Aus den Ländern

Individualisierte Medizin: Die Zukunft hat bereits begonnen!

Bericht von der 5th APV Winter Conference Innsbruck

Wer glaubt, „individualisierte Medizin“ beschreibe eine Vision, deren Realisierung in weiter Ferne liege, wurde bei der Winter Conference der Arbeitsgemeinschaft für Pharmazeutische Verfahrenstechnik e. V. (APV) am 23. und 24. Januar 2020 in Innsbruck eines Besseren belehrt.
Foto: Apv

Egal ob moderne Technologien zur Herstellung patientenindividueller Darreichungsformen, innovative Medizinprodukte oder Softwareanwendungen, die Zukunft hat längst begonnen. Spätestens seit mit der CAR-T-Zell-Therapie Kymriah® das erste, für jeden einzelnen Patienten maßgeschneiderte Arzneimittel eine Marktzulassung erhalten hat, ist die individualisierte Medizin in der Realität angekommen. Wobei das Potenzial personalisierter Konzepte noch lange nicht ausgeschöpft ist, auch das wurde auf dieser Konferenz deutlich.

Individualisierung erfordert neue Herstelltechnologien

In den letzten Hundert Jahren wurde die Arzneimitteltherapie weitgehend von der klassischen Tablette dominiert, weil sie für eine große Vielfalt von Wirkstoffen geeignet ist, vor allem aber auch, weil sie einfach und kostengünstig in großen Stückzahlen produziert werden kann, so Prof. Dr. Jukka Rantanen von der Universität Kopenhagen in seinem Einstiegsvortrag zur Eröffnung der Konferenz. Das Wesen einer solchen Massenproduktion sei, so Rantanen weiter, dass patienten­individuelle Besonderheiten nur un­zureichend berücksichtigt werden können. Dabei sei das Bedürfnis nach Personalisierung auch im Gesundheitsbereich in den letzten Jahren rapide gewachsen: Menschen versuchen ihre Alltagsgewohnheiten mithilfe datensammelnder Wearables zu optimieren, sie lassen sich genotypisieren, um ihre Gesundheitsrisiken frühzeitig zu antizipieren oder nutzen Apps, die anhand von Veränderungen der Stimme oder des Gesichtsausdrucks Aussagen über den eigenen Gesundheitsstatus treffen. Aus derlei detaillierteren Informationen über den eigenen Körper erwächst zwangsläufig auch ein Bedarf an maßgeschneiderten Therapien, die individu­elle Beschwerden konkret adressieren. Klassische Technologien wie Tablettierung, Granula­tion, Sprühtrocknung oder Salben­herstellung sind dafür jedoch nicht geeignet, stattdessen werden 3D-Druck, Schmelzextrusion oder Elektrospraying eingesetzt, die nicht Massenproduktion, sondern vielmehr Massen­individualisierung zum Ziel haben.

Foto: envisiontec.com

Mit einem 3D-Drucker lassen sich Levetiracetam-Tabletten für Kinder herstellen.

Neue Herausforderungen auch für die Zulassung

Neue hochtechnisierte Prozesse, mit denen Arzneimittel als patientenindividuelle Einzelanfertigungen produziert werden, stellen auch Zulassungsbehörden vor neue Herausforderungen, wie Daniela Philadelphy von der österreichischen Zulassungsbehörde AGES erläuterte. Dass diese Herausforderungen zu überwinden seien, zeigten aber diverse individualisierte ­Therapien, die bereits eine Zulassung erhalten hätten, wie etwa das Sufen­tanil-Präparat Zalviso® oder das modifizierte autologe Zellen enthaltende Arzneimittel Kymriah®. Nichtsdestotrotz haben sich die Behörden im Zuge der weiter voranschreitenden Individualisierung mit Fragen zu beschäftigen, die in klassischen Zulassungsverfahren bislang keine Rolle spielten. Wie sind beispielsweise Biomarker zu beurteilen, die die Grundlage bilden für eine autonome Dosisfestlegung durch selbstlernende Algorithmen, und auf welcher Basis können diese Algorithmen geprüft und zugelassen werden? Besonders komplex wird die Bewertung individualisierter Therapien durch das Ineinandergreifen einer Vielzahl verschiedener Konzepte, wenn beispielsweise mittels Companion Diagnostik zunächst ein bestimmter Biomarker nachgewiesen wird, um eine Subklassifikation der Patienten vorzunehmen, dann mittels kontinuierlicher In-vivo-Diagnostik eine bestimmte Körperfunktion (z. B. die Blutgerinnung) gemonitort und mithilfe einer Medizinproduktesoftware die patientenindividuelle Dosis eines Arzneimittels errechnet wird, das dann wiederum mit einem Spezial­applikator verabreicht werden muss.

Nicht zuletzt aufgrund der Komplexität und des hohen Innovationsgrads solcher Therapien rät Philadelphy, frühzeitig den Dialog und den wissenschaftlichen Austausch mit den Überwachungsbehörden zu suchen.

Andere Länder gehen bei Digitalisierung voran

Einen spannenden Blick in andere Länder warf Sašo Jezernik in seinen Vorträgen zu Digitalisierung und künstlicher Intelligenz. Beispielsweise auf die in Großbritannien eingesetzte App von BabylonHealth, die Fernkonsultationen mit Ärzten und anderen Heilberuflern per Text- und Video­mitteilung anbietet und mithilfe eines integrierten Chatbots zur Symptomprüfung Patienten anhand der beschriebenen Symptome relevante Gesundheitsinformationen zur Verfügung stellt. Ein weiterer Baustein in­dividualisierter Medizin ist auch das Adhärenz-Monitoring. Beispiele hierfür sind sogenannten Smart-Inhaler, die speichern und gegebenenfalls an den betreuenden Arzt übermitteln, wann bzw. wie oft Patienten mit schlecht kontrolliertem Asthma ihre Akutmedikation applizieren.

In eine ähnliche Richtung geht das kalifornische Auftragsforschungs­institut Science 37, das sich auf die Digitalisierung klinischer Studien spezialisiert hat. Dank der Technologie von Science 37 müssen Patienten nicht mehr so häufig in Studien­zentren gehen, da wichtige Vital- und Verhaltenspara­meter (Blutdruck, Blutzucker, Bewegungsprofile) just in time an den Studienarzt übermittelt werden.

Foto: adherium.com

Mit dem Smartinhaler kann gemonitort werden, wann und wie häufig die Patienten inhalieren.

Von Diagnose-Kaugummis und 3D-Druckern

Aber auch hierzulande gibt es spannende Neuentwicklungen. Heinrich Jehle präsentierte Diagnose-Kaugummis mit einem biomimetischen Frei­gabesystem (Peptid-Sensoren), bestehend aus einem bitteren Geschmacksstoff, einer Peptidkette als Linker sowie einem hydrophilen Polymer. Bestimmte Matrix-Metallo-Protein­asen (MMP), deren Konzentration im menschlichen Speichel bei Vorliegen einer Parodontitis oder Periimplantitis stark erhöht ist, sind in der Lage den Linker zu zerschneiden und den bis dahin maskierten Bitterstoff freizusetzen. Auf diese Weise kann der Patient die Entzündung mithilfe seines Geschmackssinns diagnostizieren, noch bevor klinische Symptome auftreten. Selbstverständlich darf auf einem Symposium zur individualisierten Medizin auch ein Update in Sachen 3D-Druck nicht fehlen: Ilias El Aita berichtete über seine Forschungsergebnisse zur Herstellung pädiatrischer Levetiracetam-Tabletten durch Pressure-­Assisted-Syring-Printing. Dabei werden Polymere in einem flüchtigen Lösungsmittel gelöst und mit Druck durch eine Kanüle gepresst. Verflüchtigt sich das Lösungsmittel, bleibt ein 2D-Gerüst bzw. beim Druck in mehreren übereinanderliegenden Schichten ein 3D-Gerüst zurück, dessen Gestalt vorher durch ein CAD-Programm festgelegt wurde.

Mikrodosiersystem für die Kapselherstellung

Eine Neuentwicklung aus der Offizin präsentierten Manfred Saar und David Waldeck. Sie feilen derzeit an einem Dosiersystem, mit dem Kleinstmengen von Wirkstofflösungen in Kapseln in­jiziert werden können. Dabei werden die Kapseln in eine Standardkapselmaschine gesteckt, mit indifferentem Pulver befüllt und von dem System dann nacheinander automatisiert angesteuert und mit der Wirkstofflösung beschickt. Die Validierung des Systems steht noch aus, soll aber in Kürze zusammen mit dem Zentallaborato­rium Deutscher Apotheker (ZL) sowie dem Institut für pharmazeutische Technologie der Universität Düsseldorf durchgeführt werden. Punkten wollen die Entwickler mit der großen Nähe zum bisherigen handwerklichen Prozess der Kapselbefüllung in Apotheken und der damit vergleichsweise geringen Hemmschwelle, auf ein automatisiertes System umzustellen, sowie mit dem im Vergleich zu anderen bereits auf dem Markt befindlichen Pipettierrobotern „apothekenkompatiblen“ Preis. |

Apotheker Dr. Andreas Ziegler

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