Pandemie Spezial

Rätselhaftes Neuro-COVID

Ursachen für persistierende neurologische Symptome sind ungeklärt

Es geht unter die Haut mitanzusehen, wie ein COVID-19-Patient, der über Wochen künstlich beatmet wurde, unter Aufbietung aller Kräfte die ersten eigenständigen Atemzüge macht. Man spürt geradezu die Erleichterung, wenn selbstständiges Atmen wieder zu einem Automatismus geworden ist und das Pflegepersonal dem Patienten applaudiert, wenn er die ersten Schritte wagt. Und es ist erschütternd mitzuerleben, wenn trotz intensiver Reha-Maßnahmen neurologische Krankheitszeichen persistieren und die Hoffnung auf eine baldige Genesung schwindet.

Je nach Studie leiden zwischen 13 und 84% aller COVID-19-Patienten an neuro­logischen Komplikationen [1, 2]. Damit sind neurologische Folgekrankheiten bei COVID-19 um etwa einen Faktor 100 häufiger als bei SARS und MERS. Neuro-COVID mit seinen zahlreichen Facetten ist dermaßen häufig, dass die Deutsche Neurologische Gesellschaft eigene Behandlungsrichtlinien herausgegeben hat [3]. Ob und wann die neurologischen Defizite vollständig ausheilen, lässt sich derzeit nicht voraussagen. Ausgeprägte Konzentrations- und Denkstörungen, unerklärliche Stimmungsschwankungen, chronische Nervenschmerzen und Schwindel werden am häufigsten von den Patienten berichtet. Extrem seltene neurologische Krankheitsbilder wie Hirnnervenausfall und kortikale Blindheit wurden ebenfalls beobachtet. Das breite Spektrum zentraler und peripherer neurologischer Sym­ptome nach COVID-19 wird unter dem Begriff Neuro-COVID subsumiert.

Peter Berlit, Neurologe und General­sekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, berichtete auf dem 93. Kongress der Fachgesellschaft Ende 2020, dass zahlreiche Patienten, die während der ersten Welle im Frühjahr erkrankten, bis zu diesem Zeitpunkt nicht beschwerdefrei waren. Dafür sprechen auch die Ergebnisse einer Langzeit-Untersuchung [2].

Drei Hypothesen für die Ursache von Neuro-COVID werden derzeit diskutiert.

Foto: DonkeyWorx – stock.adobe.com

Was passiert bei COVID-19 im Gehirn? Die Ursachenforschung für Neuro-COVID ist in vollem Gange, eine Erklärung ist die vollkommene Verausgabung des Immunsystems.

Zu wenig Sauerstoff?

Die einfachste Erklärung wäre, dass bei einem schweren Verlauf mit künstlicher Beatmung das Gehirn über einen längeren Zeitraum nicht aus­reichend mit Sauerstoff versorgt wurde. Eine daraus resultierende Hirnschädigung könnte das breite Spektrum von Krankheitszeichen aber nur teilweise erklären. Gegen diese Annahme spricht zudem, dass Neuro-­COVID auch bei Patienten auftritt, bei denen COVID-19 nur leicht ausgeprägt war.

Direkte Neuronen-Schädigung durch SARS-CoV-2

Alternativ könnte eine direkte Schädigung von Neuronen durch SARS-CoV-2 die Ursache sein. Allerdings ließ sich in Autopsien von an COVID-19 verstorbenen Patienten bislang nur selten Virus-RNA in Gehirnzellen nachweisen. Auch im Liquor cerebrospinalis fanden Neurologen nur selten RNA von SARS-CoV-2 [4].

Immunologischer Kollateralschaden?

Eine dritte Hypothese hält Neuro-COVID für einen immunologischen Kollateralschaden, ähnlich dem, wie er auch in anderen Organen – ver­mutlich als Folge des Zytokinsturms – auftritt. Dafür spricht, dass eine In­fektion mit SARS-CoV-2 häufig eine besondere Form einer generalisierten Gefäßentzündung hervorruft, die sogenannte COVID-19 Vasculitis, die auch im Zentralnervensystem nach­gewiesen wurde [5].

Weitere Ursachenforschung

Weitgehende Übereinstimmung gibt es in Bezug auf die wahrscheinliche Eintrittspforte von SARS-CoV-2 in das Zentralnervensystem: eine Infektion des Riechnervs und eine Ausbreitung des Erregers vom Riechkolben in anatomisch benachbarte neuronale Zentren gelten als der Hauptweg [4] (siehe DAZ 2021, Nr. 3, S. 34).

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Eric Song von der Abteilung für Immunbiologie der Yale School of Medicine in New Haven, Connecticut, wollte grundsätzlich klären, ob SARS-CoV-2 in Gehirnzellen eindringen kann und welche Rezeptoren dafür vorhanden sein müssen [6]. Dazu nutzten sie sogenannte Gehirnorganoide, im Labor gezüchtete neuronale Opera­tions­einheiten. Die Forscher konnten zeigen, dass SARS-CoV-2 in Nervenzellen eindringt, wenn diese den ACE-2-Rezeptor aufweisen. Das führte zu Funktionsstörungen sowohl in der infizierten Zelle als auch in benachbarten Neuronen und Strukturzellen. Wurde der ACE-2-Rezeptor auf der Oberfläche der gezüchteten Neuronen – das Schloss, über das SARS-CoV-2 in eine Zelle eindringt – durch entsprechende Antikörper blockiert, war die Nervenzelle gegen eine Infektion resistent. Durch weitere Experimente konnte ausgeschlossen werden, dass andere Rezeptoren wie Neuropilin-1 und TMPRSS2 für die Infektion einer Nervenzelle mit SARS-CoV-2 ausreichen. In einem Tiermodell mit genetisch veränderten Mäusen, mit einer hohen Dichte von ACE-2-Rezeptoren auf der Oberfläche von Neuronen, ließ sich beweisen, dass SARS-CoV-2 umso häufiger in eine Nervenzelle eindringt, je mehr ACE-2-Rezeptoren auf der Zelloberfläche exprimiert werden. Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass nur relativ wenige Neuronen den ACE-2-Rezeptor exprimieren und dass selbst innerhalb eines neuronalen Funktionszentrums die Dichte von ACE-2-Rezeptoren erheblich variiert [7].

In einem dritten Schritt wurden Gehirne von an COVID-19 verstorbenen Patienten systematisch auf Präsenz von SARS-CoV-2 untersucht. Über ­immuno-histologische Färbetechniken ließ sich das Spike-Protein im Inneren von Nervenzellen in unterschiedlichen Gehirnregionen nachweisen. Insgesamt betrachtet war eine Infektion von Neuronen durch SARS-CoV-2 aber eher selten [6].

Eine deutsch-amerikanische Gruppe von Neuro-Immunologen hat einen komplett anderen Ansatz gewählt, um den krankmachenden Mechanismus von Neuro-COVID auf die Spur zu kommen. Sie entnahmen Liquor, isolierten die im Nervenwasser vorhandenen Immunzellen und sequenzierten alle von DNA in RNA umgeschriebenen Gene, also die Gesamtheit aller in einer Zelle vorhandenen RNA-Moleküle. Die single-cell transcriptomics genannte Methode ist technisch extrem aufwendig und wurde bislang nur vereinzelt bei neurologischen Erkrankungen eingesetzt. Mit dem Verfahren lassen sich komplexe Aktivitätsmuster von Immunzellen erkennen. Die aus der Transkriptom­analyse resultierenden Signaturen von Lymphozyten und Monozyten der Patienten mit Neuro-COVID wurden mit Signaturen von Immunzellen bei nicht-entzündlicher Gehirnerkrankung, Multipler Sklerose und viraler Enzephalitis verglichen (s. Kasten „Die ‚Signatur‘ einer Infektion“)[8].

Die „Signatur“ einer Infektion

Als Transkription wird die Summe aller in einer von DNA in RNA umgeschriebenen (transkribierten) Gene bezeichnet, mithin alle zu einem Zeitpunkt X vorhandenen RNA-Moleküle. Der Begriff Transkription ist analog zum Begriff des Proteoms entstanden, also der in einer Zelle vorhandenen Zahl unterschiedlicher Proteine. Da aber nicht jede Art von RNA in ein Protein übersetzt (translatiert) wird, sind Transkription und Proteom nicht identisch.

Unter Transkriptomik oder Genexpressionsanalyse versteht man die Analyse aller in einer Zelle vorhandenen mRNA, unabhängig davon, welche Art von Proteinen eine einzelne mRNA codiert. Führt man eine Genexpressions­analyse einzelner Immunzellen durch (zum Beispiel von Immunzellen, die im Verlauf einer Infektion entstanden sind), so erhält man komplexe Muster des Funktionszustandes unterschiedlicher Arten von Immunzellen. Derartige Muster werden als Immun­zellenprofil oder als Signatur bezeichnet.

Erschöpfte T-Zellen, dedifferenzierte Monozyten

Die Ergebnisse waren so frappierend wie schwer zu beurteilen, scheinen aber die dritte Hypothese zu bestätigen: Sogenannte erschöpfte T-Zellen, ein normalerweise nicht vorhandener Funktionstyp von T-Lymphozyten, waren in großer Zahl im Nervenwasser der Neuro-COVID-Patienten vorhanden, fehlten dagegen im Liquor der Kontrollgruppen. Erschöpfte T-Zellen sind ursprünglich CD4+-Helferzellen, deren Aufgabe es ist, die Infektabwehr zu koordinieren. Sie werden als erschöpft bezeichnet, da sie offensichtlich ihr Repertoire abwehrfördernder Maßnahmen ausgeschöpft haben und im übertragenen Sinne mit ihren Kräften am Ende sind. Bei den Monozyten zeigte sich ein ähnliches Phänomen. Diese Zellen sind ebenfalls ein wichtiger Bestandteil des immunologischen Orchesters und differenzieren sich im Verlauf einer Immunantwort stetig weiter. Aber genau das Gegenteil war bei den Monozyten der Neuro-COVID-Patienten der Fall: diese Immunzellen waren quasi in ihren nativen Zustand zurückgekehrt.

In einem dritten Schritt suchten die Autoren nach Transkriptionsprodukten, die etwas mit der Synthese von Interferon γ zu tun haben: Während bei Patienten mit viraler Enzephalitis – zum Beispiel verursacht durch Herpes-Viren – Zellen mit einer Interferon-γ-assoziierten Signatur sehr häufig waren, fehlten bei den Patienten mit Neuro-COVID die entsprechenden T-Helfer-Zellen.

„Orchestrierung ohne Partitur“

Zusammenfassend lassen sich die Ergebnisse der beiden Studien dahingehend interpretieren, dass SARS-CoV-2 in Nervenzellen eindringen kann, vorausgesetzt, Neuronen haben eine ausreichend große Dichte von ACE-2-Rezeptoren auf ihrer Oberfläche. Allerdings scheint eine direkte Schädigung von Nervenzellen eher selten und kann das breite Spektrum von neurologischen Folgekrankheiten nur unzureichend erklären. Die Studie der deutsch-amerikanischen Forschergruppe deutet darauf hin, dass dem fein abgestimmten immunologischen Orchester die „Partitur“ abhanden­gekommen ist und sich das Immunsystem dermaßen „verausgabt“, dass einzelne Immunzelltypen in einen Zustand partieller Erschöpfung gelangten. Warum sich die Abwehrkräfte erschöpfen, obwohl nur verhältnis­mäßig selten SARS-CoV-2 in Neuronen vorhanden ist, konnte die Studie nicht klären. Gesichert ist dagegen, dass Neuro-COVID keine neurologische „Nebenerscheinung“ einer schweren COVID-19-Erkrankung ist, sondern eine eigene Krankheitsentität ist. |

Literatur

[1] Vetter C. Das Gehirn als Schlüsselorgan. Deutsches Ärzteblatt 2021;118(5):222-223, www.aerzteblatt.de/archiv/inhalt?heftid=6568

[2] Davis HE et al. Characterizing long COVID in an international cohort: 7 Months of Symptoms and Their Impact. medRixv Preprint server 27. Dezember 2020, doi.org/10.1101/2020.12.24.20248802

[3] Berlit P et al. Neurological manifestations of COVID-19 – guideline of the German society of neurology. Neurological Research and Practice 2020;2;51, doi.org/10.1186/s42466-020-00097-7

[4] Solomon T. Neurological infection with SARS-CoV-2 – the story so far. Nature Reviews Neurology 2021;17:65-66, doi.org/10.1038/s41582-020-00453-w

[5] McGonagle D et al. COVID-19 vasculitis and novel vasculitis mimics. Lancet Rheumatol 2021;3(3):e224-e233, doi.org/10.1016/s2665-9913(20)30420-3

[6] Song E et al. Neuroinvasion of SARS-CoV-2 in human and mouse brain. J Exper Med 2021;218(3):e20202135, doi.org/10.1084/jem.20202135

[7] Shiers S et al. ACE2 and SCARF expression in human dorsal root ganglion nociceptors: implications for SARS-CoV-2 virus neurological effects. Pain 2020;161:2494-2501, doi.org/10.1097/j.pain.­0000000000002051

[8] Heming M et al. Neurological Manifestations of COVID-19 Feature T-Cell Exhaustion and Dedifferentiated Monocytes in Cerebrospinal Fluid; Immunity 2021;54(1):164-175.e6, https://doi.org/10.1016/j.immuni.2020.12.011

Prof. Dr. Hermann Feldmeier, Berlin

 

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