |
Lesen Sie hierzu auch den Artikel "Aggressiv, unruhig, apathisch oder depressiv ..." in dieser DAZ.
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