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Management

Kraftvolle Entscheidungen treffen

Mit Tetralemma Alternativen aufzeigen und Lösungen finden

„Barfuß oder Lackschuh, alles oder nichts?“ Wenn es immer so einfach wäre, eine klare Entscheidung zu treffen, lieber Harald Juhnke. Immerhin haben Ihre beiden Optionen noch einen gewissen Charme. Im wahren Leben scheinen bei Entscheidungen häufig nur die Alternativen Pest und Cholera zu bestehen. Im besonderen Fall, dass beide Möglichkeiten für uns gleichermaßen wertvoll sind, fällt die richtige Wahl noch einmal schwerer – den Job wechseln oder bleiben, filialisieren oder nicht, jeden Morgen neben der großen Liebe aufwachen oder für den Traumjob die Stadt wechseln. Hilfe verspricht die Methode Tetralemma (s. Grafik), mit der in einer Zwickmühle die Fülle von Alternativen sichtbar wird und die Lösung näherrückt.

Die von der Psychologin Insa Sparrer und dem Logiker und Wissenschaftstheoretiker Prof. Dr. Matthias Varga von Kibéd entwickelte Methode Tetralemma (gr. tetra: vier, lemma: Voraussetzung, Annahme) ist die Adaption eines Schemas der indischen Logik. Zur Anwendung kommt sie im systemischen Coaching, in Beratung und Therapie sowie in der systemischen Strukturaufstellung. Bei Entweder-oder-Fragen wird durch die Ergänzung weiterer Aspekte der Entscheidungs- und Handlungsraum vergrößert. Kreative Lösungen werden möglich. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um einen äußeren oder inneren Konflikt handelt.

Im ursprünglichen Gebrauch soll die Methode als Leitfaden für Richter gedient haben. Das Prinzip wird dadurch deutlich. Stritten sich zwei Parteien z. B. um ein Stück Land, konnte es sein, dass eine der beiden recht hatte und dass der Besitz des Landes klar zuzuordnen war. Es bestand auch die Möglichkeit, dass beide ein wenig recht und ein wenig unrecht hatten und das Land anteilig an beide Parteien gehen musste. Ein weiterer Aspekt war, dass beide unrecht hatten und das Land u. U. einem ganz anderen gehörte, der noch keine Ansprüche geltend gemacht hatte. Auch eine Lösung ganz außerhalb der Diskussion der Besitzrechte wäre möglich gewesen.

Den Wunsch, die richtige Entscheidung zu treffen, kennt jeder von uns, nur manchmal sind wir von einem Dilemma so in den Bann gezogen, dass wir Alterna­tiven aus dem Blick verlieren.

Ein Fall aus der Coachingpraxis ist mir gut in Erinnerung geblieben. Eine Approbierte hatte vom Apothekeninhaber das Angebot bekommen, die Leitung der Filiale zu übernehmen. Auf der einen Seite freute sie sich auf die neue Herausforderung und das Vertrauen des Chefs, auf der anderen Seite mochte sie die Arbeit im Team der Hauptapotheke sehr und wollte ihre Kollegen dort nicht missen. Mithilfe von Tetralemma betrachtete sie zuerst die beiden Alternativen, die zum Dilemma führten, um dann weiterzudenken.

Grafik: AZ/ekr

Der Ablauf

  • 1. Position: Das Eine

„Das Eine“ bezeichnet die erste ­Position im Tetralemma und damit die erste Option, die sich einem ­bietet. Auch andere Bezeichnungen der Positionen sind möglich, wie z. B. A, B, AB, O und 5. Hier finden die Bezeichnungen von Sparrer und Varga von Kibéd ­Gebrauch, da sie aussagekräftiger sind.

Für die Kollegin war die erste Möglichkeit die Annahme der Filialleitung, mit den neuen Arbeitszeiten, Aufgabenfeldern und der Verantwortung. Sie beschrieb, wie ihre neue Tätigkeit aussehen würde und machte sich so ein klares Bild.

  • 2. Position: Das Andere

„Das Andere“ ist die Alternative, die zusammen mit der ersten Position ein Dilemma bildet. Bei der Benennung dieser Option muss darauf geachtet werden, dass sie sich nicht allein durch die Abwesenheit der ersten Möglichkeit auszeichnet. Die Kollegin beschrieb diese Position ad hoc mit: „Ich übernehme die Filialleitung nicht.“ Diese Äußerung stellte nicht die Vorteile dieser Möglichkeit dar – die gute Zusammen­arbeit im Team der Hauptapotheke, den kürzeren Fahrweg und vieles mehr. Um von dieser Option eine Vorstellung zu bekommen, entschied sie sich für die Beschreibung: „Ich bleibe angestellte Approbierte.“

  • 3. Position: Beides

Bei der Position „Beides“ geht es um die Synthese der ersten Lösungen, was schon etwas Kreativität erfordern kann. Es entsteht ein Sowohl-als-auch und damit ein neuer Aspekt. Ein schönes Beispiel für „Beides“ ist das Modell der geteilten Führung. Lange Zeit bestand in Unternehmen nur die Möglichkeit, entweder eine Führungsposition zu übernehmen und sich ganz dem Betrieb zu verschreiben oder auf einer Position ohne Führungsverantwortung zu verharren und dafür Zeit für die Familie zu haben. Mittlerweile geht auch beides. Eine Führungsposition wird stundentechnisch auf zwei Personen aufgeteilt, beide haben eine verantwortungsvolle Stelle und Zeit für das Privatleben. In Apotheken sind die Möglichkeiten begrenzt, eine Filialleiterstelle kann nicht auf zwei Approbierte aufgeteilt werden. (Mehr dazu im Artikel: Allein, zu zweit oder in Teilzeit in AZ 2020, Nr. 42, S. 6)

Da es der Apothekerin ohnehin mehr um den Kontakt zum Team ging, setzte sie auf diese Position die Variante, die Filialleitung zu übernehmen, aber – die Zustimmung des Inhabers vorausgesetzt – weiterhin einige Stunden in der Hauptapotheke zu arbeiten.

  • 4. Position: Keins von Beiden

Die vierte Möglichkeit ist das „Keins von Beiden“. Weder „das Eine“ noch „das Andere“ kommen in Betracht. Diese Position bietet die Möglichkeit, das Geschehen von außen zu betrachten und beides für sich abzulehnen. Ganz neue Optionen lassen sich durchdenken.

So auch in diesem Fall. Dem Unternehmen den Rücken zuzuwenden, um in einer anderen Apo­theke anzufangen, stand nicht zur Debatte. Dafür allerdings die Idee, sich selbstständig zu machen und eine eigene Apotheke zu gründen.

  • 5. Position: All dies nicht und selbst das nicht

Die letzte Position fällt etwas aus der Rolle, was auch ihre Verortung in der Struktur ausdrückt. Bei der Visualisierung des Tetralemma werden die einzelnen Positionen im Quadrat angeordnet, was die Gleichwertigkeit der vier Optionen darstellt. Die fünfte Position ist frei, kann in der Mitte liegen oder irgendwo außerhalb des Quadrates.

„All dies nicht und selbst das nicht“ ist eine Position, bei der der Blick komplett von den bisher besprochenen Lösungen – vom gesamten Tetralemma – abgewendet wird. Alles hinter sich lassen, in eine andere Richtung schauen und die Lösungen an einer anderen Stelle suchen, ist der Plan. Die Bezeichnung „All dies nicht und selbst das nicht“ ist sonderbar, verwirrend und erhebt in keiner Weise den Anspruch, wirklich vollends verstanden werden zu müssen. Manchmal passiert beim darüber nachdenken gar nichts und manchmal etwas Wundervolles. Auf einmal stehen Äußerungen im Raum, die mit: „Eigentlich wollte ich immer …“ beginnen und einen hohen Gehalt dessen in sich tragen, worauf es uns im Leben wirklich ankommt.

In unserem Beispiel wäre es denkbar, dass die Kollegin die Apotheke zwar schätzt, aber gerne in einem anderen Bereich ihre pharmazeutischen Kenntnisse unter Beweis stellen würde.

Tatsächlich antwortete sie: „Ich wollte immer schon einen pharmazeutischen Podcast machen. Egal wo man hinhört, selbst von der schwarzhumorigen Arbeitswelt der Bestatter gibt es etwas ‚auf die Ohren‘, nur über das skurrile Leben eines Pharmazeuten spricht niemand.“

Literaturtipp

Ferrari, Elisabeth
Wege aus dem Dilemma. Das SySt®-Tetralemma: Ein Beides finden.
Ferrari Media, Aachen 2017

ISBN 978-3-942131-29-2

Die Chance ergreifen

Sind alle Alternativen benannt, folgt die Prüfung auf Praxistauglichkeit. Welche Auswirkung wird die Lösung haben? Welche ist die attraktivste, wenn alle Aspekte ­betrachtet werden? Natürlich kann es sein, dass eine Entscheidung wieder vollkommen andere Fragen aufwirft, aber auf dem Entscheidungsweg ist ein großes Stück in die richtige Richtung geschafft. Die Sichtweise ändert sich, viele werden milder gegenüber ihrem Problem und manchmal verschwindet es sogar gänzlich, weil eine Lösung gefunden wurde.

Die Kollegin hat die Filialleitung übernommen und die Podcast-Idee auf ihrer Prioritätenliste weit nach oben gerückt.

Auch geeignet für die ­Aufstellungsarbeit

Das Tetralemma eignet sich nicht nur als Denkmodell, sondern auch in der Aufstellungs­arbeit, welche ein sehr umfangreiches Feld darstellt. Bei der systemischen Strukturaufstellung muss Verschiedenes beachtet werden und sie sollte nur von einem Coach durchgeführt werden, der mit der Methode vertraut ist.

Es gibt meistens viel mehr Alternativen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Aus Barfuß oder Lackschuh wird mit der Frage nach dem „Sowohl-als-auch“ ein schicker Barfußschuh und bei der Option „Weder-noch“ vielleicht ein High Heel aus Wildleder. Und wenn es nichts von ­alledem wird, wartet ein Meer voller Möglichkeiten. |

Anja Keck

Anja Keck ist Fachapothekerin für ­Allgemeinpharmazie, 
Master-Coach (DGfC) und Systemische Beraterin, www.anjakeck.de

 

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