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Digitales für Apotheker
Blasenschwäche und Inkontinenz
Gibt es digitale Hilfen aus den App-Stores? – „Digitales für Apotheker“ (Folge 6)
Von Ursula Kramer | Unkontrollierter Harnverlust ist ein Problem, das viele Menschen betrifft [1] und über das niemand gerne spricht, auch nicht mit der Apothekerin. Für Frauen nach Geburten ist es häufig eine temporäre Belastung. Für ältere Menschen werden Blasenschwäche und damit einhergehende Inkontinenz häufig zum dauerhaften Problem, Frauen wie Männer sind davon betroffen. Soziale Isolation, eingeschränkte Mobilität und Lebensqualität, Angst vor Kontrollverlust, das alles machen Betroffene häufig lange mit sich selbst aus, bevor sie sich hilfesuchend an Arzt und Apotheker wenden. Internet oder App-Stores bieten den Schutz der Anonymität und sind bei der weiten Verbreitung der Smartphones über alle Altersgruppen hinweg, geradezu prädestiniert als erste Anlaufstelle bei Tabuthemen wie Angststörungen, Depression oder eben auch Blasenschwäche. Und tatsächlich können – in allen drei Indikationen – Selbsthilfeinterventionen wissenschaftlich gesichert die Belastung Betroffener verringern [2, 3]. Der Apotheker, der diese Angebote kennt, kann sie in der Beratung nutzen, der Hinweis auf effektive Selbstlernprogramme zur Vorbeugung oder Linderung von unkontrolliertem Harnverlust, wird von Betroffenen vermutlich dankbar aufgegriffen. Welche Angebote es derzeit gibt, hat HealthOn im November analysiert [4].
Anleitung und Motivation durch Apps
Nach der Schwangerschaft, als Teil der Rückbildungsgymnastik, hat das Training des Beckenbodens seinen festen Platz. Das Problem – gerade jungen Müttern, für die die Umstellung auf ein Leben mit Kind organisatorisch vieles durcheinanderwirbelt, fällt es schwer, zu einer festen Zeit an einem bestimmten Ort am Training teilzunehmen.
Mit einer App, die videounterstützt das Training zu Hause anleitet und mehrmals täglich an die Übungen erinnert, wird es vermutlich leichter, dranzubleiben. Das ist das Konzept von Pelvina, einer App zum Beckenbodentraining, die durch die Zentrale Prüfstelle für Prävention vor gut einem Jahr zertifiziert worden ist [5, 6].
Beckenboden-Apps – wissenschaftlich evaluiert
Welche Voraussetzung eine App für die Zertifizierung erfüllen muss, definiert die Prüfstelle in ihrem Anforderungskatalog [7] für sogenannte IKT-basierte Selbstlernprogramme (IKT = Informations- und Kommunikationstechnologie-basiert) – dazu zählen auch Gesundheits-Apps. Diese Apps sind dann nach SGB V § 20 erstattungsfähig. So muss beispielsweise die Kursleiterin für die App-Nutzer erreichbar sein, z. B. via Chat. Eine Erfolgskontrolle ist verpflichtend, d. h. die App-Nutzer müssen nach jeder Einheit ein Wissens-Quiz erfolgreich bestehen. Außerdem werden die App-Kosten (rund 75 Euro für acht bis zehn Wochen Training) nur dann von gesetzlichen Krankenkassen bis zu 100% erstattet, wenn alle Trainingseinheiten absolviert worden sind. Bei der verpflichtenden Re-Zertifizierung nach einem Jahr muss die App vorlegen, wie die Nutzer das Angebot einschätzen, d. h. wie sich unkontrollierter Harnverlust und damit Lebensqualität der Nutzer verbessert haben. Bisher wird diese App (1000 Downloads seit 10.01.2018) sowie andere Beckenboden-Apps eher verhalten nachgefragt [4]. Die mit weitem Abstand beliebteste App ist „Kegel“, ein geschlechtsneutraler Trainer mit Beckenboden-Trainingsübungen für Männer und Frauen. Diese erreicht derzeit 500.000 Downloads [8].
Dass Lebensstil und regelmäßiges Beckenbodentraining unterstützt durch eine App das Problem des unkontrollierten Harnverlustes beim Husten, beim Heben, beim Lachen verringern können, ist in wissenschaftlich kontrollierten Studien mit der App „Tät – Beckenbodentraining“ von der Universität Umea untersucht worden [3]. Eine Kombination aus Information, Beratung und Beckenbodentraining führt demnach bei zwei Dritteln zu einer teilweisen oder vollständigen Besserung der Inkontinenz [9]. Am meisten profitieren Frauen mit hoher Selbstwirksamkeitserwartung, die einen positiven Effekt des Beckenboden-Trainings erwarten, die ihr Übergewicht reduzieren und diszipliniert ihre Trainingseinheiten durchführen [9]. Die kostenlose App „Tät – Beckenbodentraining“ ist auch in deutscher Sprache erhältlich und als CE-gekennzeichnetes Medizinprodukt der Klasse I registriert [10].
Abverkaufshilfe für Inkontinenzprodukte
Das Spektrum der Betroffenen, die von einem Beckenbodentraining profitieren könnten, ist sehr heterogen: Wie bereits beschrieben, sind es jüngere Frauen nach der Geburt, sowie Frauen, aber auch Männer in höherem Lebensalter mit erschlaffender Beckenbodenmuskulatur. Während für junge Mütter die Rückbildungsgymnastik im Vordergrund steht [11], bieten Apps für ältere Menschen über das Beckenbodentraining hinaus z. B. auch Hilfe bei der Suche bzw. Auswahl geeigneter Hilfen für das dauerhafte Inkontinenzproblem [12]. Über ein Miktionstagebuch können z. B. die Trink- und Ausscheidungsmengen festgehalten werden. Der Betroffene oder wahlweise auch dessen Angehörige können auf dieser Basis die individuelle Belastung erfassen und erhalten Empfehlungen für geeignete Einlagen und Vorlagen, die sie über die App online bestellen können. Der App-Anbieter Seni, der gleichzeitig auch Anbieter der Inkontinenzprodukte ist, nutzt die Beckenboden-App in diesem Fall als Teil des digitalen Direktvertriebskonzeptes zum Abverkauf seiner Produkte.
Beckenboden-Apps für Männer
Beckenboden-Apps, die sich ausschließlich an Männer richten, gibt es auch. Schließlich sind 7,5% der 50- bis 59-Jährigen betroffen, in der Altersgruppe der 70 bis 79-Jährigen leidet fast jeder vierte an unkontrolliertem Harnverlust [1]. So nutzt der bekannte Hersteller Tena eine solche Männer-App, um über Inkontinenzhilfen speziell für Männer zu informieren [13].
Auch der National Health Service (NHS) in England empfiehlt eigens für Männer eine App – Squeezy Beckenboden-Training [14, 15]. Mit der App kann das Training, das zuvor mit der behandelnden Physiotherapeutin individuell auf den Patienten abgestimmt wurde, bequem zu Hause durchgeführt werden. Die kostenpflichtige und derzeit nur in englischer Sprache verfügbare App gibt es auch in einer Ausführung speziell für Frauen.
Technische Hilfen zur Entlastung der Pflege
Auch die häusliche Pflege von inkontinenten Patienten soll durch digitale Hilfsmittel zukünftig erleichtert werden. So senden z. B. Sensoren in Betteinlagen Signale an die Texible Wisbi App, um pflegenden Angehörigen nachts zu melden, dass die Windel gewechselt werden muss [16], oder dass der sturzgefährdete Patient das Bett verlassen hat.
Auch in der Dekubitusprophylaxe im stationären Bereich spielen sensorgestützte Meldesysteme eine zunehmende Rolle. So zeichnen sie z. B. die Bewegungen immobiler Risikopatienten auf, so dass das Pflegepersonal an die regelmäßige Lagerung erinnert wird und die Patienten so besser vor Dekubitus schützen kann [17].
Zukunft digitaler Inkontinenz- und Pflegehilfen
Mit zunehmender Alterung der Gesellschaft und der wachsenden Medienkompetenz der Betroffenen – die Babyboomer-Generation kommt ins Rentenalter – wird wohl das Auffinden und die diskrete Online-Beratung und Online-Bestellung geeigneter Inkontinenz-Hilfsmittel unterstützt durch Apps an Bedeutung gewinnen. Auch die Nachfrage nach sinnvollen, digitalen Hilfen zur Unterstützung pflegender Angehöriger wird steigen. Apotheker, die sich auf diesem Gebiet auskennen und den Nutzen digitaler Angebote einschätzen können, qualifizieren sich als Ansprechpartner für die Optimierung zukünftiger Präventions- und Versorgungskonzepte der alternden Bevölkerung. |
Literatur
[1] Harninkontinenz Heft 39. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Robert Koch-Institut http://www.gbe-bund.de/gbe10/abrechnung.prc_abr_test_logon?p_uid=gast&p_aid=0&p_knoten=FID&p_sprache=D&p_suchstring=11170
[2] Mental Health Selbsthilfeinterventionen: RCT-Studien. Online-Intervention Depression. Online-Intervention Angst
[3] Sjöström M, Umefjord G, Stenlund H, Carlbring P, Andersson G, Samuelsson E. Internet-based treatment of stress urinary incontinence: a randomised controlled study with focus on pelvic floor muscle training. BJU Int. 2013;112:362–372. doi: 10.1111/j.1464-410X.2012.11713.x. [PMC free article] [PubMed] [CrossRef]
[4] HealthOn: Screening Beckenboden/Inkontinenz-Apps 11/2018.
[5] Pelvina Testbericht HealthOn https://www.healthon.de/testberichte/pelvina-beckenbodenkurs
[6] Pelvina Prüfzertifikat Deutscher Standard Prävention. https://pelvina.de/tmp/pelvina_zertifikat_zpp.pdf
[7] Zentrale Prüfstelle Prävention. Information für Anbieterinnen und Anbieter von IKT-basierten Selbstlernprogrammen https://www.zentrale-pruefstelle-praevention.de/admin/download.php?dl=pruefung_online_angebote
[8] Beckenboden Training – Kegel https://play.google.com/store/apps/details?id=com.jsdev.pfei
[9] Nyström E, Asklund I, Sjöström M, Stenlund H, Samuelsson E. Treatment of stress urinary incontinence with a mobile app: factors associated with success. Int Urogynecol J. 2017;29(9):1325-1333.
[10] Tät Beckenbodentraining https://play.google.com/store/apps/details?id=se.umu.its.tat
[11] Rückbildung – Die App für deinen Beckenboden https://play.google.com/store/apps/details?id=com.afterbirth.rueckbildung
[12] SeniControl, SENA: https://play.google.com/store/apps/details?id=pl.seni.dziennik
[13] PC-Muskel-Workout, TENA https://play.google.com/store/apps/details?id=de.jaf.pcw
[14] Squeezyapp in Google Play https://www.squeezyapp.com/
[15] Testbericht NHS Library https://apps.beta.nhs.uk/squeezy/
[16] Texible Sensor-gestützte Betteinlagen https://play.google.com/store/apps/details?id=at.arkulpa.wisbi.wisbi_android
[17] Leaf Healthcare http://leafhealthcare.com/
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