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Praxis

Schnelle Hilfe im Notfall

Welche Arzneimittel vorrätig gehalten werden müssen

Mit der Novellierung der Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO), die am 12. Juni 2012 in Kraft trat, wurde neben zahlreichen maßgeblichen Veränderungen auch die Verpflichtung der Apotheke zur Vorratshaltung bestimmter Arzneimittel nach § 15 angepasst. Unverändert ist die Aufteilung in Arzneimittel, die in jeder Apotheke vorrätig zu halten sind (§ 15 Abs. 1 ApBetrO), und Arzneimittel, bei denen sicherzustellen ist, dass diese kurzfristig beschafft werden können (§ 15 Abs. 2 ApBetrO). | Von Kurt Grillenberger

Bei der ersten Gruppe wurden im Wesentlichen die Antidote gegen Vergiftungen mit Opiaten, Cholinesterase-Hemmern, Cyanid und Methämoglobin-Bildnern mangels Praxisrelevanz ersatzlos gestrichen. Dafür wurden unter anderem Betäubungsmittel zur oralen und zur parenteralen Applikation neu aufgenommen. In der zweiten Gruppe wurde unter anderem der C1-Esterase-Inhibitor zur Notfall-Behandlung des hereditären Angioödems (HAE) hinzugefügt und stattdessen einige Immunglobuline gestrichen. Tabelle 1 und Tabelle 2 stellen zunächst im Vergleich der alten und neuen Version des § 15 der ApBetrO die wesentlichen Änderungen gegenüber. Verglichen wird dabei die vor der Novellierung zuletzt gültige Fassung vom 2. Dezember 2008 mit der aktuell geltenden Fassung vom 9. August 2019.

Tab. 1: Vergleich von § 15 Abs. 1 ApBetrO in alter und neuer Fassung (nach [1, 2])
§ 15 Abs. 1 ApBetrO vom 2. Dezember 2008, in der Apotheke ist vorrätig zu halten:
§ 15 Abs. 1 ApBetrO vom 9. August 2019, in der Apotheke ist vorrätig zu halten:
1. Analgetika
2. Betäubungsmittel, darunter Opioide zur Injektion sowie zum Einnehmen mit unmittelbarer Wirkstofffreisetzung und mit veränderter Wirkstofffreisetzung
1. Antidote gegen Intoxikationen und Überdosierungen mit Opiaten, Cholinesterase-Hemmern, Cyanid, Methämoglobinbildnern
2. Emetika
3. Corticoid, hochdosiert, zur Injektion
3. Glucocorticosteroide zur Injektion
4. Antihistaminika zur Injektion
4. Mittel zur Behandlung von Rauchgasvergiftungen
5. Glucocorticoide zur Inhalation zur Behandlung von Rauchgas-Intoxikationen
5. Antischaum-Mittel zur Behandlung von Tensid-Intoxikationen
6. Antischaum-Mittel zur Behandlung von Tensid-Intoxikationen
6. medizinische Kohle
7. medizinische Kohle, 50 g Pulver zur Herstellung einer Suspension
7. Tetanus-Impfstoff
8. Tetanus-Impfstoff
8. Tetanus-Hyperimmunglobulin 250 IE
9. Tetanus-Hyperimmunglobulin 250 IE
10. Epinephrin zur Injektion
11. 0,9% Kochsalzlösung zur Injektion
Verbandsstoffe, Einwegspritzen und Einwegkanülen
12. Verbandsstoffe, Einwegspritzen und -kanülen, Katheter, Überleitungsgeräte für Infusionen sowie Produkte zur Blutzuckerbestimmung
Tab. 2: Vergleich von § 15 Abs.2 ApBetrO in alter und neuer Fassung (nach [1, 2])
§ 15 Abs. 2 ApBetrO vom 2. Dezember 2008, von der Apotheke kurzfristig zu beschaffen:
§ 15 Abs. 2 ApBetrO vom 9. August 2019, von der Apotheke kurzfristig zu beschaffen:
1. Botulismus-Antitoxin vom Pferd
1. Botulismus-Antitoxin vom Pferd
2. Diphtherie-Antitoxin vom Pferd
2. Diphtherie-Antitoxin vom Pferd
3. Schlangengift-Immunserum, polyvalent, Europa
3. Schlangengift-Immunserum, polyvalent, Europa
4. Tollwut-Impfstoff
4. Tollwut-Impfstoff
5. Tollwut-Immunglobulin
5. Tollwut-Immunglobulin
6. Tetanus-Immunglobulin 2500 IE
7. Prothrombinkonzentrat (PPSB)
8. polyvalentes Immunglobulin
9. Röteln-Immunglobulin
10. Varizella-Zoster-Immunglobulin
6. Varizella-Zoster-Immunglobulin
7. C1-Esterase-Inhibitor
11. Hepatitis-B-Immunglobulin
8. Hepatitis-B-Immunglobulin
9. Hepatitis-B-Impfstoff
10. Digitalis-Antitoxin
11. Opioide in transdermaler und in transmucosaler Darreichungsform

Hinsichtlich der Bevorratung in den Apotheken mit den in § 15 Abs. 1 ApBetrO aufgeführten Arzneimitteln haben einzelne Landesapothekerkammern Empfehlungen zu konkreten Wirkstoffen oder Präparaten sowie zum Teil auch zu deren Dosierung herausgegeben. Beispielhaft zeigt Tabelle 3 die entsprechenden Empfehlungen der Landesapothekerkammer Hessen.

Tab. 3: Empfehlung für die Bestückung des Notfalldepots in der Apotheke gemäß § 15 Abs. 1 ApBetrO (nach [3])
Arzneimittelgruppe
möglicher Wirkstoff
Dosierung
Analgetika
z. B. Diclofenac, Ibuprofen, ­Paracetamol etc.
gemäß ärztlicher Anweisung
Betäubungsmittel (BtM), Opioide zur Injektion
Morphin
gemäß ärztlicher Anweisung
Betäubungsmittel (BtM), Opioide mit unmittelbarer Wirkstofffreisetzung
Morphin
gemäß ärztlicher Anweisung
Betäubungsmittel (BtM), Opioide mit veränderter Wirkstofffreisetzung
Morphin
gemäß ärztlicher Anweisung
Betäubungsmittel (BtM), Opioide in transdermaler Darreichungsform
Fentanyl
gemäß ärztlicher Anweisung
Betäubungsmittel (BtM), Opioide in transmucosaler Darreichungsform
Buprenorphin oder Fentanyl
gemäß ärztlicher Anweisung
Glucocorticosteroide zur Injektion
Prednisolon oder Methylprednisolon
anaphylaktischer Schock:1000 mg Prednisolon oder 250 mg bis 500 mg Methylprednisolon
akuter Asthmaanfall:100 mg bis 500 mg Prednisolon oder 250 mg bis 500 mg Methylprednisolon
Antihistaminika zur Injektion
Dimetinden oder Clemastin
zur Sofort- und Intensivtherapie 4 mg Dimetinden oder 2 mg Clemastin
Glucocorticoide zur Inhalation zur Behandlung von Rauchgas-Intoxikationen
Beclomethason u. a.
400 µg Beclomethason direkt nach Rauchgasexposition, wiederholte Gabe möglich
Antischaum-Mittel zur Behandlung von Tensid-Intoxikationen
Simeticon
346 mg bis 824 mg
medizinische Kohle, 50 g Pulver zur Herstellung einer Suspension
medizinische Kohle
0,5 bis 1 g/kg Körpergewicht
Epinephrin zur Injektion
Epinephrin
0,5 mg bis 1 mg (nach Verdünnung mit 0,9% NaCl)

Regionale Notfalldepots

Für die Bevorratung der in § 15 Abs. 2 ApBetrO aufgeführten Arzneimittel, die entweder in der Apotheke vorrätig gehalten werden müssen oder kurzfristig beschafft werden können, haben die Landesapothekerkammern der einzelnen Bundesländer jeweils in mehreren Krankenhausapotheken regionale Notfalldepots eingerichtet, die den öffentlichen Apotheken als Dienstleistung die entsprechenden Medikamente im Notfall kurzfristig zur Verfügung stellen. Die Adressen der Notfalldepots sind auf den Internetseiten der jeweiligen Landesapothekerkammern zu finden. Nicht jedes regionale Notfalldepot hat alle in Absatz 2 aufgeführten Mittel auf Lager. Auf den Internetseiten der jeweiligen Notfalldepots kann in der Regel eingesehen werden, welche Notfall-Medikamente vorrätig gehalten werden. Beispielhaft zeigt Tabelle 4 die Verfügbarkeit der einzelnen Mittel für die fünf Notfalldepots der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg.

Tab. 4: Bestandsliste der Notfalldepots der LAK Baden-Württemberg (Stand 5. September 2019) (nach [4])
ApBetrO § 15 Abs. 2 Nr.
Präparat
Freiburg
Karlsruhe
Stuttgart
Ulm
Villingen-Schwenningen
1
Botulismus-Antitoxin, 250 ml
v
v
v
2
Diphtherie-Antitoxin 30.000 IE
v
v
v
3
Schlangengift-Immunserum Europa
v
v
4
Tollwut-Impfstoff HDC
v
v
v
v
v
5
Berirab® 5 ml
v
v
v
v
v
6
Varitect® 20 ml/50 ml
v
v
v
v
v
7
Berinert® 500 E, 10 ml
v
v
v
v
8
Hepatitis-B-Immunglobulin 1 ml/5 ml
v
v
v
v
v
9
Engerix®-B Kinder 0,5 ml Engerix® B Erwachsene 1 ml
v
v
v
v
v
10
Digitalis-Antitoxin
v

Die Medikamente können aus den regionalen Notfalldepots rund um die Uhr nur von Apotheken und nur bei Vorliegen einer ärztlichen Verordnung bezogen werden [4, 5]. Hierzu nehmen die Apotheken in der Regel zunächst telefonisch Kontakt mit dem Notfalldepot auf und tätigen die Bestellung über einen vorher zugefaxten Bestellbogen. Vom Notfalldepot wird das angeforderte Arzneimittel dann zur Abholung durch die anfordernde Apotheke (bzw. einen von ihr beauftragten Boten) bereitgestellt. Ein Versand ist nicht möglich. Das Notfall-Medikament wird mit einem Lieferschein abgegeben, wobei beim Transport gegebenenfalls auf das Einhalten der Kühlkette zu achten ist (Kühlbox!). Der abholenden Apotheke wird von der Notfalldepot-betreibenden Krankenhausapotheke das Arzneimittel zum Apothekeneinkaufspreis zzgl. Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt.

Prinzipiell werden in den Notfalldepots nur in Deutschland zugelassene Arzneimittel eingelagert. In manchen Fällen (bei dem Botulismus-, Diphtherie- und Digitalis-Antitoxin sowie dem polyvalenten Schlangengift-Immunserum, die in Deutschland derzeit nicht zugelassen sind) ist jedoch ein Import aus dem Ausland nicht zu umgehen. In diesem Fall hat eine Dokumentation nach § 18 ApBetrO durch die bestellende Apotheke zu erfolgen. Außerdem ist bei der Abgabe importierter Notfallarzneimittel der Arzt darauf aufmerksam zu machen, dass es sich um ein in Deutschland nicht zugelassenes Arzneimittel handelt. Da es sich bei vielen Präparaten um ein Blutprodukt nach Transfusionsgesetz handelt, sind in diesen Fällen Erwerb und Abgabe nach § 17 Abs. 6a ApBetrO durch die Apotheke zu dokumentieren.

Über die in § 15 Abs. 2 ApBetrO gelisteten Arzneimittel hinaus bevorraten die meisten Notfalldepots zusätzlich freiwillig eine größere Anzahl von Rifampicin-Saft (Eremfat®-Sirup) zur Prophylaxe gegen die Meningokokken-Meningitis. Bereits bei einem begründeten Verdacht auf eine Meningokokken-Meningitis muss eine Meldung nach Infektionsschutzgesetz an die zuständigen Gesundheitsbehörden erfolgen.

Die Notfall-Medikamente

Neben den „klassischen“ Medikamenten(gruppen) wie den Analgetika, Betäubungsmitteln, Antihistaminika, Glucocorticoiden oder dem Epinephrin, deren Wirkung auf pharmakologischen Wechselwirkungen beruhen, und den physikalisch wirkenden Notfallmedikamenten (Antischaum-Mittel, medizinische Kohle und 0,9%ige Kochsalzlösung) finden sich in den Auflistungen der ApBetrO für die im Notfall zu bevorratenden bzw. kurzfristig zu beschaffenden Arzneimittel vor allem immunologisch wirksame Stoffe wie die unterschiedlichen Impfstoffe, Immunglobuline und Antitoxine. Schließlich gehört auch das körpereigene Protein C1-Ester­ase-Inhibitor zu den im Notfalldepot zu lagernden Notfallmedikamenten. Im Folgenden sollen die einzelnen Stoffgruppen etwas näher betrachtet werden.

Betäubungsmittel im Notfalldepot?

Zur Sicherstellung einer besseren Versorgung von ambulanten Palliativpatienten ist die Vorratshaltung von Betäubungsmitteln in der öffentlichen Apotheke mit der Neufassung der Apothekenbetriebsordnung konkretisiert worden. So sind neben den üblichen Analgetika Opioide zur Injektion und zum Einnehmen – in schnellfreisetzenden und retardierten Darreichungen – zur schnellen Schmerzbekämpfung im Notfall ständig vorrätig zu halten. Jede Apotheke muss im Notdienst, nachts oder an Wochenenden und Feiertagen die dafür notwendigen Schmerzmittel zur Verfügung stellen können.

Die in Absatz 2 aufgeführten Opioide in transdermaler (also als transdermale therapeutische Systeme, TTS) und transmucosaler (also als Sublingual- oder Buccaltablette) Darreichungsform könnten theoretisch auch in zentralen Notfalldepots gelagert werden. Die Landesapothekerkammern haben sich jedoch gegen die Aufnahme dieser Betäubungsmittel in die Notfalldepots entschlossen und damit den Apotheken die Verpflichtung zur eigenen Vorratshaltung weitergegeben. Dabei reicht es auch hier nicht aus, sich auf die Belieferung durch den pharmazeutischen Großhandel zu verlassen, sondern die Apotheke muss auch Präparate mit diesen beiden Darreichungsformen einlagern.

Weitere „Klassiker“

Die Bevorratung mit klassischen analgetischen Wirkstoffen wie Diclofenac, Ibuprofen, Paracetamol und anderen ergibt sich aus dem großen Bedarf im Rahmen des täglichen Apothekenbetriebs von selbst. Ähnlich gilt dies für die Antihistaminika, die Glucocorticoide und das Adrenalin (Epinephrin) – auch zur Injektion, die im Notfall bei ana­phylaktischen Reaktionen z. B. nach einem Bienen- oder Wespenstich sowie bei Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten oder allergischen Reaktionen auf bestimmte Medikamente eingesetzt werden.

Physikalisch wirkende Stoffe

Wurden schaumbildende Substanzen wie Tenside (Spülmittel, Waschmittel, Flüssigseifen) aufgenommen, sind Antischaum-Mittel wie Simeticon die Mittel der Wahl. Die im Handel befindlichen Suspensionen enthalten etwa 40 mg Simeticon pro Milliliter. Die bei Tensidvergiftungen empfohlene Dosis beträgt je nach Schwere der Vergiftung bei Erwachsenen 10 ml bis 20 ml (ein bis zwei Esslöffel) und bei Kindern 2,5 ml bis 10 ml (ein halber bis zwei Teelöffel) [6, 7]. Das sehr lipophile Polydimethylsiloxan verringert die Oberflächenspannung und bringt die Gasbläschen des Schaums zum Zerfallen. Damit sinkt die hohe Aspirationsgefahr, die vor allem beim Erbrechen ein gefährliches Eindringen der Tenside in die Atemwege zur Folge hätte.

Die giftbindende Wirkung der medizinischen Kohle (auch Aktivkohle) beruht auf deren enorm großer Oberfläche. Vor allem gegenüber lipophilen Giftstoffen zeigt medizinische Kohle ein sehr hohes Adsorptionsvermögen. Die empfohlene Dosis beträgt bei Kindern 0,5 bis 1 g pro Kilogramm Körpergewicht, für Erwachsene wird eine Einmaldosis von 50 g empfohlen. Für ausführliche Informationen zur Aktivkohle siehe Grillenberger K. „Klein, stark, schwarz … Aktivkohle im Einsatz (nicht nur) gegen Vergiftungen“. DAZ 2019, Nr. 39, S. 58 – 63 [8].

Die hauptsächliche Anwendung der physiologischen Kochsalzlösung mit einer Konzentration von 0,9% liegt in der Angleichung des osmotischen Drucks beim Verdünnen anderer parenteraler Lösungen (wie z. B. der Epinephrin-Lösung) auf den osmotischen Druck des Blutes oder anderer Körperflüssigkeiten sowie in der Verabreichung isotonischer Infusionen zur Volumenersatz-Therapie beim Schock und bei großen Blutverlusten.

Impfstoffe und Co.

Die Impfstoffe lassen sich einteilen in Aktiv- und Passiv-Impfstoffe. Während bei einer aktiven Impfung abgeschwächte oder abgetötete Krankheitserreger oder manchmal auch Erregerbestandteile verabreicht werden, die selber keine ernsthafte Erkrankung mehr verursachen können, besteht die passive Immunisierung in der Gabe von spezifischen oder unspezifischen Antikörpern (Immunglobulinen), die entweder aus menschlichem Blut isoliert werden oder von Tieren, häufig Pferden, gewonnen werden. Als Postexpositionsprophylaxe (z. B. gegen Hepatitis B, Tollwut oder Tetanus) wird teilweise auch eine Simultanimpfung mit einem Aktivimpfstoff (grundsätzlich kein Lebendimpfstoff) und einem Passivimpfstoff durchgeführt.

Im Falle des Tetanus-Impfstoffs werden keine abgeschwächten oder toten Bakterien gespritzt, sondern das Toxoid der Tetanuserreger Clostridium tetani. Bei Toxoiden handelt es sich um entgiftete Exotoxine, deren toxische Wirkung durch spezielle Verfahren (Behandlung mit Formaldehydlösung) unter Erhalt der antigenen Eigenschaft verloren gegangen ist. Der Tollwut-Impfstoff enthält den inaktivierten Tollwut-Virus, der Aktivimpfstoff gegen das Hepatitis-B-Virus enthält ein Oberflächenantigen des Hepatitis-B-Virus.

Die in § 15 ApBetrO aufgeführten Immunglobuline gegen Tetanus, Tollwut, Hepatitis B und Varizella Zoster enthalten die jeweils aus dem Plasma gesunder menschlicher Spender gewonnenen Antikörper. Die Konzentrationsangabe von Immunglobulin-Präparaten erfolgt nicht in Masseangaben, sondern durch Quantifizierung der biologischen Aktivität in IE (Internationalen Einheiten) bezogen auf entsprechende Referenzpräparate.

Schutz vor Giftschlangen

Das Schlangengift-Immunserum „Europa“ ist ein polyvalentes Immunserum zur Neutralisation von Schlangengiften europäischer Giftschlangen (Vipern). Das Immunserum –auch als Antivenin bezeichnet – ist eine Mischung verschiedener Immunglobuline, die durch Impfung von Tieren gewonnen und aus deren Blutserum herausfraktioniert werden. Zur Gewinnung von Antiveninen werden Spendertieren (in der Regel Pferde oder Ziegen) bestimmte, nicht letale Dosen an Schlangengift (also dem Antigen) verabreicht, um ihr Immunsystem zur Produktion von Antikörpern bzw. Immunglobulinen zu stimulieren. Im Anschluss wird das Blut entnommen und aufgearbeitet. Die Immunglobuline des Schlangengift-Immunserums „Europa“ sind in der Lage, die Toxine der Schlangenarten Vipera berus (Kreuz­otter), Vipera aspis (Aspisviper), Vipera ammodytes (Sandotter) und Vipera ursinii (Wiesenotter) zu neutralisieren. Laut der entsprechenden Monographie des Europäischen Arzneibuches Ph. Eur. wird die Aktivität der enthaltenen Immunglobuline durch Bestimmung der LD50 für Mäuse quantifiziert.

In Deutschland ist in freier Natur unter den giftigen Schlangen nur die Kreuzotter verbreitet. Ihr Biss ist für einen ­gesunden Erwachsenen kaum lebens­gefährlich. Da das Antivenin aus tierischem Eiweiß besteht, ist gegebenenfalls das Risiko einer anaphylaktischen Reaktion auf das Immun­serum größer als durch das Gift selbst. Vor Gabe des Immun­serums ist deshalb eine Nutzen-Risiko-Abwägung zu vollziehen.

Antitoxine schwer verfügbar

Die Antitoxine gegen Botulismus, Diphtherie und Digitalis-Glykoside werden aus enzymatisch gereinigtem Immun­serum vom Pferd bzw. Schaf gewonnen und enthalten Fab-Antikörperfragmente. Sie sind in Deutschland nicht zugelassen und müssen – falls überhaupt verfügbar – aus dem Ausland importiert werden. Auch wenn die entsprechenden Krankheitsbilder bzw. Vergiftungen in Deutschland sehr selten sind, stellt die mangelnde Verfügbarkeit seit Jahren ein großes Problem dar. Die in der Regel aus Nicht-EU-Ländern – unter anderem aus Russland, Indien oder Brasilien – eingeführten Präparate entsprechen nicht den in Europa vorgeschriebenen pharmazeutischen Spezifikationen, so dass diese zwar von den Notfalldepots über eine Sonderregelung trotz fehlender Zulassung importiert und gelagert werden dürfen, die Gefährdungshaftung allerdings nicht beim Hersteller, sondern beim einführenden Apotheker liegt. Der individuelle Einsatz findet unter der unmittelbaren Verantwortung des Arztes statt, der den Patienten darüber informieren muss, dass das Arzneimittel nicht zugelassen ist.

Antitoxine und Immunsera in der Kritik

eda | Beim Deutschen Apothekertag 2019 in Düsseldorf wurde ein Antrag der Apothekerkammer Berlin und der Landesapothekerkammer Rheinland-Pfalz mit großer Mehrheit angenommen, der den Gesetzgeber auffordert, die Anforderungen an die öffentliche Apotheke gemäß § 15 Abs. 2 ApBetrO nach Art und Menge zu überprüfen und dem relevanten Bedarf in der ambulanten Versorgung anzupassen (Drucksache L 6 zu 4.5.1 und 4.5.2). Die Antragsteller sehen im Zusammenhang mit den Antitoxinen und Immunsera im Notfalldepot drei dringende Probleme:

Botulismus-Antitoxin, Diphtherie-Antitoxin, Schlangengift-Immunserum (polyvalent, Europa) und Digitalis-Antitoxin

  • seien für die ambulante Versorgung praktisch nicht von Bedeutung,
  • seien nicht als zugelassenes Fertigarzneimittel in Deutschland bzw. in Europa verfügbar und
  • würden regelmäßig in den Arzneimittellagern bei exponenziell steigenden Kosten verfallen.

Demnach seien die Anforderungen der kurzfristigen Beschaffung gem. § 15 Abs. 2 Nr. 1 – 3, 10 ApBetrO an die öffentlichen Apotheken weder relevant noch umsetzbar. Die Antragsteller fordern daher zumindest eine Verschlankung der Liste, wenn nicht sogar eine ersatzlose Streichung von Botulismus-Antitoxin, Diphtherie-Antitoxin, Schlangengift-Immunserum und Digitalis-Antitoxin.

C1-Esterase-Inhibitor

Mehr als 30 verschiedene körpereigene Proteine bilden zusammen das Komplementsystem, einen Teil der unspezifischen humoralen Immunabwehr. Seine Hauptaufgabe besteht unter anderem darin, sich an die Oberfläche von Krankheitserregern zu binden, um sie so für Phagozyten und Immunzellen erkennbar und angreifbar zu machen. Daneben löst es eine Reihe von Entzündungsreaktionen aus, die den Kampf gegen die Infektion unterstützen. Es werden neun Komplementfaktoren (C1 bis C9) unterschieden, die ähnlich den Faktoren der Blutgerinnung kaskadenartig aktiviert werden. Die Aktivierung auf dem klassischen Weg erfolgt durch den Komplementfaktor C1, der entsteht, wenn die Immunglobuline IgG oder IgM mit ihren Antigenen einen Antigen-Antikörper-Komplex bilden. Dies aktiviert infolge eine Kaskade weiterer Komplementfaktoren.

Ein Mangel an Komplementfaktoren kann das Auftreten opportunistischer Infektionen begünstigen. Im Gegensatz dazu führt ein vererbbarer Mangel des körpereigenen C1-Ester­ase-Inhibitors (C1-INH) zu einer überschießenden Aktivierung des Komplementsystems und dem klinischen Bild des hereditären Angioödems (HAE) – auch bekannt als Quincke-Ödem. Dieses äußert sich in wiederkehrenden Schwellungen (Ödemen) der Haut, Schleimhäute und der inneren Organe, die unter Umständen lebensbedrohlich sein können. Man schätzt, dass etwa einer unter 10.000 bis 50.000 Menschen betroffen ist, jedoch liegt die Dunkelziffer wahrscheinlich deutlich höher.

Der C1-Esterase-Inhibitor wird vorwiegend in der Leber gebildet und unterbindet unter anderem die entzündungsvermittelte Erhöhung der Gefäßpermeabilität und damit den Austritt von Flüssigkeit und Zellen unter Ausbildung eines Ödems. Durch Auslöser wie emotionalen Stress, Verletzungen oder Infektionen kommt es bei einem Mangel an C1-INH zu den Attacken des hereditären Angioödems. Diese zeigen sich häufig an den Gliedmaßen. In seltenen Fällen können Kehlkopfödeme auftreten, die durch Verengung der oberen Atemwege Erstickungsanfälle auslösen. Die einschränkenden und evtl. sogar lebensbedrohlichen Symptome, die mit HAE einhergehen, können mit humanem C1-Esterase-­Inhibitor-Konzentrat behandelt werden. Dieses wird zu therapeutischen Zwecken entweder aus menschlichem Blutplasma gewonnen (Cinryze®) oder als rekombinanter Inhibitor Conestat alfa (Ruconest®) aus der Milch transgener Kaninchen isoliert.

Fazit

Mit der Bevorratung lebenswichtiger Arzneimittel leisten sowohl die Apotheken als auch die von den Apothekerkammern betriebenen Notfalldepots einen wichtigen Beitrag zur Notfall-Versorgung der Patienten bei lebensbedrohlichen Vergiftungen, Infektionen oder Krankheitssymptomen. Erschwert wird dieser Versorgungsauftrag allerdings durch den Rückzug deutscher, europäischer und nordamerikanischer Pharmahersteller aus der meist aufwendigen und wenig lukrativen Produktion mancher biologischer Wirkstoffe. Die aus dieser – auch gesundheitspolitisch verursachten – Situation resultierende Verantwortung und Haftung für den unvermeidlichen Einsatz von in der EU nicht zugelassenen Präparaten überträgt der Gesetzgeber (wieder einmal) den Apotheken und den verordnenden Ärzten. |

 

Literatur

[1] Verordnung über den Betrieb von Apotheken (Apothekenbetriebsordnung – ApBetrO) in der Fassung vom 2. Dezember 2008

[2] Verordnung über den Betrieb von Apotheken (Apothekenbetriebsordnung – ApBetrO) in der Fassung vom 9. August 2019

[3] Empfehlung für die Bestückung des Notfalldepots in der Apotheke gemäß § 15 Abs. 1 ApBetrO. www.apothekerkammer.de/pdf/Empfehlung_Bestueckung_Notfallbevorratung_Apotheken_BL_120911.pdf, Abruf 12. September 2019

[4] Notfalldepots. Informationen der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg, www.lak-bw.de/pharmazie-und-recht/infocenter/notfalldepots/notfalldepots.html, Abruf 12. September 2019

[5] Notfalldepot der Apothekerkammer Berlin. Informationen der Apothekerkammer Berlin, www.akberlin.de/fileadmin/akb/notfalldepots_arzneimittelzwischenfaelle/190731_AM_Lager__15_Abs2Nr1_10ApBetrO.pdf, Abruf 12. September 2019

[6] Fachinformation Lefax® Pump-Liquid

[7] Fachinformation sab simplex® Suspension zum Einnehmen

[8] Grillenberger K. Klein, stark, schwarz … Aktivkohle im Einsatz (nicht nur) gegen Vergiftungen. DtschApothZtg 2019;39:58-63

Autor

Prof. Dr. Kurt Grillenberger, Pharmaziestudium und Promotion in Erlangen; Forschungstätigkeit in der Abteilung Nuklearmedizin des Universitätsklinikums Ulm; seit 1997 Dozent am Berufskolleg für PTA und an der Hochschule der Naturwissenschaftlich-technischen Akademie Prof. Dr. Grübler gGmbH; seit 2015 Rektor der nta Hochschule Isny; Lehrbeauftragter für Chemie an der Hochschule Kempten

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