Wirtschaft

Auf und Ab bei der Impfstofflieferung

Woher kommt die Diskrepanz zwischen Lieferwünschen und tatsächlichen Impfungen?

sr | Noch ist unklar, wie es um die Lieferungen von COVID-19-Impfstoffen im kommenden Jahr bestellt ist – der neue Bundes­gesundheitsminister Karl Lauterbach beklagt einen eklatanten Mangel, die Union bestreitet dies und wirft ihm ein „politisches Manöver“ vor (siehe S. 8). Doch derzeit beschäftigt die Akteure – Großhandel, Apotheken und Ärzte – auch viel mehr die aktuelle Situation. Denn während das Bundesgesundheits­ministerium einen deutlichen Überschuss an Impfstoffdosen im Verhältnis zu den tatsäch­lichen Impfungen konstatiert, beklagen die Ärzte eine zu geringe Belieferung.

„Wir erleben eine deutlich erhöhte Nachfrage seit der zweiten Novemberhälfte“, registrierte vor wenigen Tagen der Mannheimer Pharmahändler Phoenix und gab zu, diese aktuell nicht mehr vollständig bedienen zu können. Das rasante Auf und Ab in der Nachfrage nach COVID-19-Vakzinen stellt den Großhandel vor Probleme – und zuletzt stockte sogar der Nachschub.

Allein in der Woche vom 20. November bis 5. Dezember verteilte Phoenix nach eigenen Angaben über 2,3 Millionen Impfstoffdosen an die Apotheken. „Bis zur letzten Dose“ lieferten die Mitgliedsunternehmen des Bundesverbandes des pharmazeutischen Großhandels (Phagro) die verfügbaren Kontingente an Comirnaty® (Biontech/Pfizer) und Spikevax® (Moderna) aus, beteuert der Verband: Man sehe aber, dass Apotheken zuletzt weitaus mehr Comirnaty® bestellt hätten, als die Großhandelsunternehmen vom Bund erhalten könnten, kritisierte der Phagro-Vorsitzender André Blümel.

Bizarrer Streit zwischen Politik und Ärzten

Auch die niedergelassenen Ärzte sparten zuletzt nicht mit Kritik: Der Impffortschritt werde durch die Politik ausgebremst, kritisierte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) Andreas Gassen. Vor allem die Vertragsärzte liefern sich seit einigen Wochen einen bizarren Deutungsstreit mit dem Bundes­ministerium für Gesundheit (BMG) um bestellte und tatsächlich verabreichte Impfstoffmengen. Der Bund könne die von den Praxen angeforderten Impfstoffmengen nicht liefern, schimpfte KBV-Chef Gassen. Die bereitgestellte Menge reiche nicht, um alle Bestellungen des Großhandels zu bedienen, ließ auch der Phagro wissen.

Das Ministerium hingegen regis­trierte nach eigener Darstellung einen deutlichen Überschuss an bereitgestellten Vakzindosen gegenüber den tatsächlich gemeldeten Impfungen. „Für die Kalenderwochen 47 bis 50 bis zum 17. Dezember wurden knapp 18 Mio. Dosen Biontech und fast 25 Millionen Booster-Dosen von Moderna an die impfenden Stellen (Arztpraxen, Betriebsärzte, öffentlicher Gesundheitsdienst, Impfzentren und mobile Teams) ausgeliefert, bilanzierte das Ministerium im Vorfeld der Ministerpräsidentenkonferenz am 2. Dezember. Allein 3,3 Mio. Dosen von Biontech seien in den Kalenderwochen 45 bis 47 mehr ausgeliefert als verimpft worden: „Dieser Trend setzt sich fort.“

„Derzeit gibt es bei den Impfstoffherstellern keine Lieferschwierigkeiten“, betont auch ein BMG-Sprecher. Vertraglich zugesagte Mengen würden ausgeliefert. Zusätzlich habe das Ministerium in Absprache mit Biontech und Moderna sogar erreicht, dass Impfstofflieferungen vorgezogen werden.

Foto: ronstik/AdobeStock

BMG: Praxen haben zu spät bestellt

So richtig erklären kann sich die immense Diskrepanz zwischen Lieferwünschen und tatsächlichen Impfungen niemand. In den meisten Beschwerdefällen habe sich gezeigt, dass Bestellungen in den Praxen zu spät oder nicht korrekt aufgegeben wurden, betont das BMG. Ministerium und Großhandel verweisen unter anderem auf den geänderten Bestellrhythmus. Seit dem 16. November können Ärzte die Vakzine wieder für die jeweils kommende Woche bestellen. Mit der Umstellung hatte das Ministerium auf den Wunsch zahlreicher Praxen reagiert, Impfstoff insbesondere für Auffrischimpfungen kurzfristiger beziehen zu können.

Der Phagro betont die logistische Herausforderung. Schließlich läuft die Versorgung mit COVID-19-Impfstoffen seit Oktober ausschließlich über den Pharma­großhandel. Auch Impfzentren, Impfteams, der Öffentliche Gesundheitsdienst, Amtsärzte und Krankenhäuser ordern in­zwischen über den Großhandel. „Wegen der vor allem von den Ärzten geforderten Umstellung von einem zwei- auf ein einwöchiges Bestellintervall liegen zwischen dem Ende der Bestellfrist der Apotheken beim Großhandel (Dienstagabend) und dem Beginn der Auslieferungen des Großhandels an die Apotheken am folgenden Montag nur drei Werktage“, betont der Phagro. In dieser Zeit müssen die Vials bruch- und schüttelsicher umgepackt und verteilt werden, zusammen mit dem notwendigen Impfzubehör, Spritzen, Kanülen und NaCl-Lösungen – passgenau sortiert.

Phagro: Bedarf wird geschätzt

Innerhalb der verkürzten Bestellzeit sei es dem Bund nach dessen Aussage nicht möglich, den Großhandel entsprechend der tatsäch­lichen Bestellmengen und Bedarfe zu versorgen, moniert der Großhandelsverband. Es wird also geschätzt: Der Bund liefere auf der Grundlage der Bestellungen der Vorwochen, einer Bedarfsschätzung und der tatsächlichen Verfügbarkeit der Impfstoffe im Zentrallager des Bundes, so eine Phagro-Sprecherin. Stellt der Großhandel nach dem Ende der Bestellfrist für Apotheken fest, dass mehr bestellt wurde als geliefert werden konnte, könne er zumindest Spikevax® „unter erheblichem logistischem Aufwand“ aus dem Zentrallager des Bundes selbst abholen. „Das ist mit erheblichen Aufwänden und Kosten verbunden.“

Seit Wochen warnen die Großhändler ihre Kunden, es müsse womöglich kontingentiert werden. Gemäß den Vorgaben des BMG müsse die verfügbare Menge dann anteilig auf die Bestellungen der Apotheken in den Bundesländern verteilt werden.

Hinzu kommen voraussichtlich bald mit Apotheken, Zahnärzten und Tierärzten weitere Impfteilnehmer. Dass der Kreis der Impfberechtigten erweitert werden soll, stößt bei den Kassenärzten erwartungsgemäß auf wenig Gegenliebe: Wünschenswerter wäre es, dass zuerst einmal die Praxen so impfen könnten, wie sie das gerne täten, ärgert sich KBV-Chef Gassen: „Wem hilft es, wenn wir Vertragsärzte mit Apothekern, Zahn- und von mir aus auch noch Tierärzten um nicht vorhandenen Impfstoff konkurrieren? Wir stehen schlicht­weg mit leeren Händen da.“

Viele Fragen zu den Impfungen in Apotheken

Der sprunghafte Nachfrageanstieg der letzten Wochen gegenüber der beinahe völligen Flaute im Spätsommer macht dem Großhandel das Planen schwer: Mit Arbeit an den Wochenenden, Frühschichten und zusätzlichen Kapazitäten über Speditionen versuche der Großhandel, die Nachfrageschwan­kungen abzufangen, berichten die Unternehmen. Was viele allerdings beunruhigt, sind ungeklärte Prozesse für die kommenden Aufgaben: Wie wird knapper Impfstoff zwischen Ärzten und Apotheken aufgeteilt? Wie melden Apotheken den eigenen Bedarf an, wie rechnen sie ab, welche Berechtigungen und Zertifikate müssen Apotheken vorlegen, damit sie mit Impfstoff für den eigenen Bedarf beliefert werden können? Zur Logistik rund um die Impfungen in Apotheken gebe es großen Abstimmungsbedarf, betont der Apothekerverband ABDA. |

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