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Nomenklatur

Mysterium Wirkstoffnamen

Wo die INN herkommen und wie sie gebildet werden

Sowohl die Handelsnamen von Arzneimitteln als auch die Wirkstoffbezeichnungen muten heute oft etwas kryptisch an. Wer legt diese Namen überhaupt fest? Die allermeisten Wirkstoffe tragen internationale Freinamen (INN), die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vergeben werden. Dabei wird darauf geachtet, dass der Name möglichst stimmig ist und wenige Verwechslungsgefahren birgt. INN sind in gewissem Umfang „sprechend“. In diesem Beitrag soll kurz erklärt werden, was sie uns sagen wollen. | Von Helga Blasius

Die Bezeichnungen von Wirkstoffen in zugelassenen Arzneimitteln sind heute in der Regel die von der Weltgesundheitsorganisation vergebenen internationalen Freinamen (International Nonproprietary Names, INN). Das INN-System wurde in den 1950er-Jahren ins Leben gerufen. Heute umfasst die Sammlung rund 9300 Wirkstoffbezeichnungen. Jedes Jahr kommen etwa 160 neue internationale Freinamen dazu. Mit dem INN soll ein Arzneistoff unabhängig von dem jeweiligen Handelspräparat einwandfrei identifiziert werden können. Deswegen sind die Namen, abgesehen von marginalen Unterschieden, international einheitlich. Sie sollen in Arzneibüchern, in den Produktinformationen zu Arzneimitteln und in der wissenschaftlichen Literatur verwendet werden. Generikahersteller nutzen sie im Handelsnamen ihrer ­Präparate, meist mit dem Zusatz des Firmennamens.

Wie aus einem Vorschlag ein INN wird

Für die Festlegung eines internationalen Freinamens durch die WHO darf der Entdecker der Substanz Vorschläge machen. Nach Abstimmung mit nationalen Nomenklaturbehörden veröffentlicht die WHO auf dieser Basis einen vorgeschlagenen INN (proposed INN, pINN). Geht während einer viermonatigen Einspruchsfrist kein Widerspruch ein, so wird aus dem proposed INN der empfohlene INN (recommended INN, rINN). Zweimal pro Jahr werden Listen neuer empfohlener internationaler Freinamen im Journal „WHO Drug Information“ bekannt gemacht.

Basisanforderungen an internationale Freinamen

Bei der Wahl des Namens muss darauf geachtet werden, dass weder der ganze Name noch Teile davon markenrechtlich geschützt sind. Internationale Freinamen müssen nach den Vorgaben der WHO kurz und in Aussprache und Schreibweise eindeutig sein. Verwechslungen mit anderen Namen sollen möglichst ausgeschlossen werden. Der INN soll erkennen lassen, zu welcher pharmakologischen Gruppe die Substanz gehört, für den Laien aber keine Rückschlüsse auf die anatomische, physiologische, pathologische oder therapeutische Bedeutung nahelegen. Bei der Festlegung des ersten Vertreters einer neuen pharmakologischen Gruppe sollte daran gedacht werden, dass basierend darauf auch neuen Vertretern der Gruppe passende internationale Freinamen zugewiesen werden können. INN von Substanzen, die als Salze oder Ester eingesetzt werden, sollen sich auf den wirksamen Grundkörper beziehen und sich nur hinsichtlich des Namens der unwirksamen Komponente unterscheiden. ­Außerdem sollten keine zusätzlichen Ziffern oder Einzelbuchstaben in einem internationalen Freinamen enthalten sein. Wegen der Aussprache und Übersetzungen sollen überdies bestimmte Buchstaben vermieden werden.

Kennsilben zeigen die „Familienzugehörigkeit“ an

Internationale Freinamen hören sich zwar oft sehr phantasievoll an, aber die sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten sind tatsächlich sehr eingeschränkt. Das liegt daran, dass die WHO für neue „Namensschöpfungen“ einen ganze Reihe von Kennsilben (common stems) vorgibt. Diese charakterisieren verwandte Gruppen von Wirkstoffen entweder aus chemisch-struktureller Sicht oder aufgrund der Wirkungsweise. Oft stehen danach nur ein paar Buchstaben zur Verfügung, die neu wählbar sind.

Common stems können am Wortanfang (als Präfixe) im Wort (Infixe) und/oder am Wortende (als Suffixe) verwendet werden. Mittlerweile gibt es rund 400 solcher Kennsilben, die im „Stem Book 2018“ der WHO zusammen mit Anwendungsbeispielen alphabetisch aufgelistet sind. Sie werden für fast alle Wirkstoffe jeglicher Art und Herkunft verwendet, also für chemisch-synthetische und Naturstoffe ebenso wie für biologische Stoffe wie zum Beispiel Peptide, Hormone, Enzyme und monoklonale Antikörper.

Die meisten Kennsilben sind Suffixe

Reine Präfixe kommen in INN relativ selten vor. Beispiele sind Cef- für die Cephalosporin-Antibiotika (z. B. Cefalexin, Cefuroxim) oder Sulfa- für antibakterielle Sulfonamide (z. B. Sulfamethoxazol, Sulfadiazin). Die weitaus größte Bedeutung haben Kennsilben, die nur als Suffixe verwendet ­werden, das heißt, sie werden hinten an den Wortstamm angefügt (Tab. 1).

Tab. 1: Beispiele für Kennsilben als Suffixe in internationalen Freinamen
Suffix
Wirkstoffgruppe
Beispiele
-azepam
Benzodiazepine
Diazepam, Nitrazepam
-olol
Betarezeptoren-Blocker
Atenolol, Propranolol
-coxib
Cyclooxygenase-2-Inhibitoren
Celecoxib, Rofecoxib
-dipin
Calciumkanal-Blocker
Nifedipin, Felodipin
-pril
ACE-Hemmer
Captopril, Enalapril
-sartan
Angiotensin-II-Rezeptor-Antagonisten
Telmisartan, Valsartan
-tinib
Tyrosinkinase-Inhibitoren
Imatinib, Erlotinib
-triptan
5-HT1-Rezeptor-Agonisten
Sumatriptan, Rizatriptan
-vastatin
HMG-CoA-Reduktase-Hemmer
Simvastatin, Pravastatin

Aufschlussreiche Verfeinerungen

Einige Kennsilben können an allen drei Positionen, das heißt als Präfix, Infix oder als Suffix eingesetzt werden, wie die folgenden Beispiele zeigen:

  • -gest- für Progesterone, z. B. Gestrinon, Norgestrel, Dienogest
  • -sal- für Salicylsäure-Derivate, z. B. Salsalat, Acetyl­salicylsäure, Triflusal

Manche Kennsilben wurden im Laufe der Jahre durch den Zuwachs neuer Wirkstoffe weiter verfeinert. Ein Beispiel dafür ist die Kennsilbe -vir-, die zunächst ganz allgemein für antivirale Wirkstoffe steht. Heute führt die WHO-Liste noch einige erweiterte Suffixe dazu auf, z. B.

  • -cavir für carbozyklische Nukleoside (z. B. Abacavir, Entecavir),
  • -amivir für Neuraminidase-Hemmer (z. B. Oseltamivir, Zanamivir) oder
  • -navir für HIV-Protease-Hemmer (z. B. Lopinavir, Rito­navir).

Bei den Antibiotika lassen die Kennsilben der WHO darauf schließen, zu welcher definierten chemischen Stoffklasse sie gehören, zum Beispiel

  • -cillin für Penicilline (z. B. Ampicillin, Amoxicillin),
  • -cyclin für Tetracycline (z. B. Chlortetracyclin, ­Doxycyclin) oder
  • -rubicin für antineoplastische Antibiotika vom ­Daunorubicin-Typ (z. B. Doxorubicin, Esorubicin).

INN für biologische und biotechnische Arzneimittel

Auch für die meisten biologischen und biotechnisch hergestellten Wirkstoffe wurden passende Kennsilben entwickelt, so zum Beispiel für

  • Enzyme (-ase),
  • Koloniestimulierende Faktoren (-stim) oder
  • Interleukinrezeptor-Antagonisten (-kinra).

Alle monoklonalen Antikörper (mAB) tragen am jeweiligen Wortstamm das gemeinsame Suffix -mab. Dann wird es kompliziert. Ein Infix vor dem -mab zeigt die Zielstruktur an, von denen es eine ganze Reihe gibt. Dabei wird die Silbe -mab überdies auch noch durch die Herkunft oder Herstellungsmethode des Antikörpers modifiziert (Tab. 2).

Tab. 2: Beispiele für die Bildung des internationalen Freinamens bei monoklonalen Antikörpern
Infix
Suffix
Beispiele
Zielstruktur
Herkunft oder Herstellungsmethode
immunmodulierend: -li-
früher auch -li(m)-
Maus: -o-
monoklonaler Antikörper: -mab
Afelimomab
chimär: - xi-
Infliximab
human: -u-
Adalimumab
humanisiert: -zu-
Nemolizumab
chimär humanisiert/human: -xizu-
Rozanolixizumab

Weitere Infixe für die Bezeichnung monoklonaler Antikörper sind 

  • -ne- für neural, 
  • -os- für Knochen, 
  • -ta- für Tumor, 
  • -toxa- für Toxin oder 
  • -vi- für viral. 

Diese in den Wortstamm eingefügten Wortbildungselemente ergeben dann wiederum mit den Herkunftsendungen und einem freien Präfix kombiniert den endgültigen INN. Refanezumab ist demnach ein humanisierter Antikörper (-zumab) mit neuralem Angriffspunkt (-ne-). 

Das INN-Schema für Gentherapien sieht Doppelwörter vor, wobei das erste Wort für die Gen- und das zweite für die Vektorkomponente steht (z. B. Talimogen laherparepvec für die onkologische Immuntherapie), siehe auch Tabelle 3 mit einigen weiteren Beispielen für komplex zusammengesetzte internationale Freinamen.

Tab. 3: Weitere Beispiele für komplexe internationale Freinamen
INN/
Indikation
Beschreibung des Wirkstoffs
Silbe bzw. Kennsilbe
Bedeutung
Talimogen laherparevec
Behandlung von Erwachsenen mit betimmten Melanomen
abgeschwächtes Herpes simplex-Virus Typ 1 (HSV-1), das durch die funktionelle Deletion von zwei Genen (ICP34.5 und ICP47) und die Insertion der codierenden Sequenz für den humanen Granulozyten-Makrophagen-koloniestimulierenden Faktor (GM-CSF) abgeleitet wurde
Ta-
  • freie Silbe zur Unterscheidung
-lim
  • Immunmodulator
-gen
  • steht für Gentherapie
-la
  • freie Silbe zur Unterscheidung
-herpa
  • steht für den viralen Vektor-Typ (hier: Herpes)
-revec
  • replizierender viraler Vektor
Tenofovirdisoproxil
in Kombination mit anderen antiretroviralen Arzneimitteln zur Behandlung von HIV-1-infizierten Erwachsenen
Prodrug (disoproxil) von Tenofovir, ­einem nicht-nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitor
Teno-
  • freie Silbe zur Unterscheidung
-fo
  • steht für Phosphonsäure-Derivate
-vir
  • steht allgemein für antiviral
-di
  • di
-soproxil
  • {[(propan-2-yloxy)carbonyl]oxy}methyl
Dabigatranetexilat (Mesilat)
Gerinnungshemmer, zur Primärprävention von venösen thromboembolischen Ereignissen
Prodrug, das nach Umwandlung in das pharmakologisch aktive Dabigatran den Blutgerinnungsfaktor IIa (Thrombin) direkt hemmt, liegt im Arzneimittel als Mesilat vor
Dabi-
  • freie Silbe zur Unterscheidung
-gatran
  • steht für Thrombin-Inhibitoren
-etexilat
  • Prodrug-Funktion (ethyl [ester]), hexyloxy)carbonyl
Mesilat
  • Anion der Methansulfonsäure

Modifizierte INN

Die internationalen Freinamen bezeichnen in der Regel nur die wirksame Komponente des Arzneistoffs. Bei Salzen oder anderen Derivaten wird dem ursprünglichen Freinamen des Wirkstoffs die Bezeichnung der zusätzlichen funktionellen Gruppe oder des Gegenions angehängt. So entstehen die modifizierten INN (modified INN, INNM). Beispiele sind Oxacillin Natrium und Ibufenac Natrium.

Ist die systematische Bezeichnung der neuen Molekülkomponente zu lang, so kann auch für diese eine international anerkannte Kurzform verwendet ­werden (z. B. triflutat für trifluoroacetat). Für diese „Names for radicals & groups“ gibt es ebenfalls ein eigenes WHO-Kompendium.

Zwei Dinge sind noch wichtig zu wissen: Bei alten INN werden die Benennungsregeln nicht immer konsequent eingehalten. Und: Es ist nicht immer einfach, die Kennsilben aus einem unbekannten INN sicher herauszulesen.

INN in der Beratungspraxis

Internationale Freinamen sind für manche vielleicht ein Sommerloch-Thema. Das Thema passt aber eigentlich gut in jede Reisezeit, denn ­korrekte, international gebräuchliche Wirkstoff­namen können Reisenden im Ausland dabei helfen, bei Bedarf das Arzneimittel zu bekommen, das sie von zu Hause kennen. Die Handelsnamen können unterschiedlich sein, der INN nicht. Wer den Wirkstoffnamen weiß und außerdem noch den Namen des Herstellers, wird vor allem in Europa mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Urlaub oder auf sonstigen Reisen sein gewohntes Präparat bekommen können, sei es als OTC oder über einen Arzt­besuch. |

 

Literatur

Bracher F, Dombeck F. Was internationale Freinamen aussagen Pharm Ztg 2002;45, www.pharmazeutische-zeitung.de/inhalt-45-2002/titel-45-2002/, Abruf am 28. Juli 2019

Guidance on the use of International Nonproprietary Names (INNs) for Pharmaceutical Substances. World Health Organization, www.who.int/medicines/services/inn/FINAL_WHO_PHARM_S_NOM_1570_web.pdf?ua=1

International Nonproprietary Names (INN) for pharmaceutical substances. Names for radicals, groups & others. Comprehensive list 2015. World Health Organization, ww.who.int/medicines/services/inn/RadicalBook2015.pdf

International Nonproprietary Names Modified, INN Working Document 05.167/3. World Health Organization, www.who.int/medicines/services/inn/INNMreview%20paperWkDoc167_Feb06_3_.pdf

International Nonproprietary Names. Allgemeine Informationen zum INN-Programm, www.who.int/medicines/services/inn/en/

The use of stems in the selection of International Nonproprietary Names (INN) for pharmaceutical substances (Stem book 2018), World Health Organization, www.who.int/medicines/services/inn/StemBook_2018.pdf?ua=1

Autorin

Dr. Helga Blasius ist Fachapothekerin für Arzneimittelinformation, Dipl.-Übersetzerin (Japanisch, Koreanisch) und regelmäßige Autorin der DAZ.

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