Pandemie Spezial

Was ist der Patientenwille?

In der Corona-Krise sollte jeder rechtzeitig darüber nachdenken

Die Dynamik schwerer COVID-19-Krankheitsverläufe erfordert in einigen Fällen, schnelle Entscheidungen zu treffen, um Menschen­leben zu retten. Vor der Einleitung lebenserhaltender Maßnahmen, wie einer invasiven Beatmung, muss ­jedoch eine elementare Frage geklärt sein: Wird damit auch der Wille des Patienten umgesetzt, wie steht er zu Nutzen und Risiken einer solchen Behandlung? Ist nicht bekannt oder festgelegt, wie Patienten zu bestimmten Therapiemaßnahmen stehen, sind Ärzte bei ­medizinischer Indikation zu einer Ausreizung der lebenserhaltenden Maßnahmen verpflichtet.
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Die meisten Menschen scheuen sich vor der Auseinandersetzung mit weitreichenden medizinischen Entscheidungen, besonders dann, wenn es um das mögliche eigene Lebensende geht und kein akuter Handlungsbedarf besteht. Dementsprechend wenige ­Personen haben eine Patientenver­fügung, Schätzungen zufolge nur ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands. Seit 2009 ist dieses ­Instrument der Selbstbestimmung gesetzlich verankert (§ 1901a Bürgerliches Gesetzbuch, BGB). Es bietet die Möglichkeit, schriftlich festzulegen, welche medizinischen Prozeduren in welchen Behandlungssituationen befürwortet oder ablehnt werden, für den Fall, dass man selbst diese Entscheidungen nicht mehr treffen oder äußern kann. Neben einer Patientenverfügung ist aber auch die Ausstellung einer Vorsorgevollmacht wichtig, damit Angehörige oder Vertraute die Rechte und den Willen des Patienten vertreten und durchsetzen können, sollte dieser nicht mehr dazu in der Lage sein.

Belastbar formulieren

Die Formulierungen der Willensver­fügung und die Fälle, für welche sie gelten soll (Situationsbeschreibung), sollten so konkret und detailliert wie möglich sein, damit sie für die Einleitung oder Unterlassung medizinischer Maßnahmen unter juristischen Gesichtspunkten eindeutig, bindend und nicht wertlos sind [1]. Beispielsweise ist die einfache Formulierung „lebenserhaltende Maßnahmen“ ohne Nennung konkreter Behandlungssituationen oder Behandlungsziele abzulehnen, sie ist zu unpräzise und birgt Konfliktpotenzial. Es ist daher wichtig, belastbare Textbausteine oder Vordrucke zu verwenden, um Fallstricke zu umgehen. Orientierungshilfen finden sich zum Beispiel beim Bundesjustizministerium, den Verbraucherzentralen, kirchlichen Trägern oder bei Betreuungsvereinen. Viele Organisationen beraten oder sind beim Ausfüllen behilflich, das Hinzuziehen eines Notars ist nicht erforderlich. Ist bereits eine Patientenverfügung vorhanden, sollte beizeiten überprüft werden, ob der festgehaltene Wille weiterhin so getragen wird, oder sich gegebenenfalls aufgrund von veränderten Lebensumständen oder Krankheiten geändert hat. Verbraucherzentralen raten dazu, die Patientenverfügung alle zwei Jahre oder vor schwerwiegenden Operationen zu überprüfen und anzupassen oder die Aktualität der Aussagen mit Datum und Unterschrift zu bestätigen. Ein Hinweis auf eine vorhandene Patientenverfügung kann zum Beispiel wie der Organ­spendeausweis im Portemonnaie mitgeführt werden, Bevollmächtigte sollten möglichst über eine Kopie verfügen oder wissen, wo das Dokument auf­bewahrt wird.

Behandlungen im Voraus planen

Führende Fachgesellschaften regen vor dem Hintergrund der Corona-­Pandemie in einem gemeinsamen Leitfaden an, nicht nur Patientenverfügungen, sondern spezielle Vorausplanungen für medizinische Behandlungen (Advance Care Planning, ACP) in den öffentlichen Fokus zu rücken. So soll gezielt ambulant behandelten, vulnerablen Patientengruppen (Hochbetagte, chronisch kranke oder gebrechliche Menschen) eine qualifizierte, ergebnisoffene Beratung hierzu ange­boten werden. Ambulant tätige Ärzte sollen verstärkt den Willen des Patienten in Gesundheitsangelegenheiten ermitteln und aussagekräftig dokumentieren, damit zum Beispiel Klarheit herrscht, ob ein Patient mit einer stationären Einweisung mit dem Ziel der Lebenserhaltung einverstanden ist oder einzelne Aspekte einer möglichen intensivmedizinischen Behandlung ablehnt [2]. Dabei wird angestrebt, einwilligungsfähige Patienten rechtzeitig und vor Eintreten einer akuten Notfallsituation ausführlich zu den Therapieoptionen, Prognosen und Einfluss auf die Lebensqualität medizinischer Maßnahmen zu beraten und eine partizipative Entscheidungsfindung (Shared Decision Making) anzustreben (Details siehe [8]). Bei nicht einwilligungsfähigen Personen (zum Beispiel aufgrund einer fortgeschrittenen Demenz) ist das Gespräch mit dem rechtlichen Vertreter zu führen, um den mutmaßlichen Patientenwillen zu ermitteln. Nicht nur Ärzte, sondern auch speziell geschulte Gesundheitsfachkräfte können diese Gespräche leiten, wissenschaftlich vertreten wird das Konzept durch die Deutsche interprofessionelle Vereinigung – Behandlung im Voraus Planen (DiV-BVP) e. V. Bewohner von Pflegeeinrichtungen der Alten- und Eingliederungshilfen haben übrigens nach § 132 g SGB V des Hospiz- und Palliativgesetzes (HPG) einen Anspruch auf Beratungsgespräche zur „gesundheitlichen Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase“, die von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert wird.

Mündliche Korrektur möglich

Es sollte zum Beispiel eruiert werden, ob ein Wunsch nach Therapiebegrenzung intensivmedizinischer Maßnahmen besteht und eine kardiopulmonale Reanimation (CPR) oder eine Intubation abgelehnt wird (Do-not-intubate-Verfügung, DNI). Differenziert sollte festgelegt werden, ob bei verfügter Ablehnung einer Intubation dennoch eine Beatmungstherapie gewünscht bzw. nicht abgelehnt wird. Dann kann eine nicht-invasive Beatmung durchgeführt werden, die im Sterbeprozess eine sinnvolle Palliativmaßnahme darstellt [3]. Im konkreten Behandlungsfall ist eine mündliche Korrektur durch den einwilligungs­fähigen Patienten selbst möglich, so dass beispielsweise doch eine invasive Beatmungstherapie eingeleitet werden kann, wenn der Patient dies wünscht. Um während einer Intensivtherapie zu überprüfen, ob die Behandlung immer noch dem Patientenwunsch entspricht, erinnert die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e. V. in einem Positionspapier zur Behandlung der akuten respiratorischen Insuffizienz bei COVID-19 an den Grundsatz, das Therapieziel täglich anhand des Gesundheitszustands des Patienten zu überprüfen [4].

Moralische Herausforderung

Medizinische Notstände wie in Spanien, Italien, den USA oder anderen Ländern konnten in Deutschland bislang durch diverse Maßnahmen verhindert werden. Für den Fall nicht ausreichender Intensiv-Ressourcen haben beteiligte Fachgesellschaften und die Akademie der Ethik in der Medizin klinisch-ethische Empfehlungen erarbeitet, die eine Entscheidungsunterstützung für die verantwortlichen Akteure bietet [5]. Zunächst muss patientenzentriert entschieden werden, ob eine Intensivtherapie medizinisch indiziert ist, also Erfolgsaussichten hat und dem (mutmaßlichen) Patientenwillen entspricht. Erst dann darf bei Ressourcenknappheit überindividuell darüber entschieden werden (Triage), welcher intensivpflichtige Patient prioritär aufgrund der klinischen Erfolgsaussicht und anderer festgelegter Kriterien zu behandeln oder nicht mehr zu behandeln ist [5]. Wurde in einer Patientenverfügung oder in einem professionellen Vorausplanungsgespräch ein Behandlungsverzicht intensivmedizinischer Maßnahmen dokumentiert, könnte diese Entscheidung dazu beitragen, nur diejenigen Patienten in diesem Prozess zu berücksichtigen, die eine solche Behandlungsform auch wünschen. Eine palliativmedizinische Behandlung muss dabei immer gewährleistet sein. Hierzu hat die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e. V. eine Handlungsempfehlung erstellt [6], auch der Deutsche Ethikrat hat sich in einer lesenswerten Ad-hoc-Empfehlung zum Thema „Solidarität und Verantwortung in der Corona-­Krise“ geäußert [7]. Wichtig zu betonen ist, dass eine Priorisierung aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes nicht vertretbar nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten und nicht zu­lässig allein aufgrund des kalendarischen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien ist [5]. |

Literatur

[1] Hinweise und Empfehlungen zum Umgang mit Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen im ärztlichen Alltag. Informationen der Bundesärztekammer/Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, Stand: 25. Oktober 2018. Deutsches Ärzteblatt 2018;115(51–52):A2423-A2441

[2] Ambulante patienten-zentrierte Vorausplanung für den Notfall – Ein Leitfaden aus Anlass der COVID-19-Pandemie. Hrsg. diverse Fachgesellschaften, Stand 9. April 2020, www.dgpalliativmedizin.de/images/Ambulante_patientenzentrierte_Voraus­planung_fuer_den_Notfall_LEITFADEN_20200409_final.pdf, Abruf am 29. April 2020

[3[ Karg O et al. Nichtinvasive Beatmung am Lebensende. Pneumologe 2010;7:110–113, https://doi.org/10.1007/s10405-009-0372-7

[4] Positionspapier zur praktischen Umsetzung der apparativen Differenzialtherapie der akuten respiratorischen Insuffizienz bei COVID-19. Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V. (DGP), Stand 16. April 2020, https://pneumologie.de/fileadmin/user_upload/COVID-19/20200417_DGP__app._Differenzialtherapie_ARI_bei_COVID-19.pdf, Abruf am 17. April 2020

[5] Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie – Klinisch-ethische Empfehlungen. Hrsg. diverse Fachgesellschaften. https://pneumologie.de/fileadmin/user_upload/Aktuelles/2020-03-25_COVID-19_Ethik_Empfehlung_Endfassung_2020-03-25.pdf, Abruf am 18. April 2020

[6] Handlungsempfehlung zur Therapie von Patienten mit COVID-19 aus palliativmedizinischer Perspektive 2.0., Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin und Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin, Stand 30. März 2020. https://pneumologie.de/fileadmin/user_upload/Aktuelles/2020-03-30_HE_Covid-19_Palliativ.pdf, Abruf am 18. April 2020

[7] Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Deutscher Ethikrat, Stand 27. März 2020, www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hocEmpfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf, Abruf am 18. April 2020

[8] in der Schmitten J et al. Behandlung im Voraus planen (Advance Care Planning): ein neues Konzept zur Realisierung wirksamer Patientenverfügungen. Palliativmedizin 2016;17(04):177-195

Autorin

Foto: Alois Müller

Dr. Verena Stahl ist Apothekerin und wurde an der University of Florida als Semi-Resident im landesweiten Drug Information and Pharmacy Resource Center ausgebildet. Ihre berufsbegleitende Dissertation fertigte sie zu einem Thema der Arzneimitteltherapiesicherheit an.

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