Arzneimittel und Therapie

Up to date in der MS-Therapie

Aktualisierte S2k-Leitlinie gibt Hinweise für spezielle Patientengruppen

Vor Kurzem wurde die Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der multiplen Sklerose aktualisiert. Neben neu aufgenommenen Empfehlungen für spezielle Patientengruppen wurde auch das bisherige Stufenschema durch eine neue Einteilung der Immuntherapeutika in drei Wirksamkeitskategorien abgelöst.

In Deutschland sind über 250.000 Menschen an multipler Sklerose (MS) erkrankt, jedes Jahr erhalten mehr als 10.000 Personen die Erstdiagnose MS. Sie zählt demnach zur häufigsten Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems. Betroffene weisen multi­fokale ZNS-Läsionen auf, die sich klinisch als neurologische Defizite äußern und einen episodischen (in „Schüben“) oder progredienten Verlauf annehmen. Die Erkrankung beginnt meist zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr. Durch intensive Forschung konnten in den letzten Jahren sowohl die diagnostischen als auch die therapeutischen Maßnahmen deutlich verbessert werden. Ziel der aktualisierten konsensbasierten Leitlinie ist es, evidenzbasierte Therapieempfehlungen zu geben und die Versorgungsqualität der betroffenen Patienten zu optimieren.

Diagnose und Verlaufsformen

Die multiple Sklerose ist eine Ausschlussdiagnose – klinische Symptome und der Nachweis einer zeitlichen und räumlichen Dissemination (Streuung) von ZNS-Läsionen sind notwendig. Hierzu erfolgen MRT-Aufnahmen mit standardisierten Sequenzen und Liquoruntersuchungen.

Es werden folgende Verlaufsformen der multiplen Sklerose unterschieden:

  • schubförmig remittierende MS
  • sekundär progrediente MS
  • primär progrediente MS

Am weitesten verbreitet ist die schubförmig remittierende MS, an der Frauen zwei- bis dreimal häufiger als Männer erkranken. Die Verlaufsformen werden zudem nach „Aktivität“ (das Auftreten von Schüben) und „Progression“ (schubunabhängige Zunahme der Behinderung) differenziert.

Foto: Shane/AdobeStock

MS-Schubtherapie

Ein MS-Schub wird als das Auftreten neuer oder eine Reaktivierung neurologischer Defizite definiert und weist folgende Kriterien auf:

  • mind. 24 Stunden anhaltend
  • mit einem Intervall von über 30 Tagen zum Beginn vorheriger Schübe auftretend
  • nicht durch andere organische oder physische Ursachen hervorgerufen

Die Behandlung eines Schubs erfolgt standardmäßig mit intravenöser Gabe von Methylprednisolon (500 bis 1000 mg/Tag für drei bis fünf Tage). Dabei sollte die Indikation zur Glucocorticoid-Therapie nach Schubschwere, Verträglichkeit, Komorbiditäten und Kontraindikationen gestellt werden. Im Vergleich zu Prednisolon hat Methylprednisolon den Vorteil der geringeren mineralcorticoiden Wirkung, der höheren Rezeptoraffinität und der besseren Liquorgängigkeit. Bei anhaltenden Beschwerden kann individuell eine Apherese-Therapie erwogen werden.

Immuntherapie der schubförmigen MS ...

Die derzeit zugelassenen Immuntherapeutika können eine multiple Sklerose nicht heilen, aber den Verlauf modifizieren – mit dem Ziel, die Krankheitsaktivität zu verhindern bzw. zu reduzieren und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Dabei sollten die Vor- und Nachteile der Immun­therapie mit den Patienten besprochen werden und die Auswahl anhand der Aktivität der Erkrankung erfolgen. Die Immuntherapeutika lassen sich anhand ihrer Reduktion der entzündlichen Aktivität (Schubrate, MRT-­Aktivität, Progression) in drei Wirksamkeitskategorien unterteilen:

Kategorie 1 (relative Reduktion der Schubrate im Vergleich zu Placebo von 30 bis 50%):

  • Beta-Interferone
  • Dimethylfumarat
  • Glatirameroide
  • Teriflunomid

Kategorie 2 (relative Reduktion der Schubrate im Vergleich zu Placebo von 50 bis 60%):

  • Cladribin
  • Fingolimod
  • Ozanimod

Kategorie 3 (Reduktion der Schubrate unter 60% im Vergleich zu Placebo oder über 40% im Vergleich zu Substanzen der Kategorie 1):

  • Alemtuzumab
  • CD20-Antikörper (Ocrelizumab, Rituximab off label)
  • Natalizumab

Sollte ein wahrscheinlich hochaktiver Verlauf vorliegen, sind Substanzen der Kategorie 2 und 3 zu bevorzugen. Ist dies nicht der Fall, werden Arzneistoffe der Kategorie 1 eingesetzt. In der Leitlinie lassen sich zudem für jede Kategorie Beispiele für definierte Einstiegs-, Wechsel- und auch Ausstiegsszenarien finden.

... und der progredienten MS

Nach der aktuellen Studienlage sollten zur Behandlung der primär progredienten MS die CD20-Antikörper Ocrelizumab oder Rituximab verordnet werden. Bei Patienten über 50 Jahre sollte die Indikation streng gestellt werden – besonders beim Fehlen entzündlicher MRT-Aktivität. Bei aktiver sekundär progredienter MS kommen Siponimod, Beta-Interferone, Cladribin und CD20-Antikörper zum Einsatz.

Die Therapiedauer richtet sich indi­viduell nach dem Patienten und der Krankheitsaktivität. Patienten, die vor Einleitung einer Immuntherapie eine geringe Krankheitsaktivität aufwiesen und unter der Therapie mit einer Substanz der Kategorie 1 keine Aktivität zeigen, kann auf Wunsch nach mindestens fünfjähriger Behandlung eine Therapiepause erwogen werden. Die Patienten sind jedoch darüber aufzuklären, dass das Vorgehen nicht evidenzbasiert ist und derzeit keine Absetzstudien vorliegen. Nutzen und Risiken sowohl der Fortsetzung der Therapie als auch des Aussetzens müssen individuell abgewogen werden – dabei sind regelmäßige Verlaufskontrollen notwendig.

Besondere Situationen

MS und Schwangerschaft

Frauen mit multipler Sklerose und bestehendem Kinderwunsch sollten über den Krankheitsverlauf während und nach einer Schwangerschaft beraten werden. Wenn möglich, sollte eine Schwangerschaft in einer stabilen Phase der Krankheit angestrebt werden. Im Vorfeld und auch während der Schwangerschaft sollte eine interdisziplinäre Betreuung durch den behandelnden Neurologen und Gynäkologen erfolgen. Sollte es während der Schwangerschaft zu einem akuten Schub nach dem ersten Trimenon kommen, kann eine Therapie mit hochdosierten Glucocorticoiden ein­geleitet werden – im ersten Trimenon nur nach strenger Nutzen-Risiko-­Abwägung. Die Weiterbehandlung mit Immuntherapeutika muss individuell erörtert werden. Beta-Interferone und Glatirameroide können bei schwangeren Frauen mit hoher Krankheitsaktivität zum Einsatz kommen.

MS im Kindes-/Jugendalter

Die Behandlung des akuten Schubs erfolgt wie bei Erwachsenen mit Glucocorticoiden. Hier wird Methylprednisolon gewichtsadaptiert appliziert (pro Kilogramm Körpergewicht 20 mg/Tag; Maximaldosis 1000 mg/Tag). Bei Vorliegen einer schubförmig remittierenden MS können bei leichten bis mittelschweren Verläufen Beta-Interferone oder Glatirameroide eingesetzt werden. Ab einem Alter von zehn Jahren und aktivem Krankheitsverlauf kann ein Wechsel auf Fingolimod in Erwägung gezogen werden.

Sonstiges

Darüber hinaus enthält die neue Leit­linie Informationen zur Diagnostik und Therapie der MS-verwandten Krank­heiten Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) und der MOG (Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein)-IgG-assoziierten Erkrankungen. |

Literatur

Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen. S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). AWMF-Leitlinie Registernummer 030/050, Stand: Februar 2021

Neue S2k-Leitlinie für Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose. Presseinformation der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). https://dgn.org/wp-content/uploads/2021/05/210510_PM_neue-MS-Leitlinie_final.pdf, letzter Zugriff 10. Juni 2021

Apothekerin Dr. Martina Wegener

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