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Wie Fasten ohne Verzicht
Was hinter dem Hype um das Spermidin steckt
Intermittierendes Fasten, 16:8-Fasten, Heilfasten – die Liste möglicher Fastenmethoden ist lang. Eine Vielzahl an Studien belegt inzwischen die aus einer zeitlich begrenzten Kalorien- bzw. Nahrungsrestriktion resultierenden gesundheitsförderlichen Effekte [1, 2]. Kalorienrestriktive Mimetika – zu denen auch Spermidin gezählt wird – sollen im Körper die positiven gesundheitlichen Effekte des Fastens erzeugen können, ohne dabei die Nahrungszufuhr einschränken zu müssen. Im Mausmodell wurden kardio- und neuroprotektive Effekte sowie eine verbesserte immunologische Krebsabwehr durch eine Spermidin-Supplementation bereits nachgewiesen [3, 4, 5]. Außerdem scheint es den Alterungsprozess von Stammzellen bremsen zu können und den Erhalt der natürlichen Mitochondrienfunktion positiv zu beeinflussen [6]. Die bislang wenigen humanepidemiologischen Studien weisen überdies auf eine reduzierte Sterblichkeit durch kardiovaskuläre Ereignisse oder Krebs in Folge einer Spermidin-reichen Ernährung hin [7].
Biochemie und Physiologie
Spermidin (1,5,10-Triazadecan, Monoaminomethylputrescin) findet sich als physiologische Substanz in allen lebenden Organismen, kann aber auch über Lebensmittel aufgenommen werden (Abb. 1). Mit zunehmender Stoffwechselrate steigt die Spermidin-Menge im Körper, während sie umgekehrt mit dem Alter abnimmt. Weitere Umstände, die die Spermidin-Konzentration in menschlichen Zellen steigen lassen, sind Wachstumsphasen, Schwangerschaft, körperliche Anstrengung/Sport sowie diverse chronisch-entzündliche Erkrankungen. Die genaue physiologische Bedeutung von Spermidin ist nach wie vor nicht vollständig geklärt. Aktuelle Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass die in präklinischen Modellen gezeigten Effekte einer erhöhten Spermidin-Zufuhr insbesondere auf dessen Autophagie-induzierender Wirkung beruhen. Diesen intrazellulären Entsorgungsweg nutzen Zellen, um Makromoleküle und zelleigenes Cytosol zu verdauen oder dysfunktionale Zellorganellen zu entfernen. Besonders während des Zellwachstums und der Zelldifferenzierung ist die Autophagie von großer Bedeutung und stellt darüber hinaus einen ausgeklügelten Mechanismus dar, um auf diverse Stressfaktoren, wie beispielsweise akute Infektionen oder Nahrungsrestriktionen (Stichwort Fasten) zu reagieren. Erst wenn eine Pause der Nahrungszufuhr von mindestens 24 bis 48 Stunden erfolgt, setzt das zelleigene Autophagie-Programm ein, und anfallende Abfallprodukte können entsorgt bzw. recycelt werden. Die zu verdauenden Komponenten werden dazu in Autophagosomen eingeschlossen und zu Lysosomen transportiert, wo dann der Vesikelinhalt enzymatisch abgebaut wird. Eine gestörte Autophagie verhindert den notwendigen Abbau eingedrungener Pathogene, ungewollter Proteinaggregate sowie dysfunktionaler Proteine, wodurch unter anderem die Entstehung von Krebs, chronischen Entzündungen und neurodegenerativen Erkrankungen begünstigt wird. Umgekehrt soll eine gesteigerte Autophagie einen protektiven Effekt auf die genannten Erkrankungen aufweisen und Alterungsprozesse effektiv aufhalten können.
Autophagie
Die Autophagozytose ist ein intrazellulärer Mechanismus zur Aufrechterhaltung der Zellhomöostase. Fehlgefaltete Proteine, eingedrungene Pathogene sowie nicht mehr funktionelle Zellorganellen werden lysosomatisch abgebaut und verwertet. Störungen der Autophagie begünstigen die Entstehung zahlreicher Erkrankungen.
Inzwischen konnten verschiedene molekulare Mechanismen identifiziert werden, die durch Spermidin aktiviert werden (Abb. 2): Beispielsweise inaktiviert Spermidin über eine Dephosphorylierung die Proteinkinase B (PKB), wodurch diese den Transkriptionsfaktor FoxO3 nicht mehr inhibieren kann und in Folge die Expression Autophagie-notwendiger Gene durch FoxO3 im Zellkern stimuliert wird [8, 9]. Ein weiterer Autophagie-induzierender Mechanismus beruht auf der Inhibition des E1A-assoziierten Proteins p300 (EP300) [10, 11]. Dieses Protein stimuliert in seiner aktiven Form die Deacetylierung und somit „Stummschaltung“ von Tubulin, einem Hauptbestandteil der Mikrotubuli. Spermidin führt infolge der EP300-Inhibition zur Formierung des Autophagosoms und so zu Initiierung der Autophagie [12]. Darüber hinaus werden zahlreiche weitere Autophagie-induzierenden Mechanismen durch Spermidin aktiviert [13].
Nahrungsquellen und übliche Aufnahmemengen
Spermidin ist ein Polyamin, das sowohl durch körpereigene Synthese gebildet wird als auch über die Nahrung aufgenommen werden kann. Seinen Namen verdankt Spermidin dem Erstnachweise der Verbindung in Samenflüssigkeit. Im Durchschnitt liegt die tägliche orale Spermidin-Zufuhr bei 7 mg bis 25 mg, welche aber aufgrund unterschiedlicher Ernährungsgewohnheiten interindividuell erheblich abweichen kann [14, 15]. Spermidin-reiche Lebensmittel sind beispielsweise zahlreiche Vollkornprodukte, Äpfel, Sprossen, Hülsenfrüchte, Weizenkeime, Pilze und reifer Käse (Tab. 1) [14]. Die klassische mediterrane Ernährung enthält natürlicherweise vergleichsweise große Mengen Spermidin. Über die Nahrung aufgenommenes Spermidin und sein Reduktionsprodukt Spermin werden sehr schnell und nahezu vollständig resorbiert [16]. Die intestinale Mikrobiota beeinflusst die Bioverfügbarkeit von Spermidin zusätzlich.
Lebensmittel | Spermidin-Gehalt [mg pro 100 Gramm Lebensmittel] |
---|---|
Weizenkeime | 24,3 |
Käse | 10,0 |
Pilze | 8,8 |
Erbsen, grün | 6,5 |
Birne | 5,3 |
Sojabohnen, gekocht | 5,1 |
Popcorn | 4,2 |
Brokkoli | 3,6 |
Blumenkohl | 3,0 |
Linsensuppe | 2,2 |
Bohnen, rot | 1,9 |
Hähnchensteak | 1,8 |
Kartoffel, gekocht | 1,2 |
Tierexperimentelle Daten
In einer Studie zum Einfluss von kalorienrestriktiven Mimetika auf die Entwicklung des Tumorwachstums bei gleichzeitiger Chemotherapie zeigten Pietrocola et al. am Mausmodell einen gesteigerten Therapieerfolg durch Spermidin-Supplementation bei induziertem Lungenkrebs [5]. Die verbesserte Wirksamkeit ist unmittelbar von einem funktionierenden Immunsystem sowie der durch kalorienrestriktive Mimetika induzierten Autophagie abhängig. Knock-out-Mäuse, denen ein für die Autophagie essenzielles Gen (Atg5) fehlt, zeigen ebenso wie solche, die keine T-Zellen besitzen, keine Verbesserung hinsichtlich der Kontrolle des Tumorwachstums bei gleichzeitiger Chemotherapie. Diese Daten weisen auf einen relevanten Faktor der Autophagie-Mechanismen in der onkologischen Therapie und damit auf eine möglicherweise damit zusammenhängende Wirkung von Spermidin hin. In einer 2011 publizierten Studie konnte gezeigt werden, dass eine Spermidin-Supplementation bei Mäusen der Entstehung von Adipositas infolge einer hyperkalorischen, fettreichen Diät entgegengewirkt und somit möglicherweise zur Vorbeugung von Übergewicht und dessen Komorbiditäten eingesetzt werden kann [17]. Verschiedene tierexperimentelle Studien kommen zu dem Ergebnis, dass durch Spermidin auch neuroprotektive Effekte erzielt werden können. Oral verabreichtes Spermidin schützt Fliegen vor einer altersbedingten Beeinträchtigung des Gedächtnisses [18] und verhindert den mit steigendem Alter zunehmenden Verlust der motorischen Aktivität – zumindest bei Fliegen [19]. Eine durch Spermidin induzierte Autophagie-abhängige Erneuerung der aktiven Zone verbessert die synaptische Flexibilität und Plastizität, was diese protektiven Effekte erklären könnte [4]. Im Mausmodell der multiplen Sklerose konnte gezeigt werden, dass durch die Spermidin-Supplementation die Demyelinisation des Rückenmarks und des Sehnervs sowie der Verlust von retinalen Ganglienzellen reduziert werden kann [20, 21].
Humandaten
Die Autoren der einzigen, 2018 publizierten randomisierten, doppeltverblindeten und kontrollierten Phase-IIa-Studie untersuchten die Sicherheit einer Spermidin-Supplementation an 28 Personen im Alter zwischen 60 und 80 Jahren [22]. Die Teilnehmer der Interventionsgruppe erhielten dreimal täglich 250 mg eines mit Polyaminen angereicherten Pflanzenextraktes, wobei sich die über den Tag eingenommene Gesamtmenge aus 1,2 mg Spermidin, 0,6 mg Spermin und 0,2 mg Putrescin zusammensetzte. Die Teilnehmer der Kontrollgruppe erhielte ein Placebopräparat. Keiner, der in der Studie gemessenen Parameter (Polyaminkonzentration im Blut, Körpergewicht, umfassende Laborparameter, Vitalität, Gesundheitsstatus), unterschied sich nach der dreimonatigen Studiendauer zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe. Unerwünschte Wirkungen wurden nicht beobachtet. Aus diesen Ergebnissen folgerten die Autoren, dass eine Spermidin-Zufuhr, die die durchschnittliche, tägliche Spermidin-Aufnahme um 10 bis 20% übersteigt, sicher und gut tolerierbar ist. Mit ihren Ergebnissen sehen sie die Voraussetzung für anschließende Langzeitinterventionsstudien insbesondere bei Menschen mit erhöhtem Demenzrisiko erfüllt [22].
Weitere Interventionsstudien, die gezielt die Effekte einer erhöhten Spermidin-Zufuhr untersuchen, wurden bisher nicht publiziert. Lediglich eine retrospektive Beobachtungsstudie kommt zu dem Ergebnis, dass unter 829 Individuen, deren Essgewohnheiten in regelmäßigen Abständen innerhalb eines Zeitraums von fünfzehn Jahren per Fragebogen erhoben wurde, eine daraus ermittelte, höhere Spermidin-Zufuhr mit einem reduzierten Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und niedrigerem Blutdruck korreliert [7]. Jedoch wurde auch gezeigt, dass eine höhere Putrescin-Zufuhr (einem direkten Vorläufer des Spermidins in der Biosynthese) mit einem höheren Blutdruck korrelierte.
Wird aus epidemiologischen Studien ein gesundheitlicher Vorteil durch eine Spermidin-reiche Ernährungsweise abgeleitet, sollte immer berücksichtigt werden, dass die Spermidin-Menge möglicherweise lediglich ein Marker für eine bestimmte (gesundheitsförderliche) Ernährungsweise ist und die beobachteten Gesundheitsvorteile nicht durch Spermidin an sich, sondern beispielsweise durch die Gesamtkonstellation der Ernährung (z. B. klassisch mediterran) bedingt sind.
Am Tiermodell wurde der lebensverlängernde Effekt von Spermidin nachgewiesen und gezeigt, dass die Blutkonzentration mit dem Alter abnimmt [23]. Eine humane Beobachtungsstudie weist auf ähnliche Tendenzen beim Menschen hin: Während die Spermidin-Konzentration im Blut älterer Individuen deutlich geringer ist als bei jüngeren Personen, wurde bei gesunden Individuen, die zwischen 90 und 100 Jahre alt sind, zwar ebenfalls ein Rückgang der Spermidin-Konzentration im Blut festgestellt, jedoch gleichermaßen ein Stagnieren der Konzentration auf einem Level, vergleichbar mit jenem eines Erwachsenen mittleren Alters [24]. Ob die vergleichsweise hohe Spermidin-Konzentration die Ursache oder nicht vielmehr die Konsequenz des healthy aging dieser 90- bis Hundertjährigen ist, bleibt unklar. Offensichtlich besteht jedoch eine Korrelation zwischen der Spermidin-Konzentration im Blut und gesundem Altern.
Im Rahmen der aktuell laufenden SmartAge Studie, einer klinischen Phase-IIb-Interventionsstudie, werden die Effekte einer zwölfmonatigen Polyamin-reichen Nahrungsergänzung insbesondere auf bestimmte kognitive Funktionen untersucht [25]. 100 Probanden zwischen 60 und 90 Jahren, die unter selbst empfundener Gedächtnisverschlechterung (SCD, subjective cognitive decline) leiden, wurden in die Interventions- bzw. Kontrollgruppe randomisiert. Sechs Mal täglich werden entweder Verum- oder Placebokapseln eingenommen, die im Fall der Interventionsgruppe insgesamt 0,9 mg Spermidin, 0,5 mg Spermin und 0,2 mg Putrescin über den Tag verteilt liefern. Somit übersteigt die Polyamin-Zufuhr in der Interventiongruppe die durchschnittliche, tägliche Polyamin-Aufnahme in westlichen Nationen um etwa 10% bis 20%. Nach der zwölfmonatigen Supplementation sowie nach weiteren sechs Monaten ohne zusätzliche Supplementation werden die zur Baseline durchgeführten Untersuchungen, wie neuropsychologische Testungen, detaillierte Blutbildanalysen und eine Magnetresonanztomographie, wiederholt. Damit soll die Frage beantwortet werden, ob die Spermidin-Supplementation die Progression einer selbst empfundenen Gedächtnisverschlechterung zur Demenz verhindert oder verlangsamt. Mit den Ergebnissen dieser Studie ist frühestens Ende 2020 zu rechnen.
Ob eine Spermidin-Supplementation für den Menschen von Vorteil ist (und falls ja, in welcher Dosierung), kann aufgrund der aktuell äußerst dünnen Studienlage nicht eindeutig beantwortet werden. Gleiches gilt für die mit einer dauerhaften Supplementation möglicherweise verbundenen Gesundheitsrisiken.
Auf einen Blick
- Kalorienrestriktivte Mimetika sollen pharmakologisch eine Stoffwechsellage nachahmen, die sich einstellt, wenn der Organismus fastet.
- Eine erhöhte Spermidin-Zufuhr ist mit kardio- und neuroprotektiven Effekten assoziiert, die wahrscheinlich auf einer Autophagie-induzierenden Wirkung beruhen.
- Für Spermidin gibt es keinen von der Europäischen Lebensmittelbehörde EFSA zugelassenen Health Claim.
- Die Datenlage ist dünn: Die bisherigen Erkenntnisse basieren auf Beobachtungen an Modellorganismen (Maus, Fruchtfliege, Zellkulturen aus Hefe- bzw. Säugerzellen) und können nicht unmittelbar auf den Menschen übertragen werden.
- Es gibt bisher nur zwei epidemiologische Beobachtungsstudien mit Patenten, die nicht besonders aussagekräftig sind.
Kritische Beurteilung des Spermidin-Marketings: sinnvoll oder Unsinn?
Spermidin wird vor allem im Online-Marketing als „Anti-Aging-food“ unter den Nahrungsergänzungsmitteln angepriesen. Werbeslogans wie „forever young“ oder „Der Jungzellen-Effekt“, propagieren einen wissenschaftlich nachgewiesenen Gesundheitsvorteil, obwohl von der Europäischen Lebensmittelbehörde (EFSA) für Spermidin keinerlei Health Claim zugelassen ist. Lediglich zwei epidemiologische Beobachtungsstudien, die allerdings nicht besonders aussagekräftig sind, liefern Hinweise auf möglicherweise protektive kardiovaskuläre Effekte [7, 26]. Alle weiteren Erkenntnisse, insbesondere zu den postulierten Anti-Aging- und Langlebigkeitseffekten von Spermidin, basieren bislang ausschließlich auf Beobachtungen an Modellorganismen wie der Maus, der Fruchtfliege, verschiedenen Würmern oder Zellkulturen aus Hefe- bzw. Säugerzellen und können nicht unmittelbar auf den Menschen übertragen werden.
Angesichts der ebenfalls beworbenen „Anti-Krebs-Effekte“ von Spermidin sollte außerdem berücksichtigt werden, dass bislang selbst die grundlegende Frage, ob sich erhöhte Spermidin-Konzentrationen positiv oder nicht sogar negativ auf das Wachstum von Krebszellen auswirken, völlig offen ist [27]: Eine heraufregulierte körpereigene Spermidin-Synthese dient dem Organismus nicht ausschließlich als Schutzmechanismus, indem die Spermidin-induzierte Autophagie die Homöostase aufrechthält, sondern ist auch mit zahlreichen pathologischen Veränderungen assoziiert [28, 29, 30].
Gleiches gilt für die Spermidin-induzierte Autophagie, die sich keineswegs automatisch in „Antitumoreffekten“ manifestiert. Je nach Tumorart und Tumorstadium, tumorbiologischer Charakteristik und Art der onkologischen Therapie könnte eine verstärkte Autophagie sogar das Tumorwachstum fördern und zur Resistenzentwicklung von Tumorzellen beitragen [29, 30]. Angesichts dieser Zusammenhänge und unter Berücksichtigung der praktisch nicht vorhandenen, aussagekräftigen Humandaten erscheint es zum jetzigen Zeitpunkt fahrlässig, insbesondere onkologischen Patienten zur Einnahme von Spermidin-Supplementen zu raten. Abgesehen davon gibt es aktuell keine valide Datenbasis zum Nachweis irgendeines Gesundheitsvorteils durch Spermidin-Supplementierung. |
Literatur
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