Arzneimittel und Therapie

Fluorchinolon-Warnung: „Schwere langanhaltende ­Nebenwirkungen möglich“

Wie sich Off-Label-Verordnungen besser verhindern lassen

mp | Fluorchinolone weisen ein problematisches Nebenwirkungsspektrum auf. Trotz der Risiken und Resistenzlage gehören sie in Deutschland zu den vier am häufigsten verordneten Antibiotikaklassen. In den USA versah die Arzneimittelbehörde FDA Beipackzettel mit prominenten Warnungen, wonach die Verschreibungen schnell zurückgingen. In Deutschland bewirkten Rote-Hand-Briefe zwar einen Rückgang der Verordnungen. Damit Ärzte Fluorchinolone aber noch umsichtiger verordnen, sind tiefgreifendere Maßnahmen nötig.

Fluorchinolone (z. B. Ciprofloxacin), auch Gyrasehemmer genannt, sind Breitband-Antibiotika, die konzentrationsabhängig eine Reihe gramnegativer Bakterien abtöten – vor allem, während diese sich teilen. Sie sind wichtige Waffen im Kampf gegen gramnegative Erreger, die noch keine Resistenzen gegen sie entwickelt haben. Jüngere Vertreter der Substanzklassen (z. B. Levofloxacin, Moxifloxacin) wirken zudem bei Infektionen durch grampositive Erreger wie Streptokokken oder Staphylokokken. Die Kehrseite der Medaille: Fluorchinolone bergen die Gefahr für schwere Nebenwirkungen mit potenziellen Langzeitschädigungen. Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) schätzt die Häufigkeit von Nebenwirkungen unter 100.000 Patienten, die Fluorchinolone anwenden, auf:

  • 1161 Nebenwirkungen des Nervensystems, vor allem Verwirrtheit und Unruhe
  • 33 Sehnenrisse
  • 8,2 Aorten-Aneurysmen
  • 4 kardiovaskuläre Todesfälle

Hinzu kommen weitere Risiken: Werden Diabetiker mit Fluorchinolonen behandelt, ist das Risiko für Hyper­glykämien stark erhöht. Außerdem laufen sowohl ambulant als auch stationär behandelte Patienten Gefahr, eine Clostridium-difficile-Infektion zu erleiden. Aufgrund des hohen Poten­zials für Nebenwirkungen gelten Gyrasehemmer weltweit als Reserve-Antibiotika, die nur bei lebensbedrohlichen Infektionen und nach dem Versagen anderer Therapien infrage kommen. Aber nicht alle verschreibenden Ärztinnen und Ärzte halten sich an die strengen Vorgaben und setzen die Arzneimittel auch bei unkomplizierten Infektionen ein.

Foto: kojin_nikon/AdobeStock

Ciprofloxacin ist schwer biologisch abbaubar und in Klärschlamm oder dem Abwasser nachweisbar. Weil es in geringen Dosierungen wirkt, ist die Gefahr für Resistenzbildungen hoch. Forscher der Leuphana Universität Lüneburg entwickelten daher zwei Varianten des Gyrasehemmers, die sich nach ihrer medizinischen Anwendung nahezu vollständig zu CO2 und Wasser zersetzen.

USA: „Boxed warnings“ wirken

Die US-amerikanische Arzneimittel­behörde FDA befand im Mai 2016, dass bei unkomplizierten Infektionen die Risiken der Gyrasehemmer deren Nutzen überwiegen, und schränkte die Indikationsgebiete stark ein. Seitdem konnten Chinolone bei der akuten bakteriellen Rhinosinusitis, bei unkomplizierten Harnwegsinfektionen und akuten Exazerbationen von COPD-Patienten – soweit eine Therapiealternative infrage kam – nur noch off label verordnet werden. In Deutschland sind Moxifloxacin und Levofloxacin nach wie vor bei diesen Indikationen zugelassen. Gleichzeitig verpflichtete die FDA Arzneimittelhersteller dazu, die Packungsbeilagen mit „Boxed warnings“ zu versehen. Diese deut­lichen, dick eingerahmten Warnhinweise informieren Patienten über die schweren Nebenwirkungen. Wissenschaftler untersuchten in einer im „JAMA internal Medicine“ veröffentlichten Studie, wie sich unterschiedliche Maßnahmen der FDA darauf auswirken, wie oft Ärzte orale Fluorchinolone verschreiben. Dazu analysierten sie Verschreibungsdaten zwischen 2005 und 2018 bei den drei Indikationen, deren Zulassung die FDA 2016 für Ciprofloxacin und Co. widerrufen hatte. Die Autoren stellten fest, dass Warnungen und Informationen an Fachkreise und aktualisierte Leit­linien das Verschreibungsverhalten US-amerikanischer Ärzte kaum oder gar nicht beeinflussten. Demgegenüber nahmen die Verordnungen ab, unmittelbar nachdem die Behörde die „Boxed warnings“ in den Packungsbeilagen einführte. Trotzdem verschrieben Ärzte Ende 2018 noch immer Fluorchinolone bei 20% der Patienten mit unkomplizierten Harnwegsinfektionen und bei 15% der akuten COPD-Exazerbationen.

Beratungsintensive Chinolone

Nehmen Patienten zeitgleich mehrwertige kationenhaltige Arzneimittel wie Antazida, Aluminium-, Magnesium- oder Eisen-Präparate ein, bilden sich mit Ciprofloxacin und Co. stabile Chelatkomplexe. Durch die reduzierte Resorption der Antibiotika erhöht sich in der Folge das Risiko, dass die minimale Hemmkonzentration des Wirkstoffs im entzündeten Gewebe nicht erreicht wird. Patienten sollten daher in der Apotheke darauf hingewiesen werden, die Antibiotika mit genügend Abstand zu Arzneimitteln und Lebensmitteln, in denen mehrwertige Kationen enthalten sind, einzunehmen: Zwei Stunden vor oder vier Stunden nach Chinolon-Einnahme. Das gilt auch für Milchprodukte. Eine praktikable Empfehlung für Eisen-Präparate ist, diese 30 Minuten vor dem Frühstück zu nehmen, den Gyrasehemmer dann zum Mittagessen.

Zu beachten ist auch das Risiko für potenziell lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen, vor allem, wenn zeitgleich weitere QT-Zeit-verlängernde Arzneimittel eingenommen werden. Einen schnellen Überblick über das Risiko der Begleitmedikation liefert z. B. die Website www.crediblemeds.org.

Bei der gleichzeitigen Glucocorticoid-Einnahme steigt das Risiko für Sehnenrupturen. Zudem ist die Gefahr bei Niereninsuffizienz oder einem Alter über 60 Jahre erhöht. Bei Anzeichen wie Muskelschwäche, Gelenkschmerzen oder Gelenkschwellungen ist es ratsam, die Therapie zu beenden und einen Arzt aufzusuchen.

Die Lage in Deutschland

Laut dem Wissenschaftlichen Institut der AOK wurden in Deutschland seit 2017 jährlich circa 5% aller GKV-Ver­sicherten mit Fluorchinolonen behandelt. Damit belegen Gyrasehemmer nach den Betalactamen, Makroliden und Tetracyclinen den vierten Platz der am häufigsten verordneten Antibiotika-Klassen. Dies lasse darauf schließen, dass die als Reserveanti­biotika behandelten Wirkstoffe noch immer bei leichteren Erkrankungen eingesetzt würden – entgegen der Zulassung und der wissenschaftlichen Empfehlung. Doch die Verordnungen sind rückläufig. In den letzten Jahren gingen sie um circa die Hälfte zurück, Grund dafür dürfte laut dem „Arzneiverordnungs-Report 2020“ vor allem die sich verschärfende Resistenzlage gewesen sein. Im Jahr 2019 war der Rückgang an Verordnungen aber deutlicher als bisher: Mit insgesamt 16,2 Millionen definierten Tagesdosen Fluorchinolonen wurden 30% weniger als im Vorjahr verschrieben. Grund dafür dürfte unter anderem ein Rote-Hand-Brief sein, den das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) am 8. April 2019 veröffentlicht hatte. In diesem warnte die Behörde vor den teilweise irreversiblen Nebenwirkungen und riet unter anderem davon ab, Ciprofloxacin und Co. bei selbst ausheilenden oder anderen leichten bis mittelschweren Infektionen einzusetzen. Sie forderte alle Vertreter der Heilberufe auf, Verdachts­fälle von Nebenwirkungen den Zulassungsinhabern oder dem BfArM zu melden. Der Rote-Hand-Brief rührte daher, dass die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) die Risiken einer Fluorchinolon-Therapie neu bewertet und die Ergebnisse im November 2018 veröffentlicht hatte.

Indikation digital angeben: eine Lösung?

Gegenüber der DAZ-Redaktion sagt Helmut Schröder, stellvertretender WIdO-Geschäftsführer: „Gut ist, dass nach dem Rote-Hand-Brief von 2019 die Fluorchinolon-Verordnungen zurückgegangen sind.“ Es ist zu vermuten, dass die BfArM-Mitteilungen bei Fachärzten mit einer weniger breiten Palette von verordneten Wirkstoffen eine gezieltere Wirkung entfalten konnten – im Vergleich zu den hausärztlichen oder internistischen Arztpraxen. Schröder ist sich sicher: Ein noch effektiverer Bremsweg könne erreicht werden, wenn Ärzte auf der Verordnung auch die Indikation dokumentieren würden. Die Indikation nach ICD-10 wird in Deutschland auf jeder Heilmittel-, aber nicht bei Arzneimittelverordnungen angegeben. Mit dieser Information könnten Apothekerinnen und Apotheker verordnende Ärzte unterstützen, indem sie mit ihnen Rücksprache halten und gegebenenfalls eine indikationsgerechte Arzneimitteltherapie empfehlen. „Zwingend erforderlich für dieses partnerschaftliche Modell mit einem Vier-Augenprinzip ist jedoch die Transparenz über die verordnungs­auslösende Diagnose auf dem Rezeptblatt“, so Schröder. Auch wenn dies zunächst nach einem bürokratischen Mehraufwand klingt, sind die Diagnose und das verordnete Arzneimittel in der Praxissoftware bereits hinterlegt. In Zeiten der Digitalisierung kann die Praxissoftware Ärzten zudem helfen, Arzneimittel ausschließlich bei Indikationen mit einem positiven Nutzen-Risiko-Verhältnis einzusetzen und den Arzneimitteln passende Rote-Hand-Briefe zuzuordnen. „Wenn die vorhandenen Daten genutzt werden, könnten erste Verdachtsmomente über Risiken von Arzneimitteln schneller in der Praxis ankommen und die Patientensicherheit erhöhen“, fasst der AOK-­Versorgungsforscher zusammen. |
 

Literatur

Fluorchinolon-Antibiotika: Schwerwiegende und anhaltende, die Lebensqualität beeinträchtigende und möglicherweise irreversible Nebenwirkungen. Rote-Hand-Brief des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 8. April 2019

Geisslinger G, Menzel S, Gudermann T, Hinz B, Ruth P. Mutschler Arzneimittelwirkungen. Begründet von Ernst Mutschler, 11. Auflage 2020. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart

Schröder H et al. Risikoreiche Verordnungen – Die Gefahren durch Fluorchinolon-Antibiotika in Zahlen. Deutsche Apotheker Zeitung 2019, Nr. 50, S. 54

Schwabe U, Ludwig WD. Arzneiverordnungs-Report 2020. Springer Nature 2020

TT Phuong et al. Association of US Food and Drug Administration Removal of Indications for Use of Oral Quinolones With Prescribing Trends. JAMA Intern Med 2021, doi:10.1001/jamainternmed.2021.1154

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