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„Wir müssen endlich mal loslaufen“

Ralf König und Philipp Stachwitz vom Health Innovation Hub zum geplanten eMedikationsplan

cm | Health Innovation Hub (hih) – so heißt der Think Tank, der insbesondere Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens berät. Mit dabei sind der Apotheker Ralf König und der Arzt Dr. Philipp Stachwitz. Die DAZ sprach mit den beiden Ideengebern darüber, was die Einführung des elektronischen Medikationsplans für die Apotheker und die Versorgung bedeutet.
Foto: hih / Jan Pauls Fotografie

Dr. Philipp Stachwitz, Arzt

DAZ: Herr König, Herr Dr. Stachwitz, das Thema eMedikationsplan (eMP) musste bisher in der medialen Be­richt­erstattung zum Patientendaten-Schutzgesetz (PDSG) hinter dem eRezept deutlich zurückstecken. Bitte klären Sie uns auf: Welche Neuerungen bringt der elektronische Plan im Vergleich zum Papierplan mit sich?

Stachwitz: Der Bundeseinheitliche Medikationsplan (BMP) ist – auch wenn er aus Papier ist – für mich im Grunde schon die erste digitale, übergreifende medizinische Anwendung nach SGB V. Denn mit dem 2D-Barcode lassen sich digital erzeugte Daten auch digital übertragen. Ziel ist ja, die Arzneimitteltherapiesicherheit zu erhöhen, indem der Patient über seine Medikamente und deren Anwendung informiert wird. Der BMP richtet sich also an den Versicherten. Das ist ein wesentlicher Unterschied zum elektronischen Medikationsplan: Dieser soll vor allem dem Austausch zwischen Heilberuflern dienen und enthält wesentlich mehr Information als der Papierplan. Daher wird es zunächst so sein, dass beide Pläne nebeneinander existieren: Die elektronische Variante als Werkzeug für Ärzte und Apotheker und der ausgedruckte BMP als Version für den Patienten.

DAZ: Warum diese Differenzierung?

Stachwitz: Der eMP enthält Informationen, mit denen der Versicherte kaum etwas anfangen kann, zum Beispiel Laborwerte wie den Kreatininwert. Aus verschiedenen Modellprojekten ist bekannt, dass die Vernetzung von Arzt und Apotheker der entscheidende Schlüssel ist, um die Arzneimitteltherapiesicherheit zu verbessern. Ein solcher Austausch soll auch durch den eMP möglich werden. Auf der anderen Seite können die Heilberufler auf dem BMP per Freitext Informationen und Hinweise für den Patienten notieren. Gerade wenn Menschen viele Arzneimittel einnehmen müssen, wissen sie oft gar nicht, wozu sie welche Tablette einnehmen sollen. Durch die verbesserte Aufklärung der Patienten soll die Sicherheit der Arzneimitteltherapie verbessert werden.

König: Darüber hinaus soll der eMP auch die Medikationshistorie und Informationen zur Therapie des Patienten enthalten. Das spielt zum Beispiel dann eine Rolle, wenn Unverträglichkeiten aufgetreten sind und der Arzt etwa von einem ACE-Hemmer auf ein Sartan umstellen musste. Wenn der nächste Behandler das weiß, wird er nicht auf die Idee kommen, nochmal einen ACE-Hemmer anzusetzen.

„Wir dürfen nicht warten, bis wir das vermeintlich beste System entwickelt haben. Das haben wir bereits viel zu lange getan.“

Ralf König, Health Innovation Hub

DAZ: Wo sehen Sie die Hürden bei der praktischen Umsetzung im Ver­sorgungsalltag?

König: Ein Problem ist, dass nicht alle Apotheken-Softwaresysteme in der Lage sind, die vom BMP gescannten Daten so übersichtlich auch im Vergleich zur gespeicherten Vorversion dar­zustellen, dass sie für einen Interaktionscheck optimal nutzbar sind. Wir waren bisher gefühlt unerwünscht in diesem System. Das haben die Apotheker natürlich wahrgenommen und viele Dinge entsprechend nicht so aktiv umgesetzt, wie es eigentlich unsere Aufgabe wäre. Der Plan war ja ursprünglich auch nicht als interdisziplinäres Werkzeug angedacht, sondern als Einnahmeplan für den Patienten. Damals ist man das Ganze aus der Perspektive des Arztes als Ersteller angegangen und hat es verpasst, den Zusatznutzen durch die Vernetzung der Heilberufler von Anfang an zu heben.

Foto: hih / Jan Pauls Fotografie

Ralf König, Apotheker

DAZ: Was hat dieser „Geburtsfehler“ für Konsequenzen?

König: Offenbar haben nur sehr wenige der Menschen, die per Gesetz einen Anspruch darauf hätten, tatsächlich einen Plan erhalten. In einer eigenen Umfrage haben wir Werte von weniger als 40 Prozent ermittelt. Andere Er­hebungen kommen zwar auf deutlich höhere Quoten, das liegt aber meist daran, dass auch andere Pläne als der BMP als Medikationspläne einbezogen werden. Das ist ein weiteres Problem: Nicht alle Ärzte und Krankenhäuser haben auf den BMP umgestellt, oft sind noch andere Formate im Umlauf.

DAZ: Wo ist das Problem?

Stachwitz: Dann kann ich die Daten eben nicht durch einscannen in wenigen Sekunden übernehmen, sondern muss sie abtippen. Die Zeit fehlt dann nicht nur für das Gespräch mit dem Patienten, der dann zuschaut, wie ich tippe, sondern die Übertragung ist natürlich auch noch fehleranfälliger als die elektronische Übernahme. Das kann es ja nicht sein!

DAZ: Und diese Schwierigkeit hätten Sie nicht, wenn alle den BMP nutzen würden?

Stachwitz: Grundsätzlich stimmt das. Aber ganz so einfach ist es leider selbst dann nicht. Wenn zum Beispiel ein Patient ins Krankenhaus kommt, wird dort oft die Therapie umgestellt. Der neue BMP enthält dann größtenteils wirkstoffgleiche Präparate von der Hausliste des Krankenhauses, aber eben auch echte Änderungen. Derzeit muss ich dann bei mir im Praxisverwaltungssystem die alte Medikationsliste Posten für Posten mit der neuen vergleichen, um rauszufinden, was sich wirklich geändert hat.

König: Technisch sollte es im Jahr 2020 eigentlich möglich sein, den Abgleich automatisch vorzunehmen. Allerdings ist die Umsetzung sowohl in den Apotheken- als auch in den Arzt-Software-Systemen oft alles andere als optimal. Das ist dann wie ein Suchbild in der Zeitung, also immer noch sehr zeit­intensiv und fehleranfällig obendrein.

DAZ: Wenn man den Fokus etwas weitet, wird es letztlich auch bei vollständiger Digitalisierung an drei verschiedenen Stellen einen möglichen Speicherplatz für medikamentenbezogene Information geben: im eMedikationsplan, im Notfalldatensatz und in der elektronischen Patientenakte. Dazu kommt der ausgedruckte Plan des Patienten. Änderungen an einer Stelle werden nicht automatisch übertragen. Und selbst wenn der fleißige Apotheker es ganz genau nehmen wollte: Auf den Notfalldatensatz hat er keinen Zugriff. Droht da nicht ein ähnliches Szenario, nur in digital?

Stachwitz: Das ist grundsätzlich richtig. Man muss aber berücksichtigen, dass diese Anwendungen zum Teil auf Gesetzen beruhen, die schon Anfang der Nuller Jahre beschlossen wurden und in denen mehrere Anwendungen existieren, die aus fachlicher Sicht alle Medikationsdaten enthalten müssen. Mittelfristig gesehen ist eigentlich nur ein Online-Plan sinnvoll, in dem wir alle – Ärzte, Apotheker, andere Gesundheitsberufe und auch der Patient – gemeinsam arbeiten und Daten verwalten können. Natürlich mit unterschiedlichen Berechtigungen und Sichten je nach Rolle und Aufgabe. Der Notfalldatensatz ist ein besonderer Fall. Er muss Medikationsinformationen enthalten, wird aber gleichzeitig durch den jeweils zuletzt aktualisierenden Arzt verantwortet und unterschrieben. Er darf nicht in Teilen verändert werden, um widersprüchliche Angaben zu vermeiden. Denn im Notfall kann der Patient potenziell keine Auskunft geben und man muss sich auf die Angaben im Notfalldatensatz als Ganzes verlassen können. Es ist natürlich wünschenswert, dass mich zukünftig mein Primärsystem, also PVS oder KIS, bei Änderungen im eMedikationsplan fragt, ob ich diese auch in den Notfalldatensatz über­nehmen möchte.

König: Manche Lücken in der Sinn­haftigkeit des Systems sind vor allem dem Gesetzgebungs- und Umsetzungsprozess geschuldet, der vor Jens Spahn und den Veränderungen in der Gematik viel zu lange gedauert hat. Noch bevor man die Grundsteine umgesetzt hatte, wurden bereits Weiterentwicklungen beschlossen. Es gab parallele Entwicklungen, die nicht zueinander passten. Jetzt ist es erstmal wichtig, dass wir das, was wir haben, ausprobieren und daraus lernen. Nur das gibt uns die Möglichkeit, an den richtigen Stellen nachzubessern. Wir dürfen nicht warten, bis wir das vermeintlich beste System entwickelt haben. Das haben wir bereits viel zu lange getan, zum Beispiel beim Notfalldatensatz. Wenn wir jetzt nicht aktiv werden, fallen wir im internationalen Vergleich bei der Digitalisierung noch weiter ­zurück. Wir dürfen nicht mit dem Wunsch nach Perfektion zum Start die Hürden zu hoch setzen, sonst werden wir scheitern.

Stachwitz: Da kann ich mich nur anschließen. Wir redeten in den letzten 15 Jahren leider viel zu oft darüber, was wahrscheinlich alles nicht funktionieren wird. Das waren viele theoretische Diskussionen. Aber wir haben es ja nie ausprobiert! Wenn wir herausfinden wollen, wie es funktionieren kann, müssen wir endlich mal loslaufen.

DAZ: Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?

König: Betrachten wir das Beispiel Telemedizin. Vor Corona haben viele gesagt, das kann nicht funktionieren. Während der Pandemie, als wir kaum noch eine andere Wahl hatten, als auch im Gesundheitswesen auf digitale Wege auszuweichen, hat es plötzlich doch geklappt. Man erkannte den Nutzen und so ist „digital” das neue „normal” für manchen Anwender – übrigens ja nicht nur in der Medizin. Hier trifft unser Leitsatz zu: „Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein, sondern muss Nutzen stiften.” So wird uns auch das eRezept erstmals ermöglichen, durchgängig digitale Daten von Verordnung bis zur Dispensierung dem Patienten zur Verfügung zu stellen. Dies eröffnet uns Möglichkeiten, auch das Medikationsmanagement neu zu denken. Jens Spahn hat uns auch deswegen zu sich geholt, weil er etwas genau verstehen will, bevor er es verändert. Er lebt eine andere Veränderungs- und Lernkultur.

DAZ: Eine Frage der Motivation also. Wie steht es denn um die Bereitschaft der Ärzte, sich mit anderen Gesundheitsberufen zu vernetzen? Bisher haben zumindest die Standesvertretungen der Ärzteschaft wenig Interesse daran gezeigt …

König: Natürlich geht Vieles nicht von heute auf morgen. Aber es wird den Beteiligten klar werden, dass es nur gemeinsam geht. In den Gesprächen, die wir führen, gewinnen wir mehr und mehr den Eindruck, dass dieses Verständnis inzwischen bei allen durchdringt. Man sollte aber auch unterscheiden zwischen denjenigen, die an der Basis miteinander arbeiten, und denjenigen, die auf Verbandsseite anscheinend politisch Positionen verteidigen, weil sie es „müssen”. Aber auch hier gibt es Veränderungen.

Stachwitz: Ein Beispiel vonseiten der Ärzte ist das Papier, das die Bundesärztekammer kürzlich veröffentlicht hat. Darin geht es um die Lehren, die wir aus der Coronavirus-Pandemie ziehen sollten. Bemerkenswert ist, dass die BÄK von einer Kultur des Ausprobierens und Erfahrung-Sammelns spricht. Das ist eine neue, sehr positive Entwicklung. Man kann nicht alles komplett vom grünen Tisch aus planen. Man muss anfangen und das System weiterentwickeln und auf der Grundlage von Erfahrungen verbessern.

König: Ja, die Ärzte scheinen etwas zu begreifen und ich hoffe, dass die Apotheker auch bald erkennen, dass aktives Gestalten und Mut zur Ver­änderung der richtige Weg ist.

„Wir müssen lernen, aktiv Verantwortung zu über­nehmen, und da ist der Bereich Medikation unsere ureigenste Kernaufgabe.“

Ralf König, Health Innovation Hub

DAZ: Haben Sie den Eindruck, dass die Apotheker blockieren?

König: Wäre Gestaltung eine Stärke unseres Berufsstandes, dann wären wir anders in die aktuelle Situation eingebunden. In Frankreich sind die Apotheker beispielsweise einfach in Vorleistung gegangen und haben mit dem Dossier Pharmaceutique selber ein mächtiges und akzeptiertes, digitales Instrument zur Medikations­sicherheit geschaffen. Dies versetzt sie jetzt in die Lage, auf Augenhöhe mitzusprechen. Die Politik nimmt uns hier leider berufspolitisch anders wahr. Wir haben sehr lange an der Wahrung des wirtschaftlich erfolgreichen Bestands festgehalten und dabei über­sehen, dass sich nicht nur die Möglichkeiten durch zum Beispiel die Digitalisierung verändert haben, sondern auch die Lebensrealität unserer Kunden. Es gilt, Chancen aktiv zur Veränderung und pharmazeutischen Weiterentwicklung zu nutzen. Wenn man etwas Neues vorschlägt, braucht man derzeit nicht lange auf das Nein der Apotheker zu warten. Das Thema Modellprojekte zur Grippeimpfung hat das eindrucksvoll gezeigt: Entgegen dem gesetzgeberischen Willen war die erste Meldung, die dazu aus der Standesvertretung in Brandenburg kam, ein klares Nein. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Wir müssen lernen, aktiv Verantwortung zu übernehmen, und da ist der Bereich Medikation unsere ureigenste Kernaufgabe.

DAZ: Stehen Sie denn im Austausch mit der ABDA?

König: Leider hatte ich noch keine Gelegenheit mich direkt mit der ABDA-Spitze auszutauschen. Ich bin meiner Vision einer aktiven Rolle der Apotheken im Bereich Medikation verpflichtet, da ich nur hier und nicht in reinen logistischen Prozessen unsere gesellschaftliche Aufgabe sehe. Hierfür ist vor allem ein neues Verständnis der Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker gemeinsam mit dem Patienten nötig. Wir müssen ehrlich anerkennen, dass wir bei der Steigerung der AMTS und der Adhärenz als Berufsstand die letzten Jahrzehnte versagt haben. Diese ehrliche Feststellung halte ich für notwendig, weil nur so ein wirklicher Neustart möglich ist. Die Bereitschaft, dieses Thema interdisziplinärer zu denken, erkenne ich in den Gesprächen mit Vertretern unserer ärztlichen Kollegen.

DAZ: Warum waren die Apotheker dann beim eHealth-Gesetz, mit dem der BMP eingeführt wurde, außen vor? Damit hat man sie doch bewusst ins Abseits gestellt …

Stachwitz: Auch wenn ich die Gründe gar nicht genau kenne, ist es aus meiner Sicht ungünstig, dass die Apotheker nicht von Anfang an einbezogen und auch bei der Vergütung berücksichtigt wurden. Auch wenn man das Honorar für die Ärzte für die Pflege des Medikationsplans durchaus kritisieren kann, ist es dennoch wichtig, einer Berufsgruppe grundsätzlich eine Vergütung zuzugestehen und ihr damit zu signalisieren, dass ihr Tun gewürdigt wird.

König: Ich finde es an dieser Stelle wichtig, für die Zukunft zu differenzieren. Wir Ärzte und Apotheker müssen gemeinsam den Unterschied zwischen der schon nicht trivialen Pflege eines eMP und einer tatsächlichen umfassenden Medikationsanalyse herausstellen. Wir können hier gemeinsam viel Nutzen stiften, aber das kostet Zeit und die hat ihren Preis.

DAZ: Bleiben wir beim Stichwort Honorar. Im Patientendaten-Schutzgesetz ist eine Vergütung für die Apotheker vorgesehen, wenn sie Arzneimittel-bezogene Arbeiten in der elektronischen Patientenakte vornehmen. Der eMedikationsplan soll aber standardmäßig zunächst auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden. Gibt es dafür wieder kein Geld?

König: Hier ist tatsächlich weiterhin eine Lücke. Wir brauchen dringend ein Modell, mit dem sich der Zeitaufwand in den Apotheken vergüten lässt. Das ist ein sehr komplexer gesetzgeberischer Prozess, der jetzt aber unbedingt nötig ist. Um in Zukunft gemeinsame Leistungen im Bereich der Digitalisierung auf Augenhöhe vergütet zu bekommen, ist eine Befreiung der pharmazeutischen Dienstleistungen von der Mehrwertsteuer nötig. Abgesehen davon ist die Speicherung auf der Karte eine Übergangslösung, die historisch bedingt ist. Die Karte als Speicherort zu nutzen, hat zudem noch einen weiteren Haken: Der Pa­tient benötigt eine sechsstellige PIN, um dem Arzt oder Apotheker Zugriff zu gewähren. Es ist abzusehen, dass das in den Praxen und Offizinen zu Problemen führen wird. Darüber hinaus kann ein Arzt, der telemedizinisch zugeschaltet ist, auf die Karte gar nicht zugreifen. In Zeiten von ­Corona ist das nicht zielführend. Die Zukunft gehört der ePA und hier sind wir auch vergütet eingebunden. Der Patient wird alles, was mit seiner Gesundheit zu tun hat, in Zukunft in der ePA pflegen, auch die Medikation. Wie schon oben erwähnt, ist dies nicht der Startpunkt, aber das Ziel. Also lasst uns gemeinsam starten – lernen – verbessern. Es gilt: Mut zur Veränderung, Verantwortung und zur Zusammenarbeit.

DAZ: Sehr geehrter Herr König und Herr Dr. Stachwitz, vielen Dank für das Gespräch. |

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