Arzneimittel und Therapie

Mehr Sicherheit in der Krebstherapie

Gentest vor einer 5-Fluorouracil-Behandlung soll Standard werden

Um Tumorpatienten vor schwerwiegenden Nebenwirkungen zu schützen, sollen sie vor einer Therapie mit Fluoropyrimidin-haltigen Zyto­statika auf die Aktivität der Dihydropyrimidin-Dehydrogenase, dem Schlüsselenzym beim Abbau von 5-Fluorouracil, getestet werden. Diese Forderung der Europäischen Arzneimittelagentur vom April 2020 hat die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie kürzlich in einem Positionspapier aufgegriffen. Gemeinsam mit anderen deutschen sowie einer österreichischen und einer schweizerischen Fachgesellschaft favorisiert sie dafür einen Gentest, da er als zuverlässiger gilt als andere Optionen.

In Deutschland erhalten zwischen 80.000 und 110.000 Krebspatienten pro Jahr den Antimetaboliten 5-Fluorouracil (5-FU). Der Wirkstoff wird allein und in Kombinationstherapie bei einer Vielzahl von Tumorentitäten eingesetzt. Dazu zählen vor allem Tumore des Gastrointestinaltrakts wie Kolon-, Rektum-, Magen-, Pankreas- und Ösophaguskarzinom, aber auch Kopf-Hals-Tumoren, Brustkrebs und die selteneren neuroendokrinen Tumoren. Darüber hinaus wird 5-FU lokal bei aktinischer Keratose und gegen Warzen angewendet. Weitere therapeutisch eingesetzte Derivate von 5-FU sind die Prodrugs Capecitabin und Tegafur. Capecitabin (z. B. Xeloda®) wird ebenfalls bei verschiedenen Tumorarten angewendet. Tegafur ist in der fixen Kombination mit Gimeracil und Oteracil (Teysuno®) für die Therapie von Patienten mit fortgeschrittenem Magenkarzinom zugelassen. Ein weiteres Prodrug von 5-FU ist Flucytosin (Ancotil®), ein systemisches Anti­mykotikum. Sein Einsatzgebiet ist auf systemische Mykosen mit Hefen (z. B. Candida-Infektionen, Kryptokokken-Meningitis) und Schimmelpilze (z. B. Aspergillus) beschränkt.

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Fluoropyrimidine zählen seit mehr als 60 Jahren zu den am häufigsten verwendeten Zytostatika bei soliden Tumoren.

Genvarianten verantwortlich für Nebenwirkungen

Die Biotransformation von 5-FU erfolgt in der Leber durch die Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (siehe Abbildung). Physiologisch ist dieses Enzym für den Abbau von körpereigenen Pyrimidinen wie Thymin und Uracil verantwortlich ist. Vom Dihydropyrimidin-Dehydrogenase-Gen (DPYD) sind derzeit 160 Varianten bekannt. Nach bisherigen Erkenntnissen führen die vier Genvarianten DPYD*2A, DPYD*13, DPYDc.2846A>T und DPYD-HaplotypB3 bei etwa drei bis neun Prozent der Patienten europäischer Herkunft zu einer verminderten DPD-Aktivität, die für 20% bis 60% der 5-FU-Nebenwirkungen verantwortlich ist. Dazu zählen insbesondere orale Mukositis, Enteritis/Kolitis, langandauernde Neutropenie und das Hand-Fuß-Syndrom. Bei etwa 0,01% bis 0,5% der Patienten wird das Enzym überhaupt nicht gebildet. Diese Patienten sollen kein 5-FU oder Arzneistoffe, die 5-FU-Prodrugs sind, erhalten, da es ansonsten zu Multiorganversagen bis hin zum Tod kommen kann.

Abb.: Wirkmechanismus und Metabolismus von 5-Fluorouracil: 5-Fluorouracil (5-FU) ist selbst nicht antineoplastisch wirksam. Aktive Metabolite sind 5-Fluorouridintriphosphat (FUTP), das als falscher Baustein die RNA-Synthese in den Tumorzellen hemmt, und 5-Fluorodesoxyuridinmonophosphat (FdUMP). FdUMP blockiert in den Tumorzellen die DNA-Synthese durch Hemmung der Thymidilat-Synthetase (TYMS), welche den letzten Schritt in der De-novo-Synthese von Desoxythymidinmonophosphat (dTMP) aus Desoxyuridinmonophosphat (dUMP) katalysiert. Außerdem wird phosphorylierter FdUMP (FdUTP) als falscher Baustein in die DNA eingebaut und erzeugt so Strangbrüche in der DNA. Der Abbau von 5-FU erfolgt durch das Enzym Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (DPD) zu dem deutlich weniger toxischen 5-Dihydrofluorouracil (5-DHFU). Die Aktivität der DPD ist geschwindigkeitsbestimmend. Über die Zwischenstufe 5-Fluoroureidopropionsäure (FUPA) wird 5-DHFU enzymatisch zu α-Fluoro-β-alanin (FBAL) umgewandelt, das mit dem Urin ausgeschieden wird. Außerdem entstehen bei Abbau von 5-FU weitere Metabolite wie Uracil, Kohlendioxid und Harnstoff.

Rote-Hand-Briefe warnen

Auf Initiative der französischen Arzneimittelagentur ANSM hatte der Ausschuss für Risikobewertung im Bereich Pharmakovigilanz (PRAC) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) bereits im März 2019 ein Risikobewertungsverfahren für die Fluoropyrimidin-Analoga Fluorouracil, Capecitabin, Tegafur und Flucytosin eingeleitet. Im April 2020 veröffentlichte die EMA eine Empfehlung, wonach Patienten vor einer systemischen Therapie mit diesen Wirkstoffen auf einen DPD-Mangel getestet werden sollen. Dies könne durch die Messung des Spiegels von Uracil oder durch die Prüfung auf das Vorhandensein bestimmter Polymorphismen im DPYD-Gen erfolgen. Weiterhin weist die EMA darauf hin, dass Patienten mit einem bekannten vollständigen DPD-Mangel keine Injektion oder Infusion mit Fluorouracil, kein Capecitabin oder Tegafur und kein Flucytosin erhalten dürfen. Bei Patienten mit einem partiellen DPD-Mangel sollte eine reduzierte Anfangsdosis dieser Arzneimittel in Betracht gezogen werden. Beim Fehlen schwerer Nebenwirkungen können die Folgedosen erhöht werden.

Bei Patienten, die aufgrund einer Systemmykose mit Flucytosin behandelt werden sollen, wird der Test nicht empfohlen. Denn bis zum Vorliegen der Ergebnisse können einige Tage vergehen, der Therapiebeginn bei einer Systemmykose duldet jedoch keinen Aufschub. Für die Behandlung mit topischem Fluorouracil ist ein Test auf die DPD-Aktivität nicht erforderlich. Die PRAC-Empfehlungen wurden an den Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der EMA weitergeleitet. Der nächste Schritt ist die Weiterleitung der Stellungnahme des CHMP an die Europäische Kommission, die eine endgültige rechtsverbindliche, in allen EU-Mitgliedsstaaten verbindliche Entscheidung erlassen wird.

Die Zulassungsinhaber der betroffenen Arzneimittel hatten Anfang Juni 2020 in Rote-Hand-Briefen zu einem systematischen Screening vor Beginn der Behandlung – entweder durch Genotypisierung oder Phäno­typisierung – geraten. Damit sollen Patienten identifiziert werden können, bei denen ein Risiko für schwere oder lebensbedrohliche Toxizität besteht. Zurzeit ist die Bestimmung der DPD-Enzymaktivität vor Beginn einer Behandlung mit 5-Fluoropyrimidinen bereits als Empfehlung in den Fachinformationen der betroffenen Arzneimittel enthalten.

DGHO empfiehlt Gentests

Ebenfalls im Juni 2020 haben die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie DGHO und 13 weitere deutschsprachige Fachgesellschaften in einem Positionspapier eine molekulargenetische Testung auf die vier häufigsten DPYD-Genvarianten favorisiert. Der Test sollte vor der geplanten Chemotherapie qualitätsgesichert durchgeführt werden und das Ergebnis möglichst innerhalb einer Woche verfügbar sein. Es bildet die Basis für das weitere therapeutische Vorgehen nach einem Risiko-adaptierten Algorithmus, den die Fachgesellschaften erarbeitet haben. Ergänzt werden kann die genetische Analyse durch therapeutisches Drug Monitoring. Wie Professor Dr. med. Bernhard Wörmann, Medizinischer Leiter der DGHO, auf einer Online-Pressekonferenz am 25. Juni 2020 anlässlich der Vorstellung des Positionspapiers erläuterte, würde der Gentest im Falle einer Aufnahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gleichzeitig mit dem Zytostatikum rezeptiert werden. Die Testung könne in jedem Labor, das qualitätsgesicherte PCR-Tests anbietet, durchgeführt werden. Zuvor muss der Patient laut Gendiagnostikgesetz ärztlich aufgeklärt werden und in den Test einwilligen. Für die Alternativen zur genetischen Analyse, den Nachweis von Uracil im Plasma oder die Bestimmung der DPD-Aktivität in Leukozyten, ist die Datenlage nach Expertenansicht deutlich geringer als für die molekulargenetische Testung. |

Literatur

23/20 Informationen der Hersteller: Rote-Hand-Brief zu Ancotil® (Flucytosin): Risikominimierende Maßnahmen bei Anwendung bei Patienten mit DPD-Mangel, www.abda.de/fuer-apotheker/arzneimittelkommission/amk-nachrichten/detail/23-20-informationen-der-hersteller-rote-hand-brief-zu-ancotilr-flucytosin-risikominimierende-massnahmen-bei-anwendung-bei-patienten-mit-dpd-mangel/, Abruf am 26. Juni 2020

23/20 Informationen der Hersteller: Rote-Hand-Brief zu den Zytostatika 5-Fluorouracil, Capecitabin und Tegafur: Systematisches Screening auf DPD-Mangel vor der Anwendung, www.abda.de/fuer-apotheker/arzneimittelkommission/amk-nachrichten/detail/?tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews_preview%5D=10580&cHash=28e1b08131fd9de57d8696e66893b07b, Abruf am 26. Juni 2020

Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (DPD) – Testung vor Einsatz von 5-Fluorouracil, Capecitabin und Tegafur. Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. (DGHO), Juni2020, www.dgho.de/publikationen/stellungnahmen/gute-aerztliche-praxis/dpd-testung/dpd-positionspapier-2020-konsens_logos_final.pdf

EMA recommendations on DPD testing prior to treatment with fluorouracil, capecitabine, tegafur and flucytosine. EMA/229267/2020, www.ema.europa.eu

Fachinformationen von Präparaten mit den genannten Wirkstoffen

Fluorouracil, Capecitabin, Tegafur und Flucytosin: Empfehlung zur Testung und Behandlung, 5. Mai 2020, www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RV_STP/a-f/fluorouracil-neu.html, Abruf am 27. Juni 2020

Gentest zur Vorbeugung von Chemotherapie-Nebenwirkungen. Alte Substanzen vor neuen Herausforderungen. Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. (DGHO) vom 25. Juni 2020, www.dgho.de

Wigle TJ et al. DPYD and fluorouracil-based chemotherapy: mini review and case report. Pharmaceutics 2019;11(5):199, DOI: 10.3390/pharmaceutics11050199

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

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