Arzneimittel und Therapie

Neuer Immunmodulator gegen MS

Siponimod kann bei schwer kranken Patienten die Progression verzögern

Bei der sekundär progredienten Verlaufsform der multiplen Sklerose (SPMS) waren die Therapiemöglichkeiten bislang begrenzt. Mit Siponimod (Mayzent®) bringt Novartis nun einen neuen, oral einzunehmenden Wirkstoff auf den Markt, mit dem sich das Fortschreiten der Erkrankung bei betroffenen Patienten verzögern lässt.

Bei etwa 85% der Patienten mit multipler Sklerose (MS) wird die schubförmig-remittierende Form der Erkrankung (im englischen relapsing-remitting MS, abgekürzt RRMS) diagnostiziert. Weitere Hauptformen sind die primär progrediente multiple Sklerose (PPMS) und die sekundär progrediente multiple Sklerose (SPMS). Bei etwa 50 bis 60% der Patienten mit schubförmig-remittierender multipler Sklerose geht die Erkrankung innerhalb von rund zehn bis zwanzig Jahren in die sekundär progrediente Verlaufsform über. Dabei verschlechtern sich die neurologischen Funktionen irrever­sibel, körperliche Behinderungen nehmen zu, und es besteht ein hohes Risiko für bleibende Invalidität.

Frühzeitige Diagnose essenziell

Um entsprechende Maßnahmen einleiten zu können, ist es wichtig, das Fortschreiten der Erkrankung frühzeitig zu diagnostizieren. Eine mögliche Hilfestellung für das Arzt-Patienten-Gespräch bietet das Logarithmus-basierte Tool MSProDiscuss™, mit dem sich Anzeichen für eine Progression der RRMS zur SPMS erkennen lassen. Das Tool ist unter www.neuro-compass.education verfügbar. Die Entwicklung wurde von Novartis finanziert.

Im Falle einer SPMS-Diagnose konnten bislang nur sehr wenige Arzneimittel eingesetzt werden. Dazu zählen Interferon beta-1b (Betaferon®, Extavia®), Mitoxantron (Ralenova®) und als orales Therapeutikum über maximal zwei Jahre Cladribin (Mavenclad®). Mit Siponimod wurde nun ein neuer, oral zu applizierender Wirkstoff zugelassen, mit dem das Fortschreiten der Erkrankung bei erwachsenen SPMS-Patienten mit Krankheitsaktivität, nachgewiesen durch Schübe oder Bildgebung der entzündlichen Aktivität, nachweislich verzögert werden kann.

Foto: Novartis

Zur Auftitration von Siponimod (Mayzent®) steht eine Titrationspackung mit 12 Tabletten zu je 0,25 mg zur Verfügung. Für die Erhaltungstherapie gibt es Packungen mit 84 Tabletten zu je 0,25 mg und Packungen mit 28 Tabletten zu je 2,0 mg.

Modulation von S1P-Rezeptoren

Siponimod ist ein S1P-Rezeptor-Modulator, der an Lymphozyten selektiv an zwei der fünf G-Protein-gekoppelten Rezeptoren (S1P1 und S1P5) für das endo­gene Sphingosin-1-Phosphat bindet. Dadurch wird verhindert, dass aktivierte T-Lymphozyten aus den Lymphknoten austreten und in das zentrale Nervensystem gelangen. Der Wirk­mechanismus von Siponimod ähnelt damit dem von Fingolimod (Gilenya®), das besonders stark an S1P1 bindet und für die Behand­lung der hochaktiven RRMS zugelassen ist. Sipo­nimod gelangt auch in das zentrale Nervensystem und bindet dort an den S1P5-Rezeptor verschiedener Zellen, einschließlich Astrozyten und Oligodendrozyten. In präklinischen MS-Modellen zeigte Siponimod re­myelinisierende und neuroprotektive Eigen­schaften.

Die Progression bremsen

Die Zulassung von Siponimod basiert auf den Daten der randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Phase-III-Studie EXPAND (Exploring the efficacy and safety of siponimod in patients with secondary progressive multiple sclerosis). Ziel war es, die Wirksamkeit auf die Behinderungsprogression und die Sicherheit von einmal täglich oralem Siponimod bei Patienten mit aktiver und nicht aktiver SPMS zu untersuchen. Die 1651 Studienteilnehmer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren zeigten im Schnitt seit fast 17 Jahren Symptome einer multiplen Sklerose. Ihr Behinderungsgrad, bestimmt mithilfe der Expanded Disability Status Scale (EDSS), lag zwischen 3,0 und 6,5; etwa jeder zweite Patient benötigte eine Gehhilfe. Im Vergleich zu Placebo bewirkte Siponimod nach drei Monaten eine signifikante Reduktion des Risikos einer Behin­derungsprogression um 21% (p = 0,013), nach sechs Monaten waren es 26% (p = 0,006). Die jährliche Schubrate reduzierte sich gegenüber Placebo signifikant um 55% (p < 0,0001). In weiteren Analysen zeigte Siponimod außerdem einen positiven Einfluss auf die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit, gemessen mit dem Symbol Digit Modalities Test (SDMT). Auch der Einfluss auf die Mobilität der Patienten war positiv. Im Vergleich mit Place­bo bewirkte Siponimod Berechnungen zufolge eine um 4,3 Jahre länge­re Gehfähigkeit bis zur Abhängigkeit von einem Rollstuhl (12 Jahre unter Placebo vs. 16,3 Jahre unter Sipon­imod).

Das Nebenwirkungsspektrum von Siponimod ähnelte dem von Fingolimod. Uner­wünschte Wirkungen, die häufiger auftraten als unter Placebo, waren Lymphopenie, erhöhte Leberenzymwerte, Bradykardie und Bradyarrhythmie, Hypertension, Makulaödem, Varizella-zoster-Reaktivierung sowie Konvulsionen.

Langsam auftitrieren

Um mögliche kardiale Nebenwirkungen zu verringern, wird die Siponimod-Dosis über fünf Tage auftitriert. Begonnen wird mit 0,25 mg einmal täglich an den Tagen eins und zwei, gefolgt von täglichen Dosen von 0,5 mg an Tag drei, 0,75 mg an Tag vier und 1,25 mg an Tag fünf. Die Tabletten sollten morgens mit oder ohne Mahlzeit eingenommen werden. Ab Tag sechs erreicht der Patient seine verordnete Erhaltungsdosis, die je nach Genotyp 1 mg (vier Tabletten zu je 0,25 mg) oder 2 mg täglich beträgt. Wird die Erhaltungstherapie für vier oder mehr aufeinanderfolgende Tage unterbrochen, muss die Dosis erneut auftitriert werden.

Genotypisierung erforderlich

Siponimod wird hauptsächlich durch CYP2C9, in geringerem Maße auch durch CYP3A4 metabolisiert. Vor Behandlungsbeginn muss der CYP2C9-Genotyp der Patienten bekannt sein. Bei homozygoten Trägern des mutierten CYP2C9*3-Allels (CYP2C9*3*3-Genotyp) ist die Enzymaktivität stark reduziert, sodass deutlich erhöhte Wirkstoffspiegel auftreten würden. Bei diesen Patienten darf Siponimod nicht angewendet werden. Für Patienten mit nur einem mutierten Allel (CYP2C9*2*3- oder -*1*3-Genotyp) wird 1 mg als einmal tägliche Erhaltungsdosis empfohlen. Alle anderen CYP2C9-Genotypen sollten 2 mg Siponimod erhalten. |

Literatur

Informationsmaterial von Novartis zum Presseworkshop zu Mayzent® (Siponimod) am 10. Februar 2020 in München

Fachinformation Mayzent® (Siponimod) 0,25 mg/2 mg Filmtabletten Novartis Pharma. Stand Februar 2020

Kappos L et al. Siponimod versus placebo in secondary progressive multiple sclerosis (EXPAND): a double-blind, randomized, phase 3 study. Lancet 2018;391(10127):1263-127

Mutschler Arzneimittelwirkungen, 11. Auflage 2020, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart

Benedict R et al. Effect of siponimod on cognition in patients with secondary progressive multiple sclerosis (SPMS): Phase 3 EXPAND study subgroup analysis. Poster presentation. American Academy of Neurology (AAN) Annual Meeting, Mai 2019

Vermersch P et al. Siponimod delays the time to wheelchair in patients with SPMS: results from the EXPAND study. 35th Congress of of the European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS), September 2019

MSProDiscuss™: MS Progression Discussion Tool. www.msprodiscuss.com

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

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