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Klinische Pharmazie
Was Versandapotheken nicht können und Pharmaziestudenten selten lernen
Ein Gastkommentar von Dr. Markus Zieglmeier über naheliegende und über intelligente Fragen
Wer das EuGH-Urteil zum Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln aufmerksam durchgelesen hat, der stieß auf einen merkwürdigen Satz: Der EuGH sah die Versandapotheken benachteiligt, weil die Präsenzapotheken mit Ihrem Personal vor Ort die Kunden individuell beraten können. Die naheliegende Frage ist nun, ob die patientennahen Apotheken diesen Vorteil überhaupt in ausreichendem Maße nutzen. Die zweite Frage ist, was wir (als Berufsstand) tun müssen, um den Vorteil in Zukunft besser zu nutzen als bisher.
Die im voranstehenden Beitrag geschilderte Situation in der Apotheke ist nur zu einem kleinen Teil (nämlich bezüglich der Arzneimittel ISDN und Citalopram) fiktiv. Allerdings war keine junge Offizinapothekerin die Hauptakteurin, sondern ein alter Krankenhausapotheker – nämlich ich. Wir standen vor einigen Jahren in der hochmodernen Center-Apotheke eines befreundeten Kollegen, um sein neues Kassensystem zu bewundern. Der geschilderte Patient kam herein und drückte – ausgerechnet – mir zwei Rezepte (ASS, Clopidogrel, Bisoprolol, Ramipril, Simvastatin) in die Hand. Nun ist das Bearbeiten von Rezepten aus dem ambulanten Sektor eine Situation, die im Berufsalltag vom Krankenhausapothekern nicht vorkommt. Die naheliegende Frage wäre also gewesen: „Okay – was mache ich jetzt damit?“ Da diese Frage keinen besonders kompetenten Eindruck hinterlassen hätte, entschied ich mich für die intelligentere Frage: „Seit wann haben Sie denn den Stent?“
Zu meiner Überraschung schauten mich alle Umstehenden – Apotheker, PTAs und Patient – an, als wäre eben der Wahrsager samt Glaskugel aus seinem Jahrmarktszelt getreten. Dabei hatte ich nur die Informationen des Rezepts und die der Leitlinie, auf die der daraus resultierende Medikationsplan schließen ließ, zusammengefügt. Diese kleine Begebenheit wirft eine ganze Kaskade von Fragen auf:
- Warum wurde diese Situation von den Kollegen als so besonders empfunden? Das ist die naheliegende Frage, aus der sich einige (intelligentere) Fragen ableiten:
- Wie bekommen wir die Fähigkeit flächendeckend in die deutschen Apotheken, eine Medikation mit einer Leitlinie zu verbinden, diese mit der Krankheit und diese wiederum mit der Situation, der Wahrnehmung und der Erwartungshaltung des Patienten?
- Was muss sich im Bewusstsein der Apotheker ändern, um die Voraussetzungen für diesen Prozess zu schaffen?
- Was muss sich an den Universitäten ändern?
- Was können wir von anderen Berufen – insbesondere der Ärzteschaft – lernen, die in Hinblick auf das Image der flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung in einer ganz ähnlichen Situation sind?
Es beginnt ohne Zweifel an den Universitäten. Seit Jahren sagen meine PhiPs, die exotische Vokabel Leitlinie hätten sie zum ersten Mal von mir gehört. Viele Professoren sind heute stolz darauf, wenn sie eine möglichst hohe Zahl von Absolventen mit oder ohne Promotion in Forschung und Industrie unterbringen – also überall anders als in der Offizin. Das hat durchaus egoistische Gründe. Forschung liefert Publikationen und damit Prestige, die Beziehungen zur Pharmaindustrie Drittmittel. Dass die Aufgabe, zukünftige Apotheker auszubilden, die nun einmal zu 80% in der Offizin arbeiten werden, die eigentliche Existenzberechtigung der pharmazeutischen Fakultäten darstellt, verschwindet da ganz schnell durch Verdrängung aus der Wahrnehmung. Der Berufsstand täte gut daran, die Bewohner der Elfenbeintürme von Zeit zu Zeit mit Nachdruck daran zu erinnern. Dies auch deshalb, weil die angehenden Apotheker die Einstellung ihrer Professoren unbewusst und ungefiltert übernehmen. Wenn jungen Menschen acht Semester lang von anerkannten Autoritäten vermittelt wird, dass diejenigen in der Offizin landen, bei denen es zu mehr nicht gereicht hat, hat das zweifellos Auswirkungen auf das Selbstbild des Berufsnachwuchses.
Die Mediziner haben das Problem lange vor uns erkannt und Lehrstühle für Allgemeinmedizin geschaffen, die eng mit einem Netz von Ausbildungspraxen kooperieren. Bei uns dagegen hat es bisher gerade einmal dafür gereicht, an der Hälfte der pharmazeutischen Fakultäten eine Professur für Klinische Pharmazie zu etablieren. Diese Lehrstühle kooperieren – wenn überhaupt – mit Krankenhausapotheken, während die Offizinapotheker zum großen Teil so tun, als würde sie das alles nichts angehen. Das ist die Kehrseite der Medaille: Um den Berufsnachwuchs muss man sich offenbar erst kümmern, wenn er sich mit der Bewerbung in der Hand vorstellt. Und wenn er das nicht tut, sind alle anderen schuld daran. Wie der Bundesverband der Pharmaziestudierenden (BPhD) kürzlich feststellte, hat die Apothekerschaft eine Mordsangst vor Veränderung. Ironischer Weise wirft sie genau das den Professoren vor, die den Berufsnachwuchs so ausbilden, wie sie es immer schon getan haben. Wie es scheint, müssen wir alle neu über uns selbst nachdenken.
Um auf Theory of Mind zurückzukommen: Pharmazeuten an den Universitäten und in der Offizinpharmazie leben in unterschiedlichen Realitätstunneln. Die Schnittmenge der Realitätswahrnehmungen ist minimal, die Kommunikation ist infolgedessen gestört bis blockiert, die Folgen für die Berufsrelevanz des Studiums sind für 80% der Studierenden gravierend. Bevor man die Frage einer novellierten Approbationsordnung sinnvoll diskutieren kann, wird es notwendig sein, zunächst eine Bestandsaufnahme der Situation der Klinischen Pharmazie an deutschen Universitäten vorzunehmen. Um es mit den Medizinern zu sagen: Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gesetzt. |
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