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Schwerpunkt Contergan

Mehr als ein Skandal

Contergan prägte die Bundesrepublik

Blickt man auf die Geschichte der Bundesrepublik, so nimmt der Fall Contergan eine wichtige, wenngleich oft unterschätzte Bedeutung ein. Der Skandal um dieses Präparat hat nicht nur die Wahrnehmung von Arzneimittelrisiken und den sozialen Umgang mit körperlichen Behinderungen nachhaltig geprägt. Vielmehr hatte er auch eine breitere Wirkung, die über das Medizinische hinausging.
Der Contergan-Skandal war nämlich unmittelbar verwoben mit den vielschichtigen sozialen Wandlungsprozessen der 1950er- und 1960er-Jahre, die den Skandal erst ermöglichten, die er aber selbst auch zu verändern half. Dies gilt etwa für die Entstehung der Konsumgesellschaft und einer kritischen Medienöffentlichkeit, aber auch für das allmähliche Aufweichen autoritärer Gesellschaftsstrukturen, in denen der Arzt seinen Status als „Halbgott in Weiß“ zunehmend einbüßen musste. Wie unter einem Brennglas bündelt sich im Fall Contergan jene soziale Dynamik, die die bundesdeutsche Gesellschaft dieser Zeit auszeichnete. Doch worum ging es in diesem Skandal überhaupt und warum barg er eine derart enorme gesellschaftliche Sprengkraft? | Von Niklas Lenhard-Schramm

Bei Contergan handelte es sich um ein Schlaf- und Beruhigungsmittel, das die Firma Grünenthal 1957 auf den bundesdeutschen Markt brachte. Schon bald überflügelte das Präparat alle Konkurrenzprodukte. Der kommerzielle Erfolg fußte wesentlich auf einer aggressiven Vermarktung, die das Mittel als „gefahrlos“ und „völlig ungiftig“ bewarb. Anders als bei herkömmlichen Schlafmitteln, wie den berüchtigten Barbituraten, war es nämlich kaum möglich, eine letale Dosis zu verabreichen. Daher empfahl der Hersteller Contergan unter anderem für Leberkranke, für die Kinder- und die Altersheilkunde.

Bis zum Frühjahr 1960 entwickelte sich Contergan zum meistverkauften Schlafmittel in der Bundesrepublik, zumal es rezeptfrei in den Apotheken erhältlich war. Schätzungsweise fünf Millionen Bundesbürger hatten das Mittel bis 1961 konsumiert. Für die Ärzteschaft und vor allem für die Konsumenten blieb jedoch bis zur Marktrücknahme weit­gehend unbekannt, dass Contergan gravierende Nebenwirkungen besaß. Bei chronischem Gebrauch konnte der in Contergan und weltweit rund 60 weiteren Präparaten enthaltene Wirkstoff Thalidomid zu irreversiblen Nervenschäden führen. Bei Einnahme in der Frühschwangerschaft bewirkte er schwerste Wachstumsschäden des ungeborenen Lebens. Die Zahl der Opfer ist bis heute nicht ganz klar. Während im Bereich der Nervenschäden verlässliche Angaben fehlen, gehen seriöse Schätzungen von weltweit rund 10.000 fehlgebildeten Kindern aus, davon allein 4.000 bis 5.000 in der Bundesrepublik. Rund die Hälfte verstarb kurz nach der Geburt. Als die fruchtschädigende Wirkung Ende November 1961 publik wurde, sah sich der Hersteller gezwungen, das Mittel vom Markt zu nehmen.

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Rezeptfrei in den Apotheken wurde Contergan bis 1960 an etwa fünf Millionen Patienten abgegeben.

Der gesellschaftliche Umgang mit Arzneimitteln

Die soziale Rolle des Arzneimittels war in den 1950er-Jahren wesentlich geprägt durch die Industrialisierung und Kommerzialisierung des Arzneimittelsektors seit dem 19. Jahrhundert. Handelte es sich bei Arzneimitteln bis dahin meist um Präparate, die der Heilung organischer Erkrankungen dienten, so wurden sie zunehmend als Mittel entwickelt und vermarktet, die der Steigerung des Wohlbefindens oder zur Behandlung sozialer Probleme dienten. Gerade die entbehrungsreiche Kriegs- und Nachkriegszeit machte die Steigerung der Lebensqualität zu einem verbreiteten Bedürfnis im „Wirtschaftswunder“. Der Arzneimittelmarkt wurde insoweit durch sich wandelnde Lebensverhältnisse und neue Konsumchancen stimuliert.

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Das „Wirtschaftswunder“ führte auch bei Arzneimitteln zu einer Industrialisierung und Kommerzialisierung. Es ging nicht mehr nur um die Heilung organischer Erkrankungen, sondern zunehmend um die Steigerung des Wohlbefindens und die Behandlung sozialer Probleme.

Die wachsende Arzneimittelnachfrage korrespondierte mit dem Glauben, die neuen synthetischen Wirkstoffe seien verträglicher als die altbekannten Mittel. Bis in die 1960er-Jahre dominierte ein weithin unkritisches Verhältnis zu Arzneimitteln, deren Image überaus positiv war. Neue Arzneien wie etwa die Antibiotika konnten die einst als unheilbar geltenden „Geißeln der Menschheit“ wie Pest, Tuberkulose oder Syphilis besiegen. Das Zutrauen in neue Arzneimittel wuchs dadurch in einer Weise, die dem heutigen Betrachter als naiv erscheinen mag. Unterbelichtet blieb dagegen, dass jedem wirksamen Arzneimittel immer auch unerwünschte Wirkungen innewohnen. Anders als in anderen Ländern hat es in Deutschland bis Contergan keinen Arzneimittelskandal gegeben, der die kollektive Risikowahrnehmung in dieser Richtung nachhaltig schärfen konnte.

Auch unter Ärzten und Apothekern war dieses Risikobewusstsein oft nur schwach ausgeprägt, gerade bei neuartigen Substanzen. Auch wenn einige Mediziner seit Ende der 1950er-Jahre den immens wachsenden Konsum von Tranquilizern, Beruhigungs- und Schlafmitteln mit Unbehagen wahrnahmen, blieb der gesamtgesellschaftliche Umgang mit solchen Präparaten durch eine ausgeprägte Arglosigkeit bestimmt. Das wurde nicht zuletzt durch entsprechende Marketingstrategien der Pharmahersteller begünstigt. Diese mussten ihre Mittel auf den Handverkauf und den alltäglichen, medizinisch nicht zwingend indizierten Gebrauch ausrichten, wenn sie mit ihnen kommerziell erfolgreich sein wollten. Die Hersteller bemühten sich daher, die Deutungshoheit über ihre Mittel zu wahren und zu entscheiden, wann und wie diese in den Markt gelangten.

Vorstaatliche Arzneimittelregulierung

Die Behörden spielten dagegen im Arzneimittelwesen nur eine untergeordnete Rolle, da dieses weithin vorstaatlich strukturiert war. Mediziner, Beamte und Politiker, aber auch Industrie und Öffentlichkeit stimmten in einem prinzipiellen Ordnungskonsens überein, nach dem in erster Linie nicht-staatliche Experten und Institutionen über Nutzen und Sicherheit von Arzneimitteln entscheiden sollten. Die amtliche Arzneimittelaufsicht, die seinerzeit Ländersache war, entsprach damit der Idee eines „Nachtwächterstaates“. Demnach sollten die Behörden nur Anträge aus medizinisch-pharmazeutischen Fachkreisen umsetzen, aber nur in absoluten Ausnahmefällen selbständig eingreifen. Dem entsprach die rechtliche, politische und institutionelle Ausgestaltung des Gesundheits- und des Arzneimittelwesens. Während sich die betreffenden Fachkreise betont unpolitisch gaben, existierten Gesundheitsministerien ebenso wenig wie ein einheitliches Arzneimittelrecht (bis 1961). In der frühen Bundesrepublik wurde diese Rollenverteilung durch den wirtschaftsliberalen Grundkonsens weiter erhärtet. Der einst als „Apotheke der Welt“ bezeichneten deutschen Pharmaindustrie sollten möglichst wenig Schranken auferlegt werden.

Die rechtliche Grundlage für die Zulassung neuer Arzneimittel bildete in der Bundesrepublik zunächst die sogenannte Stopp-Verordnung von 1943, die die Einführung neuer Arzneifertigwaren grundsätzlich verbot, aber Ausnahme­genehmigungen vorsah. Da diese Regelung rechtlich fragwürdig war (da die Genehmigungskriterien nicht gesetzlich geregelt waren, wurde sie 1959 als verfassungswidrig verworfen), gingen die Landesbehörden ab Mitte der 1950er-Jahre dazu über, Anträgen von Pharmaherstellern grundsätzlich stattzugeben, sofern das Präparat nicht offenkundig schwere Mängel aufwies. Vor diesem Hintergrund beantragte die Firma Grünenthal im Juni 1956 beim zuständigen Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen die Genehmigung für die Herstellung Contergans. Wie üblich stützte sich das Genehmigungsverfahren nur auf eine chemische Ana­lyse des Präparates und auf Unterlagen, die der Her­steller frei auswählen konnte (im Fall Contergan insgesamt 14 Blatt). Die Genehmigung folgte bereits am 9. August 1956. Die Firma brachte Contergan daraufhin am 1. Oktober 1957 auf den Markt.

Die energische Vermarktung betonte von Beginn an die vermeintliche Harmlosigkeit und Ungiftigkeit Contergans. So wurde es als Lifestyle-Präparat beworben, etwa als Mittel gegen Schüchternheit oder als Helfer bei der Examensvorbereitung. Eine flüssige Darreichungsform mit Himbeergeschmack hieß im Volksmund schon bald „Kinosaft“, den Eltern ihren Kindern verabreichten, wenn sie abends ungestört ausgehen wollten. Die Marketingstrategie wurde auch in gedämpfter Form fortgesetzt, als immer mehr Nebenwirkungsanzeigen bei der Firma eingingen. Die Staatsanwaltschaft konnte später über 7.300 solcher Meldungen ermitteln, davon über 2.800 über Nervenschäden. Jedoch bestand noch kein Meldesystem für unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Zudem erschwerten es die fachinternen Sagbarkeitsregeln den Ärzten und Apothekern, von sich aus an die Behörden oder gar die Öffentlichkeit zu treten. Der Hersteller konnte daher das Wissen um diese Wirkungen in erheblichem Maße monopolisieren.

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Als Lifestyle-Präparat wurde Contergan von Anfang an beworben. Es sollte gegen Schüchternheit, Prüfungsangst und Schlaflosigkeit helfen.

Vom „Wundermittel“ zum „pharmazeutischen Schreckgespenst“

Ab Anfang 1960 wandten sich immer mehr Ärzte an die Firma Grünenthal, um wegen beobachteten Nervenschäden eine Rezeptpflicht für Contergan zu fordern. Das Unternehmen versuchte dies zu verhindern, zumal das Präparat vor allem über den Handverkauf in den Apotheken lief und den größten Teil des Umsatzes ausmachte. Durch eine ausgeklügelte Vernebelungstaktik konnte die Firma zunächst warnende Stimmen, aber auch Behörden und Fachverbände längere Zeit in Unkenntnis über die neurotoxische Wirkung halten.

Dies änderte sich erst im Frühjahr 1961, als mehrere Mediziner mit Publikationen über die schädliche Wirkung begannen. Ende März 1961 wandte sich dann erstmals ein Arzt offiziell an das Innenministerium in Düsseldorf und berichtete über Nervenschäden durch Thalidomid. Dies blieb indes die Ausnahme. Die Behörde reagierte abwartend und bat den Hersteller und einige Universitätskliniken um Informationen, wurde aber sonst nicht weiter aktiv. Stattdessen warteten die Beamten auf einen freiwilligen Rezeptpflichtantrag der Firma. Da diese durch die Publikationen zunehmend unter Druck geriet, beantragte sie die Rezeptpflicht, die ab Ende Juli 1961 in den Ländern schrittweise in Kraft trat.

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Tageszeitungen der 1960er-Jahre titelten den Arzneimittelskandal, thematisierten aber auch Geschichten rund um die Betroffenen, Verursacher und beteiligten Behörden.

Erst mit einiger Verspätung wurde dann jene Wirkung Contergans bekannt, für die das Arzneimittel bis heute berüchtigt ist: die fruchtschädigende Wirkung und die damit einhergehenden, zahlreichen Fehlbildungen. Aufgrund der Selbstabschirmung der Fach- gegenüber der Laienwelt und einer fehlenden Meldepflicht blieb der Öffentlichkeit der enorme Anstieg an Geburtsschäden lange unbekannt. Noch Anfang 1958 hatte eine Erhebung der Bundesregierung einen Anstieg von Fehlbildungen verneint, nachdem in den Medien solche Befürchtungen wegen Atombombenversuchen ventiliert worden waren. Die Öffentlichkeit war damit gegen warnende Stimmen vorerst immunisiert. Erst zu Beginn des Jahres 1961 zeichnete sich für Ärzte größerer Kliniken immer deutlicher ab, dass die Zahl an Fehlbildungen massiv anschwoll. Die erste Publikation erschien im September, doch die Ursachenforschung dauerte noch an. Erst Mitte November 1961 fiel dem Humangenetiker Widukind Lenz (1919-1995) ein Zusammenhang mit Contergan auf. Nachdem Lenz am 15. November die Firma und kurz darauf seine Kollegen und die Behörden informiert hatte, zeigte sich die strukturelle Überforderung der Fachwelt und des Staates, adäquat zu reagieren. Während die Mediziner den Verdacht erst wissenschaftlich zu beweisen suchten, herrschte in den Behörden eine strikt juristische Logik, die ein Verbot Contergans nicht erlaubte, weil der Verdacht noch nicht bewiesen war. Die Beamten versuchten daher erfolglos, die Firma zu einer freiwilligen Marktrücknahme zu bewegen. Erst als die „Welt am Sonntag“ den Verdacht am 26. November 1961 publik machte, entschloss sich die Firma zur Marktrücknahme.

Aus einem Arzneimittel wird ein gesellschaftlicher Skandal

Nachdem Contergan vom Markt genommen worden war, zeichnete sich das spätere Ausmaß des Skandals noch nicht direkt ab. Zwar berichteten die Zeitungen über Lenz’ Verdacht, doch dominierte insgesamt ein paternalistischer Beschwichtigungstenor, der sich vorschneller Stellungnahmen enthielt und die Laienöffentlichkeit zu besänftigen suchte. Da es sich zunächst nur um einen Verdacht handelte und erste Befunde erst mittelfristig zu erwarten standen, bezog sich die Debatte schon bald auf das Arzneimittelgesetz, das im August 1961 in Kraft getreten war. Obschon nun die Eignung der bestehenden Arzneimittelregulierung hinterfragt wurde, folgten die meisten Wortmeldungen dem Muster eines „Konsensjournalismus“, der von einer Fundamentalkritik an medizinischen wie staatlichen Autoritäten vorerst noch absah. Nach wenigen Wochen flaute das Interesse an Contergan sichtbar ab.

Dies änderte sich im Frühjahr 1962. Die Debatte schwenkte nun auf die kontrovers diskutierte Frage um, welche medizinischen und sozialen Hilfen den Betroffenen geleistet werden könnten. Erst jetzt rückten die bald als „Conterganbabys“ stigmatisierten Opfer in den Fokus des öffentlichen Interesses, wodurch sich das Thema rasch emotional auflud. Dies bildete den Ausgangspunkt einer medialen Skanda­lisierung sondergleichen, die vor allem von der Boulevardpresse ausging und bald eine enorme Eigendynamik entfaltete. Da Contergan-Schäden nicht an bestimmte politische, soziale oder konfessionelle Milieus gebunden waren, vermochte der Fall die altbekannten gesellschaftlichen Konfliktlagen zu überbrücken. Betroffene Familien schlossen sich, langfristig und lagerübergreifend, zu Interessenverbänden zusammen, wodurch sie ihre Belange besonders wirksam artikulieren konnten.

Mit dem Umsatz stieg auch die Anzahl der durch Contergan geschädigten Kinder. [Quelle: Lenhard-Schramm]

Wie sich bald zeigte, war der Fall Contergan mehr als ein Arzneimittel-Skandal. Denn seine tiefgreifende Wirkung resultierte aus den zahlreichen sozialen Problemen, die durch die tausendfachen Schädigungen fortlaufend aufgeworfen wurden. Immer wieder lagerten sich neue Kontroversen an den ursprünglichen Skandal an, was besonders dann ein reges Medienecho fand, wenn der Skandal mit sozialen Tabuzonen kollidierte. So riefen etwa Berichte über Kindestötungen im In- und Ausland die dunkle Vergangenheit der NS-Kindereuthanasie in Erinnerung und berührten die provokante, aber damals durchaus noch diskutierte Frage eines „lebensunwerten Lebens“.

Ähnlich brisant war das Thema der Schwangerschaftsabbrüche, und auch Berichte über moralisierende Bloßstellungen Geschädigter oder veruntreute Gelder in Opferverbänden erregten die Gemüter. Zudem wurden die weiteren Lebenswege der Kinder durch die Medien aufmerksam begleitet, wodurch die soziale Situation von benachteiligten Menschen in verschiedensten Lebensbereichen (Schule, Sport oder Beruf) stets neu thematisiert wurde. Auf diese Weise reproduzierte sich der Skandal immer wieder aufs Neue. Über die gesamten 1960er-Jahre hinweg blieb er ein permanentes Politikum.

Im medizinischen und sozialen Umgang mit Behinderungen bildete der Skandal eine wichtige Wegmarke. Vorerst überwog noch ein aus der alten „Krüppelfürsorge“ stammendes Leitbild, das darauf zielte, die geschädigten Kinder durch Prothesen zu „normalen Menschen“ zu machen und in die Arbeitswelt zu integrieren. Die Ursächlichkeit Thalidomids für die Schäden war in diesem Denkmuster nebensächlich. Gleiches galt für die soziale Unterstützung der Opfer. Hier ging es in erster Linie um die Frage, inwieweit die Schädigungsursachen für soziale Hilfen erheblich sind. Während die Betroffenen und auch Teile der Medien besondere staatliche Hilfen forderten, weil der Staat bei der Arzneimittelaufsicht versagt habe, dominierte in den Regierungen der Standpunkt, eine Haftung des Staates komme nicht infrage und alle behinderten Kinder seien gleich zu behandeln. Hilfen sollten nach dem im Juni 1962 in Kraft getretenen Bundessozialhilfegesetz geleistet werden. Mit der Zeit wurden diese überkommenen Denkmuster durch den Contergan-Skandal aufgeweicht.

Ein „Mammutverfahren“ und eine Stiftung – die juristischen Folgen

Immer wieder aktualisiert wurde der Skandal auch durch die rechtlichen Konsequenzen, die in jeder Hinsicht außergewöhnlich waren. Das öffentliche Interesse richtete sich vor allem auf das Ende 1961 von der Staatsanwaltschaft Aachen eröffnete Strafverfahren. Parallel zum medialen Skandal weiteten sich die Ermittlungen zu dem bis dahin umfangreichsten und wohl komplexesten Strafverfahren der neueren deutschen Rechtsgeschichte aus. Als die wesentlichen Ermittlungen im Juli 1965 abgeschlossen wurden, waren über eine halbe Millionen Urkundenblätter ausgewertet, über 1200 Zeugen vernommen und über 300 Gutachten erstellt worden.

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Die fast 300 Verhandlungstage zeigten erstmals, dass die damalige Justiz sowohl mit ethischen Fragestellungen als auch der enormen Menge an Beweismaterial überfordert war.

Zudem war das Strafverfahren massiven rechtlichen Problemen unterworfen. Von entscheidender Bedeutung war etwa die Kausalitätsfrage. Wie eine medizinische in eine juristische Beweisbildung zu übersetzen war, blieb das gesamte Verfahren hindurch eine kaum zu lösende Frage. Nicht minder gravierend waren materielle Rechtsprobleme. Bei den Fehlbildungen etwa war stark umstritten, ob hier überhaupt ein Straftatbestand vorlag. Denn die Juristen waren sich einig, dass ein Embryo keine Person im Sinne des Straf­gesetzbuchs war, eine Körperverletzung aber nur an einer solchen begangen werden konnte. Hinzu kamen schließlich prozessuale Probleme, die das Verfahren in eine schier un­erträgliche Länge zogen.

Mit der Erhebung der Anklage am 13. März 1967 und der Eröffnung des Hauptverfahrens am 18. Januar 1968 nahm das mediale Interesse noch einmal erheblich zu, was massiv auf den Fortgang des Prozesses zurückwirkte. Dort zeigte sich immer deutlicher, dass die Strafprozessordnung für derartige „Mammutverfahren“ nicht ausgelegt war. So musste sich die Beweisaufnahme etwa auf alle präsenten Beweismittel erstrecken, egal ob der erstrebte Beweis bereits erbracht oder für die Schuldfrage irrelevant war. Da das abzuarbeitende Beweismaterial während des Prozesses nicht ab-, sondern zunahm, arbeitete die Zeit gleichsam gegen den Prozess. Zudem schieden viele Beteiligte aus. Von ursprünglich neun Angeklagten waren am Ende nur noch fünf übrig, von drei Ergänzungsrichtern nur noch einer.

Angesichts dieser und vieler weiterer Probleme schälte sich über 283 Verhandlungstage die verfahrenseigene Wahrheit heraus, dass der Prozess nicht justiziabel war. Da aber ohne ein Ende des Strafverfahrens keine Entschädigung der Opfer durchsetzbar war, rangen die Beteiligten seit 1969 in zähen Verhandlungen um eine informelle Vereinbarung, das Verfahren einzustellen, sofern die Firma eine Entschädigung zahlen würde. Nach einem Vergleich, mit dem sich die Firma zur Zahlung von 100 Millionen Deutscher Mark verpflichtete, wurde der Prozess am 18. Dezember 1970 endgültig eingestellt. Die Summe floss, gemeinsam mit staatlichen Geldern, in eine Stiftung, die 1972 errichtet wurde und bis heute die sogenannten Contergan-Renten an die Opfer auszahlt. Der Fall war damit juristisch weitgehend abgeschlossen.

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„Nur das atoxische N-Phthalyl-glutaminsäure-imid.“ Contergan-Reklame.

Der Contergan-Skandal im neuen Jahrtausend

Das mediale Interesse an Contergan ebbte nach dem Prozess und der Stiftungsgründung stark ab, erfährt aber seit rund zehn Jahren wieder größere Aufmerksamkeit, nachdem er in Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit vermehrt thematisiert wurde. Neue Indikationsgebiete für Thalidomid verwandelten den verteufelten Arzneistoff in einen therapeutischen Hoffnungsträger. Vor allem aber hat der mehrfach prämierte TV-Zweiteiler „Contergan“ aus dem Jahr 2007 das Thema in das Zentrum des öffentlichen Diskurses geschoben. Zudem sind in den letzten Jahren zahlreiche autobiografische Veröffentlichungen Betroffener erschienen, die deren gesellschaftliche Situation anschaulich schildern. Hinzu kamen im Laufe der Zeit immer wieder neue Aspekte, darunter die schweren Spät- und Folgeschäden der Opfer. Contergan beschäftigt daher weiterhin die Politik. Seit der Jahrtausend­wende kam es zu mehreren Änderungen des Conterganstiftungsgesetzes, die unter anderem die Renten massiv erhöhten, bevor Anfang 2017 das vierte Änderungsgesetz in Kraft trat. |

Literaturtipp

Unser Autor hat sich in seiner Dissertationsschrift ausführlich mit der Gesundheitsaufsicht und Strafjustiz in den „langen sechziger Jahren“ beschäftigt. Da die Aufsicht über das Gesundheitswesen in den 1960er-Jahren hauptsächlich den Bundesländern oblag und der Hersteller in Stolberg bei Aachen saß, fiel das Präparat in die Zuständigkeit der nordrhein-westfälischen Landesbehörden. Zum anderen lag die strafrechtliche Verfolgung des Falles im Amtsbereich der nordrhein-westfälischen Justiz. Vor diesem Hintergrund beleuchtet die Arbeit die Rolle der staatlichen Arzneimittelaufsicht bis zur Marktrücknahme Contergans, die gesundheits- und sozialpolitischen Reaktionen des Landes und die strafrechtliche Aufklärung des Falles Contergan, die zu dem bis dahin umfangreichsten Strafrechtsverfahren der neueren deutschen Geschichte führte.


Niklas Lenhard-Schramm

Das Land Nordrhein-West­falen und der Contergan-Skandal

Gesundheitsaufsicht und Strafjustiz in den „langen sechziger Jahren“

Dissertationsschrift

2016 , 944 S., gebunden, 90 EUR

Vandenhoeck & Ruprecht.
ISBN 978-3-525-30178-4


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Autor

Dr. Niklas Lenhard-Schramm ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte sind u. a. die Arzneimittel­regulierung und der Medikamentenkonsum.

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