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Physiologie
Gezielte Müllbeseitigung
Die Guten ins Töpfchen und die Schlechten ins Kröpfchen – geht das in der Zelle?
1977 wurde in eukaryontischen Zellen eine komplexe Proteinstruktur beschrieben, die relativ schnell den Spitznamen des „zellulären Mülleimers“ erhielt: das Proteasom. Damit war nach dem Lysosom und den darin enthaltenen sauren Hydrolasen, die in den 1950er-Jahren charakterisiert worden waren, der zweite Mechanismus zum Abbau überflüssiger Makromoleküle in der Zelle identifiziert. Allerdings verfügen nicht nur Eukaryonten über ein Proteasom, sondern auch Archaebakterien und einige Eubakterien. In Eukaryonten besteht der große „Proteinschredder“ aus einem regulatorischen Bereich und einem katalytischen Zentrum, in dem der eigentliche Abbau stattfindet.
Zelluläre Müllentsorgung und wichtiges Kontrollelement
Ist ein zelluläres Protein dem „Tode“ geweiht, bindet zunächst E1 als aktivierendes Enzym an Ubiquitin, einem kleinen, ca. 8 kDa schweren Protein, und überträgt es auf einen Ubiquitin-Träger E2. Schließlich kommt noch eine Ubiquitin-Proteinligase E3 ins Spiel, die das kleine Markierungspeptid auf das Substrat überträgt (Abb. 1). Im Menschen sorgen ca. zehn verschiedene E1-Isoformen für die Aktivierung und Übertragung des Ubiquitins auf eines der ungefähr 40 unterschiedlichen E2-Moleküle. Die Auswahl, welches Protein tatsächlich dem Abbau zugeführt wird, erfolgt über eine der mehr als 600 E3-Ligasen, die sehr spezifisch nur mit bestimmten Polypeptiden interagieren. Diese Selektivität ermöglicht nicht nur den gezielten Abbau dysfunktioneller Proteine, sondern sorgt auch für die unterschiedlichen Halbwertszeiten verschiedener Polypeptide. Während beispielsweise bestimmte Regulatorenzyme oder Signalmoleküle nur für wenige Minuten in der Zelle vorkommen, bleiben schwere Myosinketten einige Tage in Herzmuskelzellen oder das Hämoglobin sogar mehrere Monate in den Erythrozyten. Ein letzter Selektions- und Kontrollschritt findet am Proteasom selbst statt: Bevor dort ein Protein endgültig geschreddert wird, bindet es an die regulatorische Domäne des Proteasoms und muss dort entfaltet und wieder deubiquitiniert werden. Erst dann öffnet sich die katalytische Einheit des Proteasoms und baut das Zielprotein ab.
Durch diese streng geregelte Proteolyse können verschiedene zelluläre Prozesse sorgfältig kontrolliert werden (Abb. 2), eine Dysfunktion des Proteasoms führt hingegen zu einer folgenschweren Verschiebung der Zell-Homöostase. Ein wichtiger Signalweg, dessen Steuerung in den 1990er-Jahren aufgeklärt wurde, ist der NF-κB-Weg. NF-κB (nuclear factorkappa-light-chain-enhancer of activated B-cells) reguliert als Transkriptionsfaktor die Expression von Genen, die beispielsweise an Entzündungsprozessen, Stressantworten sowie Vorgängen der unspezifischen und spezifischen Immunantwort beteiligt sind. Im inaktiven Zustand liegt NF-κB im Komplex mit dem Inhibitor IκB im Zytosol vor. Erhält die Zelle ein Aktivierungssignal, beispielsweise über ein Zytokin, phosphoryliert die IκB-Kinase den Inhibitor. Anschließend wird IκB polyubiquitiniert und dem proteasomalen Abbau zugeführt. Dadurch wird NF-κB frei und kann in den Zellkern einwandern, um die Expression der verschiedenen Zielgene zu steuern.
Neben vielen weiteren zellulären Kontrollprozessen war natürlich der spezifische proteolytische Abbau von Tumorsuppressoren und Zellzyklus-regulierenden Cyclinen von besonderem Interesse – schließlich führt dieser Abbau zu einem ungehemmten Zellwachstum und eventuell zur Tumorentstehung. Wird die Proteolyse gestört, lässt sich ein Überlebenssignal der Tumorzellen abschalten. Als Konsequenz wurden mit Bortezomib (Velcade®), Carfilzomib (Kyprolis®) und Ixazomib (Ninlaro®) mittlerweile drei verschiedene Proteasom-Inhibitoren entwickelt, die erfolgreich in der Tumortherapie eingesetzt werden.
Gezielter Abbau unerwünschter Proteine
Auf der einen Seite bringt also ein quasi versiegelter „Mülleimer“ die (Tumor-)Zelle schwer in die Bredouille. Auf der anderen Seite könnte der „Mülleimer“ aber auch gezielt geöffnet werden, um bestimmte Proteine loszuwerden. Die Auswahl darüber, welches Protein in der Zelle dem Proteasom zugeführt wird, trifft letztlich die E3-Ligase. Könnte nicht eine E3-Ligase dazu gebracht werden, ein bestimmtes Substrat, das sich in ihrer Nähe befindet, zu polyubiquitinieren und der Entsorgung durch das Proteasom zuzuführen? Diese Idee war die Geburtsstunde für die sogenannten PROTACs – Proteolysis Targeting Chimeras. Ein derartiges PROTAC besteht aus zwei funktionellen Bindedomänen, von denen eine das Substrat erkennt, während die andere an eine E3-Ligase andockt (Abb. 3). Beide Domänen sind üblicherweise über ein Linker-Molekül miteinander verbunden. Dass das Prinzip funktioniert, wurde 2001 von Craig Crews und Raymond Deshaies von der Yale University erstmals an Lysaten von Zellen des Krallenfrosches gezeigt. Das damals eingesetzte PROTAC bestand aus drei Peptid-Domänen und war dadurch relativ groß, sodass es nicht so einfach die Zellmembran überwinden konnte. Es dauerte weitere drei Jahre, bis ein erstes PROTAC-Peptid entwickelt war, das über ein Anhängsel mit einer Poly-D-Arginin-Abfolge membrangängig wurde. Nach wie vor blieb allerdings das Problem, dass Peptide, die ein relativ hohes Molekulargewicht aufweisen, nicht oral appliziert werden können. So richtig Fahrt nahm die PROTAC-Forschung erst auf, als man sich auf nichtpeptidische niedermolekulare Moleküle als Liganden fokussierte. Bisher wurden nur sehr wenige der mehr als 600 möglichen E3-Ligasen über kleine synthetische PROTACs adressiert: MDM2 (mouse double minute 2 homolog), IAP (inhibitor of apoptosis protein, vor allem cIAP1), VHL (Von Hippel Lindau) sowie CRBN (Cereblon) und seit Kurzem auch DCAF16 (damage-specific DNA binding protein 1 [DDB1]-CUL4 associated factor) sowie RNF114 (RING finger protein 114). Für diese E3-Ligasen sind bereits Liganden bekannt, wie z. B. Thalidomid für CRBN, Bestatin für cIAP1 oder Nutilin für MDM2, die sehr gut für die PROTAC-Synthese verwendet werden können. Das Baukastensystem für die PROTAC-Synthese braucht dann nur noch ein paar geeignete Linker-Moleküle sowie die speziellen Liganden für das jeweilige Zielprotein. Auf diese Weise lässt sich also theoretisch mit ein paar Syntheseschritten jedes beliebige zelluläre Protein dem Abbau durch das Proteasom zuführen – auch solche, die bisher als „undruggable“ galten, also als nicht durch Wirkstoffe inhibierbar. Das eröffnet natürlich völlig neue Zielmoleküle und völlig neue Therapieoptionen! Während viele der üblicherweise eingesetzten niedermolekularen Wirkstoffe als (kompetitiver) Inhibitor die Ligand- bzw. Substratbindungsstelle eines Rezeptors oder eines Enzyms blockieren, können PROTACs irgendwo an der Oberfläche des Zielmoleküls andocken – es muss nur spezifisch sein. Funktioniert das Prinzip wird das von der E3-Ligase markierte Protein im Proteasom abgebaut und E3 wie auch das PROTAC stehen für eine weitere Markierungsrunde zur Verfügung. Im Gegensatz zu den stöchiometrischen Mengenverhältnissen, die man bei den meisten Inhibitoren braucht, sind hier also wahrscheinlich sogar relativ geringe PROTAC-Mengen sehr gut wirksam. Im Modellsystem war ein signifikanter Abbau des Zielproteins bereits nach ein bis zwei Stunden zu beobachten und hielt für mehr als 24 Stunden an. Wird ein wichtiges Bindeglied einer Signalkaskade der proteasomalen Hydrolyse zugeführt, bleiben auch nachgeschaltete Botenstoffe inaktiv, wodurch ein recht nachhaltiger Effekt erreicht wird. Bis das erzielte Durcheinander bei den zellulären Proteinen wieder normalisiert ist, kann es durchaus einen Tag dauern. Sind die PROTACs also perfekte Wirkstoffe?
Kritische Aspekte der PROTACs
Betrachtet man das Prinzip der PROTACs, sollte eigentlich alles ganz einfach funktionieren: Man nehme jeweils einen geeigneten Liganden für eine E3-Ligase und für das abzubauende Zielprotein und verbinde beides mit einem Linker. Fertig ist die Wunderwaffe! Oder doch nicht?
Relativ schnell stellte sich heraus, dass sich die beiden E3-Ligasen MDM2 und cIAP2 weniger gut für das PROTAC-Konzept eignen: Zum einen taugten die bereits bekannten Liganden nicht für die Verwendung in den chimären Molekülen und zum anderen war die Ubiquitinierungsaktivität der Ligasen nicht ausreichend, um tatsächlich den proteasomalen Abbau einzuleiten. Insgesamt sind die Liganden ein nicht zu unterschätzendes Problem. Natürlich müssen sie über geeignete funktionelle Gruppen verfügen, um überhaupt für den Zusammenbau eines PROTACs zur Verfügung zu stehen. Die Hauptaufgabe besteht jedoch zweifellos darin, das Zielprotein sehr spezifisch zu binden. Wo und wie stark diese Bindung sein soll, muss allerdings für jeden einzelnen Fall sorgfältig geprüft werden. Idealerweise sollte das PROTAC so fest mit dem Zielprotein interagieren, dass es gut polyubiquitiniert werden kann. Allerdings sollte sich im besten Fall das PROTAC auch wieder ablösen, um das nächste Molekül Zielprotein zur E3-Ligase lenken zu können. Diese Abfolge setzt nicht nur optimale Bindungseigenschaften sondern auch die richtige Positionierung des Zielproteins zur E3-Ligase voraus, was erhebliche Anforderungen an jede einzelne Komponente des PROTAC stellt. Bei verschiedenen Kinase-Liganden zeigte sich beispielsweise, dass diejenigen Moleküle, die gute Bindungseigenschaften zum Enzym aufwiesen, nicht automatisch zu den besten Abbau-Ergebnissen führten. Selbst die bei der Auswahl geeigneter Bindepartner angestrebte Spezifität oder auch – in manchen Fällen – Unspezifität gegenüber dem Zielprotein, war im konkreten PROTAC nicht mehr unbedingt in dem Maß vorhanden, wie es vorher beobachtet wurde.
Sobald ein PROTAC erfolgreich synthetisiert und getestet wurde, sind noch immer nicht alle Unwägbarkeiten beseitigt. In der praktischen Verwendung kann noch der sogenannte Hook-Effekt eintreten und den Erfolg des PROTAC mindern. Dieser Effekt kommt durch die Bildung eines ternären Komplexes aus E3-Ligase und Zielprotein mit dem Verbindungsmolekül zustande und führt letztlich zu einer glockenförmigen Dosis-Wirkungskurve (Abb. 4). Dahinter steckt die Beobachtung, dass die PROTAC-Konzentration für eine optimale Wirksamkeit, also für einen effizienten Abbau des Zielproteins, sorgfältig austitriert werden muss: Liegt zu wenig PROTAC in der Zelle vor, werden nicht genügend Zielprotein und E3-Ligase zusammengebracht. Bei einer zu hohen PROTAC-Konzentration können Ligase und Zielprotein mit jeweils einem chimären Molekül interagieren, ohne dass es zur Bildung des ternären Komplexes kommt (Abb. 4). Wie sich dieses Problem in der In-vivo-Situation auswirkt, muss im Einzelfall überprüft werden.
PROTAC-Entwicklungen
Die meisten der bisher publizierten PROTACs adressieren entweder epigenetische Proteine, nukleäre Hormonrezeptoren oder verschiedene Kinasen. In den vergangenen Jahren wurden mehrere Firmen gegründet, die sich mit der Entwicklung von PROTACs beschäftigen. Das erste Unternehmen war Arvinas (New Haven, Connecticut, USA), das 2013 von dem PROTAC-Pionier Craig Crews gegründet wurde. Zwei Substanzen der Firma Arvinas, ARV-110 und ARV-471, stehen kurz davor, in Phase-I-Studien getestet zu werden. ARV-110 ist ein PROTAC gegen den Androgen-Rezeptor, während ARV-471 den Estrogen-Rezeptor adressiert. Die beiden Moleküle sollen bei kastrationsresistentem Prostatakrebs bzw. beim Mammakarzinom eingesetzt werden. Neben Tumoren kann man sich auch neurodegenerative Erkrankungen als Indikationen für PROTACs vorstellen, bei denen Proteine wie z. B. Tau oder α-Synuclein akkumulieren, deren proteasomaler Abbau eventuell eine Therapieoption bieten könnte. 2016 kam als Konkurrenz zu Arvinas die Firma C4-Therapeutics (Cambridge, Massachusetts, USA) dazu, die mit der sogenannten Daedalus-Plattform eine Möglichkeit anbietet, relativ schnell PROTACs zu entwickeln und zu testen. Eine wesentliche Entwicklung der Firma ist das aTAG-System. Dabei adressieren die entwickelten PROTACs kleine Markierungspeptide an Fusionsproteinen und könnten wichtige Sicherungsmoleküle für CAR-T-Zellen darstellen: Wird der chimäre T-Zellrezeptor mit einem Markierungspeptid versehen, kann über das PROTAC im Notfall der Rezeptor sehr spezifisch abgebaut werden. 2017 wurden die Firma Kymera Therapeutics (Cambridge, Massachusetts, USA), die bereits sehr weit fortgeschritten ist in der Entwicklung von PROTACs gegen IRAK4 und STAT3, und das Unternehmen Captor Therapeutics (Breslau, Polen) mit verschiedenen Entwicklungen bei Autoimmun- und Tumorerkrankungen gegründet.
Andere Spielarten der PROTACs sind ebenfalls in der Diskussion: Mit Homo-PROTACs könnten E3-Ligasen wie MDM2, IAP und SCF, die bekanntermaßen in einigen Tumoren überexprimiert sind und mit einer gesteigerten Chemoresistenz der Krebszellen und einer schlechten klinischen Prognose für die Patienten assoziiert sind, angesteuert und degradiert werden. Und zur Verbesserung der Zellgängigkeit des chimären Moleküls werden die Liganden für das Zielprotein bzw. für die E3-Ligase nur mit kleinen chemischen Gruppen markiert, die sich intrazellulär verknüpfen. Dadurch bildet sich das funktionsfähige PROTAC erst am Wirkort.
Fazit
PROTACs gehören zu den derzeit spannendsten Wirkstoffentwicklungen und bieten die Möglichkeit, auch die „undruggable targets“ in einer Zelle anzugreifen. Allerdings ist die Entwicklung geeigneter chimärer Wirkstoffe nicht ganz einfach und die Anwendung könnte ebenfalls noch einige Probleme aufwerfen. Wie sich die ersten PROTACs in Patienten verhalten, wird sich in den klinischen Studien zeigen – die Ergebnisse werden mit Spannung erwartet. |
Literatur
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