Arzneimittel und Therapie

Grippeschutz braucht kein Ei

Zellbasierte Vakzine macht klassischen Impfstoffen Konkurrenz

Die Grippesaison naht. Und wie jedes Jahr wurde die Zusammensetzung der Influenzaimpfstoffe an die aktuell zirkulierenden Virenstämme angepasst. Was die Herstellung der Vakzinen betrifft, gibt es eine neue Entwicklung: Mit Flucelvax® Tetra kann in der Saison 2019/2020 in Deutschland auch ein Vierfachimpfstoff eingesetzt werden, der in Zellkulturen und nicht in Hühnereiern produziert wird.

Impfstoffe gegen die „echte Grippe“ zielen auf die pathogenen Influenza­viren vom Typ A und Typ B, von denen es jeweils viele verschiedene Stämme gibt. Die Viren besitzen eine hohe genetische Variabilität: Die Erregerstämme, die eine Grippewelle auslösen können, verändern sich ständig. Daher muss die Zusammensetzung der Impfstoffe gegen Influenza für die jeweilige Saison an die aktuelle epidemiologische Situation angepasst werden. Hierzu veröffentlicht das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) jedes Jahr nach den aktuellen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) der europäischen Arzneimittelagentur (EMA) die aktuellen Referenzstämme für die saiso­nalen Influenzavakzinen in Deutschland [1, 2].

Impfstoffe für 2019 / 2020

Die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut (RKI) empfiehlt für die Grippesaison 2019/2020 die standardmäßige Immunisierung mit einem vierwertigen Grippeimpfstoff [3]. Dabei sollte die Impfung möglichst im Herbst durchgeführt werden. Sie ist aber auch noch zu einem späteren Zeitpunkt möglich und sinnvoll, da der Schutz bereits ein bis zwei Wochen nach der Impfung voll ausgeprägt ist. Empfohlen wird eine Grippe­impfung vor allem für ältere Menschen ab 60 Jahren, Personen mit erhöhtem gesundheitlichem Risiko (z. B. mit geschwächtem Immunsystem und/oder chronischen Erkrankungen), schwangere Frauen und Personen, die häufig mit Kranken in Kontakt kommen (z. B. medizinisches Personal) [3]. Für die Saison 2019/2020 werden erstmals nur noch tetravalente Impfstoffe angeboten. Die Tabelle gibt einen Überblick über die in Deutschland verfügbaren Vakzinen [4, 5]. Die aktuellen Impfstoffe beinhalten zwei Influenza-A- und zwei Influenza-B-Virenstämme. Sie sind aus den Antigenen der folgenden Stämme zusammen­gesetzt [2]:

  • A/Brisbane/02/2018 (H1N1) pdm09-ähnlicher Stamm
  • A/Kansas/14/2017 (H3N2)-ähnlicher Stamm
  • B/Colorado/06/2017-ähnlicher Stamm (B/Victoria/2/87-Linie)
  • B/Phuket/3073/2013-ähnlicher Stamm (B/Yamagata/16/88-Linie)
Impfstoff (Zulassungsinhaber)
Art
Her­stellung
Produktions-rückständea
Kanüleb
Flucelvax® Tetra (Seqirus)
Totimpfstoff
Zellkultur
C
25 mm
Fluenz® Tetra (AstraZeneca)*
Lebendimpfstoff
Hühnereier
Nasenspray
Influsplit® Tetra (GlaxoSmithKline)
Totimpfstoff
Hühnereier
F
keine
Influvac® Tetra (Mylan)
Totimpfstoff
Hühnereier
C, F
16 mm
Vaxigrip® Tetra (Sanofi Pasteur)
Totimpfstoff
Hühnereier
F
15 mm

aC: Cetrimid/Cetrimoniumbromid; F: Formaldehyd; bfest mit der Spritze verbundene Kanüle. * Zugelassen bei Kindern und Jugendlichen ab einem Lebensalter von 24 Monaten bis zum vollendeten 18. Lebensjahr.

Ein Ei pro Impfdosis

Die meisten Vakzinen gegen Influ­enza werden derzeit mithilfe von Hühnereiern produziert, wobei pro Impfdosis im Schnitt ein Ei benötigt wird. Bevor mit der eigentlichen Herstellung begonnen werden kann, müssen die Influenzaviren für die Produktion in Hühner­eiern optimiert werden („Reassortierung“). Dabei werden Virusvarianten gewonnen, die die gewünschten Genomfragmente für Hämagglutinin und Neuraminidase des saisonal prävalenten Virus tragen, sowie RNA-Fragmente, die in Hühnereiern für eine hohe Ausbeute sorgen. Anschließend werden die lebenden, pathogenen Saatviren in befruchteten, angebrüteten Eiern von steril gehaltenen Hühnern vermehrt. Nach einigen Tagen werden die Eier geöffnet. Die virus­haltige Allantois-Flüssigkeit („Eiklar“) kann abgezogen und gereinigt werden. Anschließend werden die Viren abgetrennt und bei Produktion eines Totimpfstoffs mit Chemikalien wie Formaldehyd inaktiviert. Um einen mehrwertigen Impfstoff zu erhalten, muss der ganze Prozess für jeden Virusstamm wiederholt werden. Am Ende werden die verschiedenen Virenstämme zusammengemischt. Zur Wirkungsverstärkung können Adju­vanzien zugesetzt werden, die z. B. als Öl-in-Wasser-Emulsion die Aufnahme des Impfstoffs in das Immun­system beschleunigen. Nach der abschließenden Sicherheitsprüfung wird die Vakzine freigegeben. Die Herstellung eines Impfstoffs mithilfe von Hühnereiern dauert etwa 20 bis 28 Wochen (s. Abbildung) [6 – 10]. Hinzu kommt allerdings noch eine mehrmonatige Vorlaufzeit, in der die bestellten Serumeier unter speziellen Bedingungen produziert werden.

Da die Herstellung in Hühnereiern sehr zeitaufwändig ist, muss bereits vor Bekanntgabe der aktuellen Impfstoffzusammensetzung mit der Produktion begonnen werden [6]. Ein Teil der Virenstämme wird also „auf gut Glück“ produziert. Die Hersteller stehen jedoch im engen Austausch mit der WHO, um das Risiko einer Fehlproduktion zu minimieren. Nachproduzieren können die pharmazeutischen Unternehmen nicht. Dafür ist die Zeit bis zur Impfsaison zu knapp.

Abb.: Herstellung eines Grippeimpfstoffs in Hühnereiern und Zellkulturen im Vergleich (nach [10]).

Zellkultur als Alternative

Alternativ lässt sich ein Grippeimpfstoff auch aus einer Zellkultur gewinnen. Dazu werden in Zellbänken ein­gelagerte, gefrorene Säugetierzellen aufgetaut und in mit Nährmedien gefüllten Bioreaktoren (Fermentern) vermehrt. Wenn genügend Zellen vorhanden sind, werden diese mit Saatviren versetzt. Eine vorherige Optimierung der Viren wie für die Hühnereier ist hier nicht erforderlich. In den Säugetierzellen reproduzieren sich die Viren und werden schließlich freigesetzt. Die virushaltige Lösung wird von Zellresten gereinigt, und die Viren werden inaktiviert. Nach dem Mischen der Viren­stämme zu einem mehrwertigen Impfstoff durchläuft die Vakzine eine Sicherheitsprüfung. Wie bei den hühnereibasierten Impfstoffen erfolgt die chargenweise Freigabe der fertigen Vakzine durch das PEI [2, 7 – 10].

Im Dezember 2018 wurde mit Flucelvax® Tetra des Unternehmens Seqirus der erste Vierfachimpfstoff in Europa zugelassen, der nicht mithilfe bebrüteter Hühnereier, sondern auf Basis von Zellkulturen hergestellt wird [11]. Die Vakzine kann ab der Saison 2019/2020 zur Influenzapro­phylaxe für Erwachsene und Kinder ab neun Jahren eingesetzt werden [12]. Bei der Produktion des Impfstoffs werden sogenannte MDCK-Zellen („Madin Darby Canine Kidney“) verwendet ‒ eine permanente (unsterbliche) Tumorzelllinie, die aus dem Nierenepithelgewebe eines Hundes stammt [12].

Zellbasiert hat Vorteile

Die zellbasierte Herstellung von Flucelvax® Tetra hat gegenüber der Impfstoffherstellung in Hühnereiern mehrere Vorteile [13]:

Schnelle Verfügbarkeit auch in großen Mengen. Für die weltweite Versorgung mit Grippeimpfstoff sind pro Jahr etwa 500 Millionen Eier notwendig, die unter speziellen, kontrollierten Bedingungen produziert werden müssen [14]. Im Falle einer Influenzapandemie kann diese Produktion und damit auch die Herstellung der Vakzine dann möglicherweise nicht so schnell wie erforderlich gesteigert werden. Im Gegensatz dazu basiert die Produktion von Flucelvax® Tetra auf Zellkulturen, die gefroren in Zellbänken gelagert werden. Diese können in Fermentern vermehrt werden und sind daher jederzeit auch in großen Mengen rasch verfügbar.

Keine Veränderungen der Virenstämme. Das Wachstum von Influenzaviren in Eiern kann dazu führen, dass diese sich an den neuen Nichtsäugetier-Wirt anpassen und dann dem tatsächlich zirkulierenden Influenzastamm weniger ähnlich sind („Eiadaption“). Die in Säugetier-Zellkulturen wachsenden Viren durchlaufen solche Änderungen nicht oder nicht in dem Ausmaß. Der so gewonnene Impfstoff kann daher einen verbesserten Schutz im Vergleich zum klassischen hühnereibasierten Influenzaimpfstoff bieten.

Keine allergischen Reaktionen.

Bei Impfstoffen, die in Hühnereiern produziert werden, besteht immer auch die Gefahr, dass damit geimpfte Per­sonen allergisch auf die in der Vak­zine enthaltenen Eiweißbestandteile reagieren. Der in Zelllinien produzierte Impfstoff birgt dieses Risiko hingegen nicht.

Impfen in der ­Schwangerschaft

Werdende Mütter sollten sich ab dem zweiten Schwangerschafts­drittel gegen Influenza impfen lassen, so die Empfehlung der STIKO. Bei chronischen Grunderkrankungen wird bereits im ersten Trimenon zu einer Impfung geraten. Grundsätzlich können sämtliche inaktivierten Grippeimpfstoffe gemäß den Fachinformationen zu den in Deutschland in dieser Saison verfügbaren Influenza­vakzinen während der gesamten Schwangerschaft an­gewendet werden. Eine explizite Zulassung „zur aktiven Immunisierung von Erwachsenen, einschließlich schwangeren Frauen“ sowie „zum passiven Schutz von Säuglingen ab der Geburt bis zu einem Alter von weniger als sechs Monaten nach der mütterlichen Immunisierung während der Schwangerschaft“ hat allerdings nur Vaxigrip® Tetra. Doch weder von Seiten des RKI noch des PEI gibt es eine Empfehlung für eine bevorzugte Verwendung dieser Vakzine.

[Quelle: DAZ.online. Meldung vom 18. September 2019; www.deutsche-apotheker-zeitung.de]

Auch besser wirksam?

Da Flucelvax® Tetra in den USA schon seit dem Jahr 2016 auf dem Markt erhältlich ist, konnten hier bereits in der Praxis Erfahrungen gesammelt werden. So verglichen Wissenschaftler in einer Kohortenstudie die Wirksamkeit von Impfstoffen, die in Zelllinien hergestellt wurden, mit der von hühnerei-basierten Vakzinen [15]. Dazu wurden die Daten von über 13 Millionen Versicherten im Alter von mindestens 65 Jahren retrospektiv analysiert, die zwischen August 2017 bis Ende Januar 2018 entweder eine hühnerei- oder eine zellbasierte Grippeimpfung erhalten hatten [15]. Am Ende der Grippesaison zeigte sich, dass Vierfachimpfstoffe, die in Zellkulturen hergestellt worden waren, zwischen 10% und 11% wirksamer waren als die hühnereibasierten tetravalenten Standardimpfstoffe, was die Anzahl der Grippe-­bedingten Praxis- und Krankenhausbesuche bzw. stationären Aufenthalte betraf [15]. Allerdings kamen die Autoren der Studie zu dem Schluss, dass die moderat geringere Wirksamkeit der hühnereibasierten Impfstoffe keine ausreichende Erklärung für die insgesamt sehr schlechte Effektivität der Influenzavakzine in der Saison 2017/18 bietet [15].

Das Prinzip ist nicht neu

Flucelvax® Tetra ist der erste in Europa erhältliche Vierfachimpfstoff gegen Influenza, der nicht in Hühnereiern produziert wird. Doch im Jahr 2007 wurde bereits ein dreiwertiger zellbasierter Grippeimpfstoff des Anbieters Novar­tis unter dem Namen Optaflu® von der europäischen Arzneimittelbehörde zugelassen [16]. Auch hier bildeten ‒ ebenso wie bei Flucelvax® Tetra ‒ MDCK-Zellen die Basis der Herstellung. Lebende Zellen dieser permanenten Zelllinie können bei immunsupprimierten Mäusen Tumoren an der Stelle erzeugen, an der sie injiziert wurden [17]. Daher wurden im Laufe der Zeit Sicherheitsbedenken wegen einer möglichen Tumori­genität des Impfstoffs Optaflu® bzw. der verwendeten Zelllinie geäußert [17]. Diese konnten vom PEI jedoch vollständig ausgeräumt werden mit der Begründung, dass Opta­flu® keine intakten, lebenden MDCK-Zellen und auch keine funktionalen Nukleinsäuren dieser Zelllinie enthalte [17]. Gleichzeitig würden Unter­suchungen belegen, dass inaktivierte MDCK-Zellen und deren Nukleinsäure kein tumorigenes Potenzial bei Mäusen besäßen [17]. Zudem sei während der Influenzapandemie der Jahre 2009/2010 ein Impfstoff mit Zellen aus genau derselben MDCK-Zellbank bei gleichem Herstellungsprozess weltweit hunderttausendfach eingesetzt worden, ohne dass über eine durch den Impfstoff verursachte Tumorentstehung berichtet worden sei [17]. Es bestan­den aber dennoch Vorbehalte gegen Optaflu® wegen des geringen Erpro­bungsgrades sowie der möglicherweise höheren Reakto­genität [18]. Im Jahr 2015 verschwand dieser Impfstoff vom europäischen Markt [19]. |

Diplom-Biologe Stefan Oetzel

Literatur

[1] Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Influenza-Impfstoffe (Impfstoffe gegen die saisonale Grippe). www.pei.de; Abruf am 9. September 2019

[2] Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Saisonale Influenza 2019/2020. www.pei.de; Abruf am 9. September 2019

[3] Robert Koch-Institut (RKI). Epidemiologisches Bulletin 34/2019. Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut – 2019/2020

[4] Grippeimpfstoffe 2019/2020. arznei-telegramm 2019;50(8):70-1

[5] Fachinfo-Service. www.fachinfo.de; Abruf am 10. September 2019

[6] DAZ.online. Wie wird ein Grippeimpfstoff produziert? www.deutsche-apotheker-zeitung.de; Abruf am 17. September 2019

[7] Fabian Seyfried. Impfstoff-Herstellung - Vom Virus zur Apotheke. www.netdoktor.de; Abruf am 9. September 2019

[8] Interpharma – Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz. Produktion von Impfstoffen. https://biotechlerncenter.interpharma.ch; Abruf am 9. September 2019

[9] Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI). Impfung: Nichts schützt besser vor Infektionskrankheiten. www.bpi.de; Abruf am 9. September 2019

[10] Keck CM, Müller RH. Moderne Arzneiformen & Pharmazeutische Technologie (Auflage 2012). http://pharmazie-lehrbuch.de/ilb12/home.htm; Abruf am 9. September 2019

[11] European Medicines Agency (EMA). Produktinformation Flucelvax® Tetra. www.ema.europa.eu; Abruf am 9. September 2019

[12] Fachinformation Flucelvax® Tetra. Stand August 2019

[13] Bühler S, Ramharter M. Flucelvax Tetra: a surface antigen, inactivated, influenza vaccine prepared in cell cultures. ESMO Open 2019;4(1):e000481

[14] DAZ.Online. Eine halbe Milliarde Eier für die Grippeimpfung. www.deutsche-apotheker-zeitung.de; Abruf am 10. September 2019

[15] Izurieta HS et al. Relative Effectiveness of Cell-Cultured and Egg-Based Influenza Vaccines Among Elderly Persons in the United States, 2017–2018. J Infect Dis 2019;220(8):1255-1264

[16] Im Blickpunkt: Grippeimpfstoff Optaflu. arznei-telegramm 2007;38:111-2

[17] Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Versorgung mit Grippeimpfstoffen – Diskussion um Zellkulturimpfstoff Optaflu. www.pei.de; Abruf am 10. September 2019

[18] DAZ.Online. EU-Zulassung für zellbasierten tetravalenten Grippeimpfstoff beantragt. www.deutsche-apotheker-zeitung.de; Abruf am 10. September 2019

[19] Europäische Arzneimittelagentur (EMA). Optaflu: Influenza-Impfstoff (Oberflächenantigen, inaktiviert, in Zellkultur hergestellt). www.ema.europa.eu; Abruf am 10. September 2019

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