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Nomenklatur
Mysterium Wirkstoffnamen
Wo die INN herkommen und wie sie gebildet werden
Die Bezeichnungen von Wirkstoffen in zugelassenen Arzneimitteln sind heute in der Regel die von der Weltgesundheitsorganisation vergebenen internationalen Freinamen (International Nonproprietary Names, INN). Das INN-System wurde in den 1950er-Jahren ins Leben gerufen. Heute umfasst die Sammlung rund 9300 Wirkstoffbezeichnungen. Jedes Jahr kommen etwa 160 neue internationale Freinamen dazu. Mit dem INN soll ein Arzneistoff unabhängig von dem jeweiligen Handelspräparat einwandfrei identifiziert werden können. Deswegen sind die Namen, abgesehen von marginalen Unterschieden, international einheitlich. Sie sollen in Arzneibüchern, in den Produktinformationen zu Arzneimitteln und in der wissenschaftlichen Literatur verwendet werden. Generikahersteller nutzen sie im Handelsnamen ihrer Präparate, meist mit dem Zusatz des Firmennamens.
Wie aus einem Vorschlag ein INN wird
Für die Festlegung eines internationalen Freinamens durch die WHO darf der Entdecker der Substanz Vorschläge machen. Nach Abstimmung mit nationalen Nomenklaturbehörden veröffentlicht die WHO auf dieser Basis einen vorgeschlagenen INN (proposed INN, pINN). Geht während einer viermonatigen Einspruchsfrist kein Widerspruch ein, so wird aus dem proposed INN der empfohlene INN (recommended INN, rINN). Zweimal pro Jahr werden Listen neuer empfohlener internationaler Freinamen im Journal „WHO Drug Information“ bekannt gemacht.
Basisanforderungen an internationale Freinamen
Bei der Wahl des Namens muss darauf geachtet werden, dass weder der ganze Name noch Teile davon markenrechtlich geschützt sind. Internationale Freinamen müssen nach den Vorgaben der WHO kurz und in Aussprache und Schreibweise eindeutig sein. Verwechslungen mit anderen Namen sollen möglichst ausgeschlossen werden. Der INN soll erkennen lassen, zu welcher pharmakologischen Gruppe die Substanz gehört, für den Laien aber keine Rückschlüsse auf die anatomische, physiologische, pathologische oder therapeutische Bedeutung nahelegen. Bei der Festlegung des ersten Vertreters einer neuen pharmakologischen Gruppe sollte daran gedacht werden, dass basierend darauf auch neuen Vertretern der Gruppe passende internationale Freinamen zugewiesen werden können. INN von Substanzen, die als Salze oder Ester eingesetzt werden, sollen sich auf den wirksamen Grundkörper beziehen und sich nur hinsichtlich des Namens der unwirksamen Komponente unterscheiden. Außerdem sollten keine zusätzlichen Ziffern oder Einzelbuchstaben in einem internationalen Freinamen enthalten sein. Wegen der Aussprache und Übersetzungen sollen überdies bestimmte Buchstaben vermieden werden.
Kennsilben zeigen die „Familienzugehörigkeit“ an
Internationale Freinamen hören sich zwar oft sehr phantasievoll an, aber die sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten sind tatsächlich sehr eingeschränkt. Das liegt daran, dass die WHO für neue „Namensschöpfungen“ einen ganze Reihe von Kennsilben (common stems) vorgibt. Diese charakterisieren verwandte Gruppen von Wirkstoffen entweder aus chemisch-struktureller Sicht oder aufgrund der Wirkungsweise. Oft stehen danach nur ein paar Buchstaben zur Verfügung, die neu wählbar sind.
Common stems können am Wortanfang (als Präfixe) im Wort (Infixe) und/oder am Wortende (als Suffixe) verwendet werden. Mittlerweile gibt es rund 400 solcher Kennsilben, die im „Stem Book 2018“ der WHO zusammen mit Anwendungsbeispielen alphabetisch aufgelistet sind. Sie werden für fast alle Wirkstoffe jeglicher Art und Herkunft verwendet, also für chemisch-synthetische und Naturstoffe ebenso wie für biologische Stoffe wie zum Beispiel Peptide, Hormone, Enzyme und monoklonale Antikörper.
Die meisten Kennsilben sind Suffixe
Reine Präfixe kommen in INN relativ selten vor. Beispiele sind Cef- für die Cephalosporin-Antibiotika (z. B. Cefalexin, Cefuroxim) oder Sulfa- für antibakterielle Sulfonamide (z. B. Sulfamethoxazol, Sulfadiazin). Die weitaus größte Bedeutung haben Kennsilben, die nur als Suffixe verwendet werden, das heißt, sie werden hinten an den Wortstamm angefügt (Tab. 1).
Suffix | Wirkstoffgruppe | Beispiele |
---|---|---|
-azepam | Benzodiazepine | Diazepam, Nitrazepam |
-olol | Betarezeptoren-Blocker | Atenolol, Propranolol |
-coxib | Cyclooxygenase-2-Inhibitoren | Celecoxib, Rofecoxib |
-dipin | Calciumkanal-Blocker | Nifedipin, Felodipin |
-pril | ACE-Hemmer | Captopril, Enalapril |
-sartan | Angiotensin-II-Rezeptor-Antagonisten | Telmisartan, Valsartan |
-tinib | Tyrosinkinase-Inhibitoren | Imatinib, Erlotinib |
-triptan | 5-HT1-Rezeptor-Agonisten | Sumatriptan, Rizatriptan |
-vastatin | HMG-CoA-Reduktase-Hemmer | Simvastatin, Pravastatin |
Aufschlussreiche Verfeinerungen
Einige Kennsilben können an allen drei Positionen, das heißt als Präfix, Infix oder als Suffix eingesetzt werden, wie die folgenden Beispiele zeigen:
- -gest- für Progesterone, z. B. Gestrinon, Norgestrel, Dienogest
- -sal- für Salicylsäure-Derivate, z. B. Salsalat, Acetylsalicylsäure, Triflusal
Manche Kennsilben wurden im Laufe der Jahre durch den Zuwachs neuer Wirkstoffe weiter verfeinert. Ein Beispiel dafür ist die Kennsilbe -vir-, die zunächst ganz allgemein für antivirale Wirkstoffe steht. Heute führt die WHO-Liste noch einige erweiterte Suffixe dazu auf, z. B.
- -cavir für carbozyklische Nukleoside (z. B. Abacavir, Entecavir),
- -amivir für Neuraminidase-Hemmer (z. B. Oseltamivir, Zanamivir) oder
- -navir für HIV-Protease-Hemmer (z. B. Lopinavir, Ritonavir).
Bei den Antibiotika lassen die Kennsilben der WHO darauf schließen, zu welcher definierten chemischen Stoffklasse sie gehören, zum Beispiel
- -cillin für Penicilline (z. B. Ampicillin, Amoxicillin),
- -cyclin für Tetracycline (z. B. Chlortetracyclin, Doxycyclin) oder
- -rubicin für antineoplastische Antibiotika vom Daunorubicin-Typ (z. B. Doxorubicin, Esorubicin).
INN für biologische und biotechnische Arzneimittel
Auch für die meisten biologischen und biotechnisch hergestellten Wirkstoffe wurden passende Kennsilben entwickelt, so zum Beispiel für
- Enzyme (-ase),
- Koloniestimulierende Faktoren (-stim) oder
- Interleukinrezeptor-Antagonisten (-kinra).
Alle monoklonalen Antikörper (mAB) tragen am jeweiligen Wortstamm das gemeinsame Suffix -mab. Dann wird es kompliziert. Ein Infix vor dem -mab zeigt die Zielstruktur an, von denen es eine ganze Reihe gibt. Dabei wird die Silbe -mab überdies auch noch durch die Herkunft oder Herstellungsmethode des Antikörpers modifiziert (Tab. 2).
Infix | Suffix | Beispiele | |
---|---|---|---|
Zielstruktur | Herkunft oder Herstellungsmethode | ||
immunmodulierend: -li- früher auch -li(m)- | Maus: -o- | monoklonaler Antikörper: -mab | Afelimomab |
chimär: - xi- | Infliximab | ||
human: -u- | Adalimumab | ||
humanisiert: -zu- | Nemolizumab | ||
chimär humanisiert/human: -xizu- | Rozanolixizumab |
Weitere Infixe für die Bezeichnung monoklonaler Antikörper sind
- -ne- für neural,
- -os- für Knochen,
- -ta- für Tumor,
- -toxa- für Toxin oder
- -vi- für viral.
Diese in den Wortstamm eingefügten Wortbildungselemente ergeben dann wiederum mit den Herkunftsendungen und einem freien Präfix kombiniert den endgültigen INN. Refanezumab ist demnach ein humanisierter Antikörper (-zumab) mit neuralem Angriffspunkt (-ne-).
Das INN-Schema für Gentherapien sieht Doppelwörter vor, wobei das erste Wort für die Gen- und das zweite für die Vektorkomponente steht (z. B. Talimogen laherparepvec für die onkologische Immuntherapie), siehe auch Tabelle 3 mit einigen weiteren Beispielen für komplex zusammengesetzte internationale Freinamen.
INN/ Indikation | Beschreibung des Wirkstoffs | Silbe bzw. Kennsilbe | Bedeutung |
---|---|---|---|
Talimogen laherparevec Behandlung von Erwachsenen mit betimmten Melanomen | abgeschwächtes Herpes simplex-Virus Typ 1 (HSV-1), das durch die funktionelle Deletion von zwei Genen (ICP34.5 und ICP47) und die Insertion der codierenden Sequenz für den humanen Granulozyten-Makrophagen-koloniestimulierenden Faktor (GM-CSF) abgeleitet wurde | Ta- |
|
-lim |
| ||
-gen |
| ||
-la |
| ||
-herpa |
| ||
-revec |
| ||
Tenofovirdisoproxil in Kombination mit anderen antiretroviralen Arzneimitteln zur Behandlung von HIV-1-infizierten Erwachsenen | Prodrug (disoproxil) von Tenofovir, einem nicht-nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitor | Teno- |
|
-fo |
| ||
-vir |
| ||
-di |
| ||
-soproxil |
| ||
Dabigatranetexilat (Mesilat) Gerinnungshemmer, zur Primärprävention von venösen thromboembolischen Ereignissen | Prodrug, das nach Umwandlung in das pharmakologisch aktive Dabigatran den Blutgerinnungsfaktor IIa (Thrombin) direkt hemmt, liegt im Arzneimittel als Mesilat vor | Dabi- |
|
-gatran |
| ||
-etexilat |
| ||
Mesilat |
|
Modifizierte INN
Die internationalen Freinamen bezeichnen in der Regel nur die wirksame Komponente des Arzneistoffs. Bei Salzen oder anderen Derivaten wird dem ursprünglichen Freinamen des Wirkstoffs die Bezeichnung der zusätzlichen funktionellen Gruppe oder des Gegenions angehängt. So entstehen die modifizierten INN (modified INN, INNM). Beispiele sind Oxacillin Natrium und Ibufenac Natrium.
Ist die systematische Bezeichnung der neuen Molekülkomponente zu lang, so kann auch für diese eine international anerkannte Kurzform verwendet werden (z. B. triflutat für trifluoroacetat). Für diese „Names for radicals & groups“ gibt es ebenfalls ein eigenes WHO-Kompendium.
Zwei Dinge sind noch wichtig zu wissen: Bei alten INN werden die Benennungsregeln nicht immer konsequent eingehalten. Und: Es ist nicht immer einfach, die Kennsilben aus einem unbekannten INN sicher herauszulesen.
INN in der Beratungspraxis
Internationale Freinamen sind für manche vielleicht ein Sommerloch-Thema. Das Thema passt aber eigentlich gut in jede Reisezeit, denn korrekte, international gebräuchliche Wirkstoffnamen können Reisenden im Ausland dabei helfen, bei Bedarf das Arzneimittel zu bekommen, das sie von zu Hause kennen. Die Handelsnamen können unterschiedlich sein, der INN nicht. Wer den Wirkstoffnamen weiß und außerdem noch den Namen des Herstellers, wird vor allem in Europa mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Urlaub oder auf sonstigen Reisen sein gewohntes Präparat bekommen können, sei es als OTC oder über einen Arztbesuch. |
Literatur
Bracher F, Dombeck F. Was internationale Freinamen aussagen Pharm Ztg 2002;45, www.pharmazeutische-zeitung.de/inhalt-45-2002/titel-45-2002/, Abruf am 28. Juli 2019
Guidance on the use of International Nonproprietary Names (INNs) for Pharmaceutical Substances. World Health Organization, www.who.int/medicines/services/inn/FINAL_WHO_PHARM_S_NOM_1570_web.pdf?ua=1
International Nonproprietary Names (INN) for pharmaceutical substances. Names for radicals, groups & others. Comprehensive list 2015. World Health Organization, ww.who.int/medicines/services/inn/RadicalBook2015.pdf
International Nonproprietary Names Modified, INN Working Document 05.167/3. World Health Organization, www.who.int/medicines/services/inn/INNMreview%20paperWkDoc167_Feb06_3_.pdf
International Nonproprietary Names. Allgemeine Informationen zum INN-Programm, www.who.int/medicines/services/inn/en/
The use of stems in the selection of International Nonproprietary Names (INN) for pharmaceutical substances (Stem book 2018), World Health Organization, www.who.int/medicines/services/inn/StemBook_2018.pdf?ua=1
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