Arzneimittel und Therapie

Mit Propionsäure gegen multiple Sklerose

Supplementierung lindert Symptome über immunmodulierende Mechanismen

Die darmvermittelte Immunregu­lation bei Menschen mit multipler Sklerose (MS) kann durch diätetische Gaben von Propionsäure anscheinend positiv beeinflusst werden. Sowohl die Schubrate als auch das Risiko der Zunahme des Behinderungsgrades konnten durch eine Supplementierung langfristig reduziert werden.

Bei Patienten mit multipler Sklerose ist der Anteil an bestimmten proinflammatorischen autoreaktiven T‑Zellen wie Typ17-T-Helferzellen (Th17) ­erhöht, während Anzahl und Funktionen regulatorischer T-Zellen (Treg) reduziert sind. Eine der Hauptfunktionen regu­latorischer T-Zellen ist die Hemmung überschießender entzündlicher Pro­zesse. Ein Ungleichgewicht zwischen auto­reaktiven und regulatorischen Elementen resultiert in wiederkehrenden Entzündungen und vermittelt zumindest teilweise die Neurodegeneration und folglich die neurologischen Defizite bei MS-Patienten. Die Ergebnisse aus Studien mit Tiermodellen für multiple Sklerose sowie entzündliche Darmerkrankungen deuten darauf hin, dass kurzkettige Fettsäuren wie Pro­pionsäure zu einem signifikanten Anstieg der darmassoziierten Population regulatorischer T‑Zellen führen – verbunden mit einer Reduktion der systemischen Immunantwort und einer Verbesserung des Krankheitszustands. Fraglich war bisher, ob diese Daten auf den Menschen übertragbar sind.

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In der Darmflora von Patienten mit multipler Sklerose finden sich weniger Bakte­rien, die kurzkettige Fettsäuren wie Propionsäure bilden.

Eine internationale Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Aiden Haghikia von der Neurologischen Klinik der Ruhr-Universität Bochum hat nun in einer Mach­barkeitsstudie gezeigt, dass das Darmmikrobiom von MS-Patienten eine im Vergleich zu gesunden Menschen veränderte Zusammensetzung aufweist. Insbesondere im frühen Stadium der Krankheit wurde eine reduzierte Menge an Propionsäure in Blut- und Stuhlproben der MS-Patienten nachgewiesen. Kurzkettige Fettsäuren wie Propionsäure entstehen im Körper als bakterielle Abbauprodukte unverdaulicher Ballaststoffe. Entsprechende Darmbakterien wie Butyricimonas waren bei MS-Patienten seltener zu finden.

Die Frage war nun, wie sich eine Supplementierung von Propionsäure bei MS-Patienten auswirkt. Die in „Cell“ veröffentlichten Ergebnisse zeigen, dass durch eine zusätzliche Propionsäure-Zufuhr sowohl das Verhältnis zwischen autoreaktiven und regulatorischen Immunzellen als auch der Krankheitsverlauf positiv beeinflusst werden können. Hierfür wurden Daten von 91 MS-Patienten mit stabiler immunmodulierender Therapie und 38 neu diagnostizierten MS-Patienten ausgewertet. Bereits nach einer zweiwöchigen Einnahme von Natrium­propionat (500 mg zweimal täglich) wurde ein signifikanter und bei langfristiger Einnahme anhaltender Anstieg an funktionsfähigen regulatorischen T‑Zellen beobachtet. Der Anteil an Th1- und Th17-Zellen dagegen war signifikant reduziert. Die Propionsäure-induzierte Verbesserung der suppressiven Funktionen regulatorischer T-Zellen korrelierte mit der Linderung der klinischen Symptome bei MS-Patienten. Unter Berücksichtigung retrospektiver Daten wurden während einer langfristigen Propionsäure-Supplementierung unabhängig vom MS-Subtyp eine Stabilisierung der Krankheit, eine Abnahme der MS-Schubrate sowie ein verminderter Gehirnschwund beobachtet. Relevante Nebenwirkungen wurden nicht beschrieben.

Nach Ansicht der Autoren bilden die Daten eine solide Basis für weitere Studien, um den Effekt einer Propionsäure-Supplementierung nicht nur bei Patienten mit multipler Sklerose, sondern auch bei Patienten mit anderen Autoimmunerkrankungen wie rheumatoider Arthritis genauer zu unter­suchen. Darüber hinaus stellen kurzkettige Fettsäuren möglicherweise nur einen Teil der Metabolite der intes­tinalen Bakterien dar, die einen Einfluss auf den Krankheitsverlauf diver­ser Autoimmunkrankheiten ausüben könnten. Obwohl also noch reichlich Forschungsbedarf besteht, ist aus Sicht von Prof. Dr. Aiden Haghikia gegen eine versuchsweise Einnahme von Propionsäure als Zusatzbehandlung zu einer bestehenden MS-Therapie nichts einzuwenden (s. unten). |
 

Literatur

[1] Duscha A et al. Propionic acid shapes the multiple sclerosis disease course by an immunomodulatory mechanism. Cell 2020;180(6):1067-1080

[2] Diet has an impact on the multiple sclerosis disease course. Pressemitteilung der Ruhr-Universität Bochum vom 11. März 2020

Apothekerin Dr. Daniela Leopoldt

 

„Zusatz, aber kein Ersatz für zugelassene MS-Therapie!“

Eine Einschätzung zum Potenzial der Propionsäure bei multipler Sklerose von Prof. Dr. Aiden Haghikia

Prof. Dr. Aiden Haghikia

Patienten mit multipler Sklerose (MS) scheinen neuen Studienergebnissen zufolge von einer Propionsäure-Supplementation zu profitieren. Können Apotheker betroffenen Patienten bereits jetzt konkrete Empfehlungen geben? Darüber haben wir uns mit Prof. Dr. Aiden Haghikia, verantwortlicher Autor der in „Cell“ veröffentlichten Studie und einer der Autoren der Leitlinie „Diagnose und Therapie der multiplen Sklerose“, unterhalten.

DAZ: Herr Professor Haghikia, ist Ihrer Einschätzung nach eine Propion­säure-Supplementierung für die Selbstmedikation geeignet?
Haghikia: Nach bald vierjähriger Erfah­rung mit Propionat aus der Studie, aber auch mehreren Tausend Patienten und gesunden Menschen außerhalb der Studie, würde ich die Frage inzwischen mit „Ja“ beantworten.

DAZ: Kann man MS-Patienten auf Grundlage Ihrer Studiendaten bereits jetzt konkrete Empfehlungen geben?
Haghikia: Ja, wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die Ernährung einen Einfluss auf den Verlauf der MS hat. Was die generelle Empfehlung zur Einnahme der Propion­säure angeht, müssen wir etwas vorsichtig sein. Die Propionsäure ersetzt nicht die zugelassene MS-Therapie. Eine Zulassung als Medikament würde formal eine Phase-III-Studie voraussetzen, die unsere Studie nicht ist. Wenn Patienten das Propionat probatorisch einnehmen möchten, habe ich allerdings aufgrund unserer Daten nichts dagegen, zumal es sich um einen Zusatz zur zugelassenen Therapie handelt.

DAZ: Gibt es nach Ihrer Kenntnis andere Ansatzpunkte, die sich im Rahmen der Ernährung positiv auf den Krankheitsverlauf der MS auswirken könnten?
Haghikia: Ja, es gibt immer mehr auch epidemiologische Daten, die positive oder negative Auswirkungen der Ernährung belegen. Dazu gehören unter anderem mehrere Kohor­tendaten aus Skandinavien, die allgemein das metabolische Syndrom (das mit fett-/fleisch- und zuckerreicher Nahrung klar assoziiert ist) als signifikanten Risikofaktor sowohl für die Entstehung als auch für einen schlechteren Verlauf der MS sehen. Retrospektive Daten aus einer US-Kohorte mit ca. 7000 Patienten legen nahe, dass eine gesunde Ernährung (überwiegend vegetarisch und zuckerarm) einen relevant-positiven Einfluss auf den Verlauf der MS hat.

DAZ: Könnte eine Ernährungsumstellung das Potenzial haben, immun­modulatorische Medikationen komplett zu ersetzen?
Haghikia: Aus heutiger Sicht ist dies noch nicht vorstellbar, dazu müssen wir noch viele Faktoren erforschen, die sich aus der Ernährung und dem Darmmikrobiom ergeben. Das aktuelle Ziel ist die Kombination aus Supplementierung, gesunder Ernährung und milder Immunmodulation, um die Eskalationstherapien (Immunsuppression) zu verhindern und vor allem das Risiko der Behinderungsprogression zu reduzieren.

DAZ: Herr Professor Haghikia, vielen Dank für das Gespräch!

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