Arzneimittel und Therapie

Krebs durch Krebstherapie

Chemotherapie solider Tumore ist mit erhöhtem Risiko für Leukämien assoziiert

Moderne Krebstherapien in Kombination mit besserer Früherkennung und effektiven Supportivtherapien ermöglichen immer längere Über­lebenszeiten für Krebspatienten. Wenn der primäre Tumor verschwunden ist, können allerdings sekundäre Krebserkrankungen auftreten, unter anderem das myelodysplastische Syndrom (MDS) oder eine akute myeloische Leukämie (AML). Absolut betrachtet sind solche therapieassoziierten Leukämien (tMDS/AML) zwar selten, haben aber eine schlechte Prognose.

Eine US-amerikanische Registerauswertung der Daten von 700.612 Patienten hat die Häufigkeit dieser sekundären Neoplasien nun erstmals in großem Rahmen quantifiziert. Sie zeigt, dass bis auf das Kolonkarzinom alle berücksichtigten soliden Tumore mit einem erhöhten Risiko für Leukämien assoziiert sind. In die Studie gingen Daten von Krebspatienten im Alter von 20 bis 84 Jahren ein. Die Patienten mussten in den Jahren 2000 bis 2013 nach der Erstdiagnose eines soliden Primärtumors chemotherapeutisch behandelt worden und danach ein Jahr lang frei von sekundären Krebserkrankungen gewesen sein. Bei ihnen wurde den Verlaufsdaten entnommen, ob sie eine tMDS/AML entwickelten. Analysiert wurde ein Zeitraum von einem Jahr nach Therapieende – damit die Ergebnisse durch die engmaschigeren Nachkontrollen in diesem ersten Jahr gegenüber der all­gemeinen Bevölkerung nicht verzerrt werden – und einem der folgenden Ereignisse: Diagnose eines sekundären Malignoms, Tod, 85. Geburtstag, Ausscheiden aus der Datenerfassung oder Ende der Studie am 31. Dezember 2014. Betrachtet wurden 23 solide Tumorentitäten, darunter häufige Formen, wie Brustkrebs der Frau, der allein 36% der Fälle ausmachte, das nichtkleinzellige Bronchialkarzinom (12%) und das Kolonkarzinom (10%).

Die Daten stammten aus zwei großen Datenbanken, dem National Cancer Institute’s Surveillance, Epidemiology, and End Results (SEER)-Programm, in dem eine langfristige und systematische Nachbeobachtung vieler Tausender Krebspatienten erfolgt, und der SEER-Medicare-Datenbank, die die SEER-Daten der über 65-Jährigen mit Therapiedaten der Krankenversicherungen verknüpft. Auf diese Weise konnten die Forscher Rückschlüsse auf die Chemotherapien ziehen, die besonders häufig mit der tMDS/AML assoziiert sind. Um das relative Erkrankungsrisiko zu berechnen, wurden diese Daten mit denen der all­gemeinen Bevölkerung verglichen.

Höchstes Risiko bei Knochenkrebs

Unter den mehr als 700.000 ausgewerteten Patienten mit soliden Tumoren gab es 1619 Fälle von tMDS/AML, was einer Häufigkeit von 2,3 Fällen pro 1.000 chemotherapeutisch behandelten Krebspatienten entspricht. Die tMDS/AML-Patienten waren im Schnitt 64,3 Jahre alt, 71% waren weiblich. Am höchsten war die standardisierte Inzidenzrate (SIR) – also das relative Risiko im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung – für eine tMDS/AML bei Patienten mit Knochenkrebs (SIR 39,0; 95%-Konfidenzintervall [KI] 21,4 bis 65,5). Mit großem Abstand folgten danach Tumoren des Hodens (SIR 12,3; 95%-KI 7,6 bis 18,8) und der Weichgewebe (SIR 10,4; 95%-KI 6,4 bis 15,9). Einen Überblick über die relativen Risiken gibt Abb. 1.

Für sechs der untersuchten Tumorentitäten war das Risiko einer tMDS/AML in den ersten fünf Jahren nach der Therapie statistisch signifikant höher als in den darauf folgenden Jahren (Ösophagus, Magen, Weichteile, Brustkrebs der Frau, Uterus, Hoden). Das Gesamtüberleben der Patienten mit einer tMDS/AML war gering: 78,4% verstarben im Beobachtungszeitraum der Studie. Die mediane Überlebenszeit lag bei sieben Monaten.

Abb. 1: Relative Risiken einer therapieassoziierten Leukämie bei chemo­therapeutisch behandelten soliden Primärtumoren. Mit Ausnahme des Kolonkarzinoms war das Risiko für eine tMDS/ALL bei allen in der Studie betrachteten Tumorentitäten erhöht. NSCLC: nichtklein­zelliges Bronchialkarzinom; SCLC: kleinzelliges Bronchialkarzinom; ZNS: zentrales Nervensystem.

Mehr leukämogene Substanzen

Die Auswertung der SEER-Medicare-Daten von 477.688 Patienten zwischen 66 und 84 Jahren aus dem Gesamt­kollektiv zeigte, dass sich die Therapiegewohnheiten in dem betrachteten Zeitraum veränderten. Während in den Jahren 2000/2001 etwas mehr als die Hälfte (57%) dieser Patienten eine Therapie erhielt, die mit Alkylanzien, Platinderivaten oder Topoisomerase-II-Hemmern bekannte Auslöser sekundärer Leukämien beinhaltete, waren es in den Jahren 2012/2013 dann 81%. Diese Steigerung beruhte auf einem vermehrten Einsatz von Platinderivaten – und hier wiederum von Carboplatin (beim Magen- und Kolonkarzinom auch Oxaliplatin).

Die Autoren schlussfolgern aus den Studiendaten, dass etwa Dreiviertel aller Fälle von tMDS/AML in den nächsten fünf Jahren mit einer vor­herigen Chemotherapie assoziiert sein werden. Daher sollten das Risiko sekundärer Leukämien und andere Langzeitrisiken bei der Entscheidung über die Therapie berücksichtigt und dem erwarteten Therapienutzen gegenübergestellt werden. |

Quelle

Morton LM et al. Association of Chemotherapy for Solid Tumors With Development of Therapy-Related Myelodysplastic Syndrome or Acute Myeloid Leukemia in the Modern Era. JAMA Oncol 2018; doi:10.1001/jamaoncol.2018.5625

Autorin

Dr. Dorothee Dartsch,

Apothekerin und Fachtoxikologin. Leiterin CaP Campus Pharmazie. Koordinatorin der DGOP-Initiative „Orale Krebstherapie“


„Das absolute Risiko ist zum Glück gering“ 

Ein Gastkommentar von Dr. Dorothee Dartsch

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Die Autoren dieser Studie haben mit ihrem Beleg für ein erhöhtes Risiko der Entwicklung sekundärer Leu­kämien im Anschluss an die Therapie eines soliden Tumors eine aus Fallberichten, Fall-Kontroll-Studien und kleineren Beobachtungsstudien gewonnene Vermutung quantitativ untermauert. Ihre Daten zeigen auch, dass das absolute Risiko zum Glück gering ist: Von 1000 Krebspatienten, die chemotherapeutisch unter anderem mit Alkylanzien, Platinderivaten und/oder Topoisomerase-II-Hemmern behandelt wurden, wurde bei 998,7 Patienten während des Beobachtungszeitraums keine sekundäre Leukämie diagnostiziert.

Da die soliden Tumoren, die mit dem höchsten tMDS/AML-Risiko asso­ziiert waren (Knochen- und Hoden-Tumoren) häufig in jüngerem Lebensalter auftreten und die SEER-Medicare-Daten nur für ältere Patienten zur Verfügung stehen, war hierfür in der vorliegenden Aus­wertung keine Gegenüberstellung von Therapie und Risiko möglich.

Von den Patienten mit Weichteil­tumoren, für die ebenfalls ein relatives Risiko über 10% gefunden wurde, erhielten nur 40% eine Therapie mit einem Alkylans, Platinderivat oder Topoisomerase-II-Hemmer, 50% wurden mit Chemotherapeutika behandelt, die kein bekanntes Risiko für sekundäre Leukämien bedeuten (z. B. Gemcitabin), bei 10% war die Chemotherapie nicht eindeutig angegeben. Umgekehrt nahm die Therapie des Kolonkarzinoms, für das keine Assoziation mit tMDS/AML gefunden wurde, mit Oxaliplatin im Beobachtungs­zeitraum von 1% in den Jahren 2000/2001 auf 77% in den Jahren 2012/2013 zu.

Keine kausalen Rückschlüsse

Es ist nicht möglich, aus den Daten Gründe für die unterschiedlich hohen Risiken, die mit den verschiedenen Tumorentitäten und Therapien assoziiert sind, abzuleiten oder über kausale Verknüpfungen zu entscheiden, sagen auch die Autoren der Studie. Zum einen fehlen die Details der Chemotherapien (Folgetherapien, Dosierungen, Therapiedauer, und orale Therapien z. B. mit Cyclophosphamid oder Temozolomid werden in den SEER-Daten ohnehin nicht lückenlos erfasst), zum anderen lässt mit der Registerstudie auch das Studiendesign dies prinzipiell nicht zu. Ob Oxaliplatin weniger myelotoxisch ist als andere Substanzen oder ob noch keine ausreichende Nachverfolgungszeit bestand (Oxaliplatin wurde erst gegen Ende der Studie in großem Umfang eingesetzt), und ob auch immunsupprimierende Wirkstoffe ohne mutagenes Potenzial das Risiko erhöhen, lässt sich aktuell nicht sagen. Dies ließe sich nur mit einer prospektiven kontrollierten Studie mit ausreichend langer Laufzeit ermitteln. Vermutlich haben auch genetische Prädispositionen einen Einfluss auf das Risiko, zum Beispiel wenn detoxifizierende Enzyme oder Mechanismen der DNA-Reparatur betroffen sind. Dass es die pros­pektiven Studien bislang nicht gibt, liegt ­allerdings nicht am mangelnden ­Interesse, sondern daran, dass die tMDS/AML so (erfreulich) selten auftritt und sich darum schwer in solchen Studien unter­suchen lässt.

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