DAZ aktuell

Streit um den unvermeidlichen Verwurf

Kein unlösbares Problem – am Ende vielleicht sogar eine Win-win-Situation?

Von Franz Stadler | Seit Jahren streiten sich die AOK Bayern und die zubereitenden Apotheken über die Abrechnung unvermeidlicher Verwürfe bei parenteralen Zubereitungen. Hintergrund dieser Auseinandersetzungen, die bereits verschiedene Sozialgerichte beschäftigen, ist die Frage der Haltbarkeit der bei der Zubereitung verbleibenden Restmengen. Es geht ­natürlich um Geld, aber auch um eine mögliche Gefährdung der Patientengesundheit. Dr. Franz Stadler schlägt jetzt eine neue Lösungs­strategie vor, die eine Win-win-­Situation sein könnte.
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Wohin mit dem Rest? Die AOK Bayern will, dass die Haltbarkeiten der bei der ­parenteralen Zubereitung verbleibenden Restmengen länger gewählt werden dürfen.

Die Positionen sind verhärtet. Die AOK Bayern beruft sich auf das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V (§12) und auf Publikationen unterschiedlichsten ­Ursprungs, die in Datenbanken (z. B. Stabilis) oder in Listen (z. B. die sogenannte Krämerliste) zusammengefasst sind und die nahelegen, dass die in den Fachinformationen der pharmazeutischen Unternehmen (pU) angegebenen Haltbarkeiten aus naturwissenschaftlicher Sicht möglicherweise zu kurz sind. Sie weigert sich deshalb, unvermeidliche Verwürfe zu bezahlen und retaxiert viele zubereitende Apotheken regelmäßig. Selbst die vertraglich verbindlichen Hilfstaxenverein­barungen zwischen dem GKV-Spitzenverband, dem auch die AOK Bayern angehört, und dem Deutschen Apothekerverband (DAV), die eine juristisch und haftungsrechtlich eindeutige Regelung zur Abrechnung von Verwürfen enthält, wird bewusst ignoriert. Die AOK Bayern sieht sich in dieser Sache als eine der größten Krankenkassen des GKV-Systems in einer Vorreiterrolle und möchte deshalb ihre Position juristisch vor dem Bundessozialgericht (BSG) klären lassen. Auch aus diesem Grund akzeptiert sie bisher keine Sozialgerichtsurteile der ersten oder zweiten Instanz und geht immer wieder in Revision.

Haltbarkeitsangaben überschreiten?

Nachvollziehbar ist andererseits auch die Position der zubereitenden Apotheken. Sie sind gesetzlich verpflichtet, den Angaben der Fachinformationen der pU und den Abrechnungsregeln der Hilfstaxe Folge zu leisten. Allein aus haftungsrechtlichen Gründen ist dies zwingend. Kein Zubereiter kann die Haftung für Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Wirkstoffe übernehmen. Selbst bei bestem Willen und optimaler Ausstattung kann ein Dritter in vielen Fällen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nicht einmal valide testen. Eine valide Testung setzt beispielsweise bei Antikörpern eine genaue Kenntnis der Produktspezifikationen voraus, die aber Produktionsgeheimnis sind und deshalb nur dem pU und der Zulassungsbehörde (hier der EMA) bekannt sind. Ein Überschreiten der Haltbarkeitsangaben der pU kann also zu einer Gefährdung der Patientengesundheit führen. Diesen Umstand erkennt selbst Frau Prof. Krämer, die Namensgeberin der bereits erwähnten Krämerliste, in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ vom 13. Juli 2016 an. Die Haltbarkeiten länger auszureizen sei oft möglich, so Krämer, doch legal und im Sinne der Patienten sei das nicht.

Zum gleichen Ergebnis kommen alle bisherigen Sozialgerichtsurteile (z. B. Sozialgericht Würzburg Az.: S17 KR 260/14 vom 14.04.2016).

Mögliche Win-win-Situation

Jetzt könnte man als Unbeteiligter meinen, dass die ganze Sache nur eine Frage der Zeit wäre, bis das Bundessozialgericht letztinstanzlich entscheidet und das weitere Vorgehen dann eindeutig ist. Selbst wenn man die lange Verfahrensdauer (in einigen Fällen jetzt bereits mehr als fünf [!] Jahre), die damit verbundenen erheblichen wirtschaftlichen Belastungen der zubereitenden Apotheken und die zwischenzeitliche mögliche Gefährdung der Patienten vernachlässigt, selbst dann ist das ein Trugschluss.

Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder verliert die AOK Bayern letztinstanzlich das sozialgerichtliche Verfahren, was aus Sicht des Autors die wahrscheinlichere Variante ist, oder sie gewinnt – der Gesamtkomplex Verwürfe ist aber in beiden Fällen nicht zufriedenstellend gelöst. Denn gewinnt die AOK wäre die Gültigkeit der Fachinformationen (und damit das Arzneimittelgesetz, AMG) infrage gestellt und jeder Zubereiter könnte sich, je nach seinen logistischen oder wirtschaftlichen Bedürfnissen, aus der Vielzahl der nicht validierten Haltbarkeitsangaben eine passende aussuchen. Haltbarkeiten wären also beliebig und die Arzneimittelsicherheit massiv gefährdet. Verliert die AOK Bayern aber letztinstanzlich wären zwar die Gültigkeit der Fachinformationen und der Hilfstaxe be­stätigt, aber es würden sich keinerlei Einsparungen für das Sozialsystem ergeben. Dabei wären aber sehr wahrscheinlich Einsparungen ohne Qualitätsverlust möglich. Dazu ist aber ein Strategiewechsel der AOK Bayern nötig.

Betrachtet man das Verwurfsproblem unvoreingenommen, so wird deutlich, dass nicht die zubereitenden Apotheken die verantwortlichen Kostenver­ursacher sind – sie arbeiten nur lege artis – sondern die pU mit ihren möglicherweise zu kurzen Haltbarkeits­angaben in den Fachinformationen und ihren unpassenden Packungs­größen, die zwangsläufig zu unvermeidlichen Verwürfen führen müssen.

Das alternative Vorgehen sieht also wie folgt aus:

1. Die AOK Bayern ermittelt – sofern nicht bereits geschehen und falls gewünscht mit Unterstützung der zubereitenden Apotheken – eine Liste der Wirkstoffe, die hohe Verwurfskosten verursachen und deren Literaturangaben ihrer Meinung nach valide den Verdacht nahelegen, dass die Haltbarkeitsangaben der Fachinformationen zu kurz oder zu unpräzise sind.

2. Die AOK Bayern schreibt die entsprechenden pU an und bittet diese, zu ihren begründeten Bedenken hinsichtlich der Haltbarkeitsangaben Stellung zu nehmen – nicht ohne zuvor eindringlich auf die Verpflichtung der pU hinzuweisen, dass diese nach §11a AMG ihre Fachinformationen auf dem Stand der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu halten haben.

3. In der Folge werden entweder die Angaben der Fachinformationen durch den pU für alle verbindlich angepasst oder falls dies nicht geschieht, bleibt der AOK Bayern der Klageweg gegen den entsprechenden pU offen. Zuständig für diese Klagen ist dabei nicht die Sozialgerichts­barkeit, was deutlich kürzere Verfahrenszeiten erwarten lassen kann.

Die Ergebnisse dieser Strategie werden in jedem Fall rechtssichere Haltbarkeitsangaben in den Fachinformationen, was für die zubereitenden Apotheken und im Sinne der Arzneimittelsicherheit zwingend zu fordern ist, und in einigen (vielen?) Fällen auch Einsparungen für das Sozialsystem sein. Die AOK Bayern hätte endlich den richtigen Adressaten für ihr Wirtschaftlichkeitsgebot, würde nicht möglicherwiese auf dem Rücken der Patientengesundheit sparen und sich um das deutsche Gesundheitssystem verdient machen.

Setzt dann der Gesetzgeber die alte, bisher unerfüllte Forderung um, bei Neuzulassungen Haltbarkeitsuntersuchungen von mindestens vier Wochen zwingend vorzuschreiben, ist das Verwurfsproblem für alle zufriedenstellend gelöst. Auch die zubereitenden Apotheken in Bayern könnten wieder wirtschaftlich planbar und arznei­mittelrechtlich sicher arbeiten. |

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