Pandemie Spezial

Diabetes in Zeiten der Pandemie

Ein gut eingestellter Stoffwechsel schützt vor schweren COVID-19-Verläufen

Ein Diabetes mellitus muss gerade jetzt in Zeiten eines hohen Infektionsrisikos mit SARS-CoV-2 sehr gut eingestellt werden. Denn Menschen mit dieser Stoffwechselstörung haben ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe von COVID-19.

Die Sterblichkeit von an COVID-19 erkrankten Diabetikern ist Studien zufolge um ein Mehrfaches erhöht. Das Risiko korreliert mit hohen Blutzuckerwerten, die eine Infektion und Ausbreitung von SARS-CoV-2 begünstigen. Die Patienten müssen auf die Bedeutung von Infektionsschutz und einer optimalen metabolischen Kontrolle hingewiesen werden. Dabei eröffnen die kardio- und nephroprotektiven Effekte moderner Antidiabetika Perspektiven zur Verbesserung der Prognose über die Blutzuckerkontrolle hinaus.

Foto: lukszczepanski – stock.adobe.com

Gut eingestellt? Gerade in Zeiten der Pandemie ist eine gute glykämische Kontrolle für Diabetiker besonders wichtig.

Ein Drittel aller Todesfälle

Eine Studie des britischen National Health Service, die 24.000 COVID-19-­bedingte Todesfälle im Krankenhaus analysierte, belegt die besondere Gefährdung von Menschen mit Diabetes: Bei einem Anteil von 4,8% in der Gesamtgruppe machten sie ein Drittel aller Todesfälle aus. Sowohl bei Typ-1- als auch bei Typ-2-Diabetes-mellitus war das Risiko für COVID-19-bedingten Tod nach Herausrechnen von Kofaktoren wie Alter und Geschlecht ­signifikant erhöht, und zwar bei Typ 1 mit einer Odds Ratio von 3,51 stärker als bei Typ 2 (OR 2,03). Als signifikanten Risikofaktor errechneten die britischen Ärzte für Typ-1-Diabetiker einen HbA1c über 10% (> 86 mmol/mol), beim Typ 2 lag das Risiko einer Signifikanz bei 7,5% (58 mmol/mol) [1]. Bei den schweren Verläufen mit ARDS (Acute Respiratory Distress Syndrome) lässt sich auch Adipositas als Risikofaktor belegen: Zwischen Adipositas und der COVID-19-Sterblichkeit besteht eine J-förmige Assoziation, mit einem 2,6- bis 4-fach erhöhten Risiko ab einem BMI von 40, besonders ausgeprägt beim männlichen Geschlecht.

Wie Prof. Dr. med. Matthias Laudes, Endokrinologe und Diabetologe am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel, bei einer Fortbildungsveranstaltung für Internisten und Diabetologen ausführte, ist nicht Diabetes per se ein Risikofaktor für schwere Verläufe, sondern ein schlecht eingestellter Stoffwechsel [2]. Eine Erklärung sei, dass die Expression von ACE2, dem „Türöffner“ für SARS-CoV-2, mit dem Blutzucker korreliert, weshalb eine diabetogene Stoffwechsellage Infektion und Ausbreitung des Virus begünstigt. Eine COVID-19-­Erkrankung kann sich rasch verschlechtern, der Progress ist bei Hyperglykämie deutlich beschleunigt. „Deshalb gilt es gerade in Zeiten der Pandemie, eine sehr gute Einstellung des Diabetes in die individuellen Zielbereiche voranzutreiben“, sagte Laudes. Unglücklicherweise würden viele Patienten den Diabetes-Ambulanzen in Kliniken oder Schwerpunktpraxen fernbleiben, aus Sorge, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren. Dies sollten Diabetologen in ihre Planung einbeziehen und auch telefonische oder videobasierte Sprechstunden anbieten, so der Experte. Praktische Empfehlungen für die SARS-CoV-2-Infektionsprophylaxe ambulanter Diabetiker sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Anforderungen an die Diabetestherapie in Abhängigkeit der Schwere einer COVID-19-Erkrankung sind ­Tabelle 2 zu entnehmen.

Tab. 1: Praktische Empfehlungen für die SARS-CoV-2-Infektionsprophylaxe ambulanter Diabetes-Patienten [mod. nach Bornstein et al. (3)]
Prävention von Infektionen
Zielwerte (Blutzuckermessung)
Zielwerte (CGM/FGM)
Sensibilisierung der Patienten bezüglich der Bedeutung einer optimalen metabolischen Kontrolle
Optimierung der aktuellen Therapie, falls angemessen
Vorsicht bei Abbruch einer bestehenden Therapie
Einhalten von AHA-L-Regeln und Einsatz von Telemedizin
Plasmaglucosekonzen­tration 4 – 8 mmol/l (72 – 144 mg/dl)
HbA1c < 53 mmol/mol (7%)
Zeit im Zielbereich = Time in Range = TIR (3,9 – 10 mmol/l): mind. 70% (> 50% bei Gebrechlichen und Älteren)
Hypoglykämien mit BZ < 3,9 mmol/l: < 4% (< 1% bei gebrech­lichen und älteren Menschen)

CGM = Continous glucose monitoring; FGM = Flash glucose monitoring

Tab. 2: Anforderungen an das Diabetes-Management bei COVID-19 in Abhängigkeit der Schwere der Erkrankung. [n. International Diabetes Foundation, 2020]
COVID-19-Verlauf
Management eines Diabetes mellitus
mild
  • OAD und Insulinbehandlung wie gewohnt weiterführen
  • Blutzucker häufiger messen
  • bei Verschlechterung oder verfehlten Zielwerten umgehend den Arzt konsultieren, um Therapie anzupassen
moderat
  • Behandlungsregime aufrechterhalten, solange der mentale Zustand des Patienten, Appetit und Glucosewerte sich im normalen Bereich bewegen
  • OAD durch Insulintherapie ersetzen bei Patienten mit klaren COVID-19-Symptomen, die nicht normal essen können
  • Mischinsuline ggf. durch ein Basis-Bolus-Regime oder Insulinpumpe ersetzen
schwer und kritisch
  • Insulintherapie ist die Diabetestherapie der 1. Wahl

Gliptine gegen COVID-19?

Neben ACE2 fungiert auch ein Schlüsselenzym im Inkretinsystem als Andockstelle für SARS-CoV-2: die Dipeptidylpeptidase-4 (DPP4). DPP4 baut die Inkretine GLP-1 (Glucagon-like peptide-1) und GIP (Glucose-dependent insulinotropic peptide) ab, weshalb ihre Hemmung durch Gliptine (DPP4-Inhibitoren) den Blutzucker senkt. Die DDP4 ist wie ACE2 eine membranständige Protease, kommt aber auch in einer löslichen Form (sDPP4) vor. Die Zusammenhänge zwischen der Blutkonzentration an sDPP4 und dem Alter, dem Körpergewicht und metabolischen Störungen sind noch nicht vollständig geklärt [4]. Laudes vertritt die Hypothese, dass die gelöste sDPP4 im Blut kursierende Coronaviren abfangen und am Eintritt in die Zellen hindern kann. Bei schwerer COVID-19-­Erkrankung sind die Blutspiegel von sDPP4 erniedrigt, interessanterweise steigen sie bei Gabe von DPP4-Inhibitoren (Gliptinen) an. Diese Beobachtung hat zum therapeutischen Einsatz von Sitagliptin bei diabetischen wie nicht-diabetischen COVID-19-Patienten geführt. In einer retrospektiven Studie war die zusätzliche Gabe eines DPP4-Hemmers zur Standardtherapie bei diabetischen COVID-19-Intensiv­patienten verbunden mit einer geringeren Sterblichkeit (18% vs. 37%) und besserem klinischem Outcome [5]. „Wir setzen in Kiel Gliptine dementsprechend ein, wenngleich der Outcome noch in prospektiven Studien bestätigt werden sollte“, sagte Laudes.

SARS-CoV-2 infiziert Betazellen

Aktuell hat sich der Verdacht bestätigt, dass SARS-CoV-2 auch Zellen des endokrinen und exokrinen Pankreas infiziert und sich dort vermehrt [6]. Als Folge der Infektion von Betazellen kann die Insulinausschüttung beeinträchtigt werden, schlimmstenfalls kommt es zum Typ-1-Diabetes. Schwere Erstmanifestationen wurden während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 bei Kindern gesehen. Die Zahl der Kinder mit einer diabetischen Ketoazidose hatte sich im Vergleich zu den beiden Vorjahren verdoppelt. Neben einer Virus-assoziierten Zerstörung von Betazellen dürfte wiederum die angstgeleitete Zurückhaltung bei Arztbesuchen ein Grund für den sprunghaften Anstieg der Ketoazidosen sein. „Erstmanifestationen von ­Diabeteserkrankungen sollten zügig beim Facharzt vorgestellt werden“, betonte Laudes. Eltern sollten vorsorglich auf Warnsymptome wie ständigen Durst, häufiges Wasserlassen und Gewichtsabnahme aufmerksam gemacht werden. Übelkeit und Erbrechen, eine schnelle Atmung sowie ein säuerlicher Acetongeruch aus dem Atem der Kinder deuten auf die diabetische Keto­azidose hin.

Neue Therapiealgorithmen

Naturgemäß ist auch unabhängig von Pandemiegefahren stets eine möglichst gute metabolische Kontrolle bei Menschen mit Typ-2-Diabetes anzustreben. Die häufigsten Krankheitsmanifestationen dieser Patienten sind kardiovaskuläre Erkrankungen, vor allem die Herzinsuffizienz, und chronische Nierenerkrankungen. Sie begründen einen Lebenszeitverlust von vier Jahren pro Erkrankungsjahrzehnt [7]. Dementsprechend muss die optimale Therapie des Typ-2-Diabetes frühzeitig einsetzen und sich an den kardiovaskulären und renalen Risikofaktoren orientieren, betonte Prof. Dr. med. Petra-Maria Schumm-Draeger, ärztliche Direktorin des Zentrums Innere Medizin/Fünf Höfe in München. Die Therapiealgorithmen bei Diabetes wurden in den letzten beiden Jahren neu geschrieben. Neuere Antidiabetika eröffnen die Chance, bei frühzeitiger Diagnosestellung nicht nur den Stoffwechsel zu stabilisieren, sondern gegen kardiovaskuläre und renale ­Erkrankungen vorzubeugen. Im Vordergrund der aktuellen Leitlinienempfehlungen stehen nach Schulung zur Lebensstilintervention und Metformin-Therapie bei Risikopatienten innovative kardio- und nephroprotekive Medikamente:

  • Bei vorherrschender atherosklerotischer Komponente des diabetischen Patienten (manifeste kardiovaskuläre Erkrankung, etwa nach Herzinfarkt, Schlaganfall, Revaskularisation), oder bei hohem kardiovaskulären Risiko (> 55 Jahre, Stenosen > 50% der Koronarien, Carotis oder peripherer Arterien, linksventrikulärer Hypertrophie [LVH], eGFR < 60 ml/min) sind GLP1-Rezeptor­agonisten erste Wahl.
  • Bei Herzinsuffizienz (LVEF < 45%) und chronischer Nierenerkrankung (eGFR 30-60) werden primär SGLT-2-­Inhibitoren empfohlen.
  • Bei notwendiger Behandlungs­intensivierung bis hin zur Insulintherapie sind möglichst die Medikationen mit dem geringsten Hypoglykämierisiko zu wählen [8, 9].

Prognoseverbesserung über Blutzuckerkontrolle hinaus

Die Einleitung einer Behandlung mit SGLT-2-Inhibitoren führt bei Hoch­risikopatienten schon innerhalb des ersten Behandlungsmonats zu einer messbaren Verbesserung der körper­lichen Leistungsfähigkeit und der Dyspnoe, sogar bei noch unzureichender glykämischer Kontrolle [10]. Eine Risikoreduktion für Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz und für kardiovaskulären Tod war in Post-hoc-Analysen der „EMPA-REG“-Studie mit Empagliflozin bereits binnen weniger Wochen nach Behandlungsbeginn ersichtlich [11]. Schließlich zeigt die aktuelle Metaanalyse der Studien DAPA-HF – mit Dapagliflozin – und EMPEROR-Reduced – mit Empagliflozin – „mehr als eindrucksvoll, dass sowohl die Hospitalisation für Herzinsuffizienz, der kardiovaskuläre Tod und die Endpunkte für Nierenerkrankungen signifikant reduziert werden“, sagte Schumm-Draeger, „und zwar unabhängig davon, ob die behandelten Menschen einen Typ-2-Diabetes-mellitus ­haben oder nicht und unabhängig von Alter und Geschlecht sowie spezifischer Begleitmedikationen“ [12]. Eine Prognoseverbesserung für Menschen mit und ohne Typ-2-Diabetes, aber chronischer Nierenerkrankung, wurde in der aktuell publizierten Outcome-Studie „DAPA-CKD“ bestätigt: Beide Patientengruppen waren unter der Einnahme von Dapagliflozin besser vor Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz und Verschlechterung von Niereninsuffizienz geschützt. Außerdem sanken die Risiken für Herzinsuffizienzverschlechterung und kardiovaskulären Tod [13]. |

Literatur

 [1] Barron E et al. Associations of type 1 and type 2 diabetes with COVID-19-related mortality in England: a whole-population study. Lancet Diabetes Endocrinol. 2020;8:813-822. doi: 10.1016/S2213-8587(20)30272-2

 [2] Virtueller Fortbildungskongress „Innere Medizin fachübergreifend – Diabetologie grenzenlos“ 26./27.2.2021

 [3] Bornstein SR et al. Practical recommen­dations for the management of diabetes in patients with COVID-19. Lancet Diabetes Endocrinol. 2020;8: 546-550

 [4] Rohmann N et al. Circulating sDPP-4 is Increased in Obesity and Insulin Resistance but Is Not Related to Systemic Metabolic Inflammation. J Clin Endocrinol Metab. 2021;106:592-601

 [5] Solerte SB et al. Sitagliptin Treatment at the Time of Hospitalization Was Associated With Reduced Mortality in Patients With Type 2 Diabetes and COVID-19. Diabetes Care 2020 Sep; dc201521. https://doi.org/10.2337/dc20-1521

 [6] Müller JA et al. SARS-CoV-2 infects and replicates in cells of the human endocrine and exocrine pancreas. Nature Metabolism 2021,3:149-165

 [7] Birkeland KI et al. Heart failure and chronic kidney disease manifestation and mortality risk associations in type 2 diabetes: A large multinational cohort study. Diabetes, Obesity and Metabolism 2020,22:1607-1618

 [8] Standards of medical care in Diabetes 2021, Diab Care 2021, Vol. 44

 [9] Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft: Therapie des Typ-2-Diabetes. Aktualisierte Version, Oktober 2020, Diabetologie und Stoffwechsel 15 (Suppl.1)

[10] Dumartin M et al. American Diabetes Association Virtual, June 12 – 16, 2020

[11] Verma S et al. American Diabetes Association Virtual, June 12 – 16, 2020; 28-OR

[12] Zannad et al. Meta-analysis of DAPA-HF and EMPEROR-Reduced. Lancet Aug.2020

[13] Heerspink HJL et al. Dapagliflozin in Patients with Chronic Kidney Disease. N Engl J Med. 2020;383(15):1436-1446

Apotheker Ralf Schlenger

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.