Arzneimittel und Therapie

Windpocken: Finger weg von Ibuprofen?

Französische Arzneimittelbehörde warnt vor schweren Infektionskomplikationen

rr | Einer aktuellen Pharmakovigilanzanalyse aus Frankreich zufolge können sich Infektionen unter nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) erheblich verschlimmern. Ganz neu ist diese Sorge nicht: Deutsche Fachinformationen enthalten bereits den Hinweis, dass Ibuprofen das Risiko für schwere Haut- und Weichteilinfektionen erhöhen kann, vor allem während einer Infek­tion mit Varizellen. Grund genug, die Wahl von vornherein auf Paracetamol zu beschränken?
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Ist Paracetamol bei Windpocken die bessere Wahl?

Von den seit 2000 in den Pharmakovigilanz-Zentren in Tours und Marseille gemeldeten Fällen wurden 337 infektiöse Komplikationen im Zusammenhang mit Ibuprofen und 49 im Zusammenhang mit Ketoprofen genauer unter die Lupe genommen – darunter Haut- und Weichteilinfektionen, Sepsis, pleuro-pulmonale, neurologische oder Hals-Nasen-Ohren-Infektionen. Ausgewählt wurden nur die schwerwiegendsten Fälle bei Kindern und (oft jungen) Erwachsenen ohne Risikofaktoren oder Komorbiditäten. Diese infektiösen Komplikationen wurden hauptsächlich durch Streptokokken oder Pneumokokken verursacht und traten bereits nach sehr kurzen Behand­lungszeiten von zwei bis drei Tagen auf, auch wenn die Verwendung von NSAR mit einer Antibiotika-Therapie verbunden war.

Gefürchtete Hautinfektionen

Die französische Arzneimittelbehörde ANSM (Agence nationale de sécurité du médicament et des produits de santé) kritisiert, dass Ibuprofen nach wie vor bei Windpocken zum Einsatz kommt, obwohl das Risiko für schwere bakterielle Hautkomplikationen, ins­besondere von nekrotisierender Fasziitis (s. Kasten „Nekrotisierende Fasziitis“), seit Langem bekannt ist. Ihr Urteil fällt daher eindeutig aus: Paracetamol sollte bei Schmerzen und Fieber immer der Vorzug gegeben werden, insbesondere im Zusammenhang mit häufigen Infek­tionen wie Angina, Rhinopharyngitis, Otitis, Husten, Lungenentzündung, Hautläsion oder Windpocken.

Nekrotisierende Fasziitis

Bei der nekrotisierenden Fasziitis handelt es sich um eine bakterielle Weichteilinfektion der Haut, Unterhaut und Faszien. Erste Symptome sind lokale Schmerzen und Fieber. Im weiteren Verlauf kommt es zur Schwellung und Blasenbildung, das betroffene Gewebe stirbt ab. Die Sterblichkeit ist hoch. Eine Behandlung sollte schnellstmöglich erfolgen.

Auf keinen Fall ASS!

Mit dieser Einschätzung ist Frankreich nicht allein. Der Nationale Gesundheitsdienst (NHS, National Health Service) Großbritanniens empfiehlt bei Windpocken ebenfalls Paracetamol und rät ausdrücklich von Ibuprofen ab, es sei denn, die Anwendung erfolgt auf ärztliche Verordnung. Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC), US-Bundesbehörde des amerikanischen Gesundheitsministeriums, sehen das mit Berufung auf die American Academy of Pediatrics ähnlich. Dagegen lässt die American Academy of Dermatology die Wahl zwischen Paracetamol und Ibuprofen offen. Einig­keit herrscht in Bezug auf Salicylate: Wegen der Gefahr des Reye-Syndroms, einer akuten Enzephalopathie, die vor allem im Kindesalter auftreten und tödlich verlaufen kann, ist Acetylsalicylsäure (ASS) bei Infektionen mit Varizellen kontraindiziert.

Risikofaktor Windpocken

Gemäß einer prospektiven populationsbasierten Untersuchung aus Kanada erhöht eine Varizellen-Infektion das Risiko für eine invasive Infektion mit Streptokokken der Gruppe A, dem häufigsten Erreger der nekrotisierenden Fasziitis, um das 58-Fache und stellt damit den wichtigsten Risikofaktor beim Kind dar. Ob Ibuprofen die Gefahr weiter in die Höhe treibt, wurde bisher nicht eindeutig bewiesen. Denkbar wäre eine weitere Schwächung des ohnehin angeschlagenen Immunsystems. Die Studienautoren um Laupland konnten jedoch keinen kausalen Zusammenhang feststellen: 95% der betroffenen Kinder hatten gar kein Ibuprofen erhalten.

Tipps bei Windpocken

  • Bläschen nicht aufkratzen
  • Fingernägel kurz schneiden, um Kratzwunden und Narben zu vermeiden
  • längere Bäder vermeiden, besser kurz duschen
  • im Bläschenstadium kalte Umschläge, Puder oder zinkhaltige Schüttelmixturen (ggf. mit synthetischem Gerbstoff) auftragen
  • auf Hygiene achten
  • Quarantäne, Ansteckungsgefahr bis zum vollständigen Verkrusten aller bläschenförmigen Effloreszenzen (bis zu sieben Tage)

[Quelle: Winterhagen I. Quälender Juckreiz. DAZ 2014, Nr. 37, S. 52]

Bester Schutz: Impfung

In Deutschland reagiert man deshalb zurückhaltend auf die Warnungen aus Frankreich. Eine Varizellen-Infektion stellt nach wie vor keine Kontraindikation von Ibuprofen dar. Nach Meinung von Prof. Dr. Fred Zepp, Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugend­medizin an der Universitätsmedizin Mainz, wäre diese Maßnahme auch nicht angebracht (siehe Interview auf S. 25). Der beste Schutz vor Komplikationen unter Windpocken bietet die aktive Immunisierung. Seit August 2004 wird sie von der Ständigen Impfkommission (STIKO) für alle Kinder und Jugendlichen empfohlen. Die erste Dosis sollte im Alter von elf bis 14 Monaten erfolgen, die zweite Dosis im Alter von 15 bis 23 Monaten. |

Quelle

Agence nationale de sécurité du médicament et des produits de santé (ANSM). Anti-inflammatoires non stéroïdiens (AINS) et complications infectieuses graves. Meldung vom 18. April 2019. www.ansm.sante.fr; Abruf am 13. Juni 2019

Fachinformation Ibuprofen AL 2% Saft für Kinder, Stand Januar 2018

National Health Service (NHS). Chickenpox. www.nhs.uk; Abruf am 13. Juni 2019

Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Chickenpox (Varicella) – Prevention and Treatment. www.cdc.gov; Abruf am 13. Juni 2019

American Academy of Dermatology. How to care for children with chickenpox. www.aad.org; Abruf am 13. Juni 2019

Laupland KB et al. Invasive Group A Streptococcal Disease in Children and Association With Varicella-Zoster Virus Infection. Pediatrics 2000;105(5):E60

Relly C. Ibuprofen bei Varizellen nicht kontraindiziert. Replik zum Artikel „Paracetamol und Ibuprofen in der Pädiatrie“ von K. Dao et al. erschienen in der Paediatrica 2016;27(2)

Robert Koch Institut (RKI). Ratgeber zu Windpocken (Varizellen) und Gürtelrose (Herpes zoster). www.rki.de; Abruf am 13. Juni 2019

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