Foto: DAZ/Alex Schelbert

5 Jahre EuGH-Urteil

Warum die Aufregung?

Die Sorge um den Bestand des Apothekensystems

Fünf Jahre nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 19. Oktober 2016 blicken wir auf diesen Tag zurück. Obwohl in der Zwischenzeit eine Pandemie die Welt erschüttert hat, ist diese Erinnerung geblieben. Doch warum war die Auf­regung über das Urteil so groß, dass wir heute noch darüber sprechen? – Weil es die Kraft hatte, das Apothekensystem aus den Angeln zu heben! | Von Thomas Müller-Bohn 

Das Urteil war für die Apotheker wie ein Donnerschlag. Noch drei Jahre später war auf berufspolitischen Veranstaltungen zu hören, dass sich die Apotheker seitdem im Ausnahmezustand befinden. Die gesetzliche Reaktion auf das Urteil hat bis zur Corona-Pandemie die Berufspolitik als zentrales Thema bestimmt und damit andere wichtige Themen in den Hintergrund gedrängt. Die Honorardebatte kam nicht in Gang, weil alle Arbeit auf die Reaktion zu diesem Urteil fokussiert werden sollte. Denn das Urteil griff die Arzneimittelpreisbindung und damit eine entscheidende Säule an, die das Apothekensystem trägt.

Preisbindung als Säule des Systems

Das System der von freiberuflichen Inhabern geführten Apotheken stützt sich auf das Fremd- und Mehrbesitzverbot, die Apothekenpflicht und die Preisbindung für Rx-Arzneimittel. Ohne diese Säulen wären die Apotheken komplett anders und es wäre unklar, ob sie dann ihre Aufgaben erfüllen könnten. Das Fremd- und Mehrbesitzverbot wurde 2004 durch die Zulassung von Filialen eingeschränkt, aber der Grundsatz ist geblieben. Nur Apotheker dürfen Inhaber einer Apotheke sein und müssen diese selbst betreiben – mit speziellen Regeln für bis zu drei Filialen. Auch die Preisbindung wurde 2004 eingeschränkt. Bis dahin galt sie für alle apothekenpflichtigen Arzneimittel, seitdem nur noch für verschreibungspflichtige Arzneimittel. Doch die Idee dahinter ist geblieben. Feste Preise sollen die Patienten und Krankenkassen vor Überforderung und die Apotheken vor ruinösem Wettbewerb schützen.

Festzuschlag muss Infrastruktur finanzieren

Die Preisbildung gemäß Arzneimittelpreisverordnung ist darauf ausgerichtet, dass die Apotheken eine gewisse Anzahl und eine Mischung verschiedener Arzneimittel abgeben. Neben dem nur dreiprozentigen Aufschlag auf den Einkaufspreis ist der Festzuschlag von 8,35 Euro abzüglich Kassenabschlag bei den meisten Arzneimitteln der größere Teil des Apothekenhonorars. Er fällt in gleicher Höhe bei allen Rx-Arzneimitteln an, unabhängig vom jeweiligen Beratungsbedarf und sonstigen Mühen wie individueller Bestellung und Nachlieferung (hinzu kommt neuerdings allenfalls das Botendiensthonorar). Hier findet also eine Mischkalkulation zwischen mehr oder weniger arbeitsaufwendigen Fällen statt. Außerdem muss jede Apotheke eine gewisse Menge von Rx-Arzneimitteln absetzen. Denn neben den unmittelbar handlungsbezogenen Kosten hat jede Apotheke Fixkosten, insbesondere für Räume, Möbel, technische Ausstattung, Energie und Verwaltung. Sie muss eine Infrastruktur in Betrieb halten, um ihren staatlichen Auftrag zur Sicherstellung der Versorgung wahrnehmen zu können. Doch der Festzuschlag auf Rx-Arzneimittel ist die einzige vom Staat abgesicherte Honorierung der Apotheke, die diese Infrastruktur finanzieren kann. Alle anderen gesicherten Honorarkomponenten, beispielsweise für Rezepturen und den Notdienst, sind als Zuschüsse konzipiert. Sie sind zumeist nicht kostendeckend. Der Festzuschlag ist daher kein Beratungshonorar, wie gelegentlich behauptet wird, sondern eine Honorierung für die Apotheke als Ganzes – Infrastruktur und einzelne Leistungen. Einiges Geld kommt noch aus dem OTC-Geschäft und dem Randsortiment, aber seit dem Ende der Preisbindung für OTC-Arzneimittel ist das nicht mehr abgesichert. Die Preise sind vielfach so niedrig, dass sie nur noch den Aufwand für das jeweilige Produkt finanzieren. Für die Infrastruktur bleibt dann nichts übrig. Das ergibt sich teilweise aus dem Wettbewerb der Vor-Ort-Apotheken untereinander, aber meist noch mehr aus den niedrigen Preisen der Versandapotheken. Diese erzielen Einkaufsvorteile bei großen Mengen und haben geringe Beratungskosten beim Betrieb einer Telefonhotline mit Warteschleife. Der Gesetzgeber wollte offenbar, dass die Patienten so von günstigen Preisen profitieren. Doch der Staat fordert weiter eine aufwendige Infrastruktur von den Apotheken und die lässt sich nun nur noch mit einer ausreichenden Zahl abgegebener Rx-Arzneimitteln finanzieren.

Foto: Privat

Anfang 2019 machten Gregor Nelles (links) und Alexander Hildebrandt (rechts) in Anlehnung an die französische Gelbwesten-Bewegung darauf aufmerksam, dass sie mit der teilweisen Aufhebung der Rx-Preisbindung nicht einverstanden sind.

Das Schreckensszenario

Darum fürchteten die Apotheker nach dem EuGH-Urteil im Rx-Bereich eine ähnliche Entwicklung wie zuvor bei den OTC-Arzneimitteln. Ausländische Versender könnten die chronisch-kranken Patienten mit planbarem Arzneimittelbedarf durch Boni anlocken. Gerade diese Patienten sind für die Apotheken besonders wichtig, weil der Aufwand dort oft überschaubar ist. Die Apotheken hätten dann weniger Umsatz und dort würden sich die eiligen und aufwendigen Fälle häufen. Denn für den akuten Bedarf ist der Versand zu langsam. Es ging also um eine doppelte Sorge: den Verlust von Absatzmengen in den Vor-Ort-Apotheken und die Rosinenpickerei des Versandes. Problematisch war außerdem die Inländerdiskriminierung. Denn nach dem EuGH-Urteil durften nur ausländische Versender Boni gewähren, während sich deutsche Apotheken weiterhin an die Arzneimittelpreisverordnung halten müssen. Doch es wurde auch erwartet, dass die deutsche Preisbindung damit nicht mehr lange zu halten sein würde. Damit wäre zwar die Inländerdiskriminierung beseitigt worden, das Problem aber noch größer geworden. Letztlich wurde befürchtet, dass das bestehende Versorgungssystem nicht mehr finanziert werden könnte. Die Apotheken vor Ort würden zu Lückenbüßern für Fälle, in denen der Versand nicht funktioniert. Es könnten nur noch Apotheken an bevorzugten Standorten überleben und dort ihr Geschäft zu einem großen Teil mit der Spezialversorgung für besondere Patientengruppen oder mit OTC-Arzneimitteln für ein zahlungskräftiges Publikum machen. Doch so wäre die flächendeckende Versorgung nicht zu gewährleisten. Denn das ist der Sinn der Arzneimittelpreisbindung: Auch in sozial schwachen Stadtteilen und ländlichen Regionen sollen genug Apotheken dauerhaft bestehen können, um dort die Versorgung zu sichern. Es ging damit also um den Bestand des Systems.

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Am 24. März 2019 zogen mehrere hundert Apotheker und Apothekenmitarbeiter durch das Berliner Regierungsviertel: Sie protestierten gegen das Apothekensterben und gegen einen zu großen Einfluss großer Wirtschaftskonzerne auf die Arzneimittelversorgung.

So schlüssig diese Argumente in der Theorie auch sein mögen, gibt es allerdings keinen empirischen Beweis für die erwartete Marktreaktion. Der EuGH hatte bemängelt, dass die Bundesregierung ihre Position nicht genug begründet hätte. Ein empirischer Beweis würde allerdings erfordern, dass das System erst zerstört werden muss, um zu zeigen, wie gefährlich die Konstellation ist. Daher ging es eher um die Frage, welchen Bewertungsspielraum die Regierung eines EU-Mitgliedstaates bei ihrer Gesetzgebung hat. Damit hatte das Thema auch noch einen grundlegenden europa­politischen Aspekt und zusätzliche politische Brisanz.

Foto: DAZ

Im August 2018 übergab der Pharmaziestudent Benedikt Bühler das Petitionsergebnis für ein Rx-Versandverbot symbolisch an Thomas Müller vom Bundesgesundheitsministerium.

Reaktionen des Marktes

Die tatsächliche Entwicklung in den folgenden Jahren hat die Befürchtungen der Apotheker im Ansatz bestätigt, auch wenn das System seitdem nicht zusammengebrochen ist. In Vorab-Ergebnissen aus einer laufenden Studie wurde erst kürzlich auf Daten der Marktforschung aus dem Jahr 2016 verwiesen. Demnach sind die Marktanteile der ausländischen Versender bei Rx-Arzneimitteln im Zusammenhang mit dem Urteil offenbar gestiegen. Außerdem gibt es Hinweise, dass diese Marktanteile nach dem Verbot der Boni durch das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz wieder gesunken sind (siehe DAZ 2021, Nr. 40, S. 20 f.). Darauf deuten auch die vorläufigen Geschäftsergebnisse hin, die die Shop-Apotheke kürzlich veröffentlicht hat (siehe DAZ 2021, Nr. 40, S. 14). Allerdings sind die Marktanteile der Versender bei Rx-Arzneimitteln auch über mehrere Jahre nach dem EuGH-Urteil nicht über die Größenordnung um ein Prozent hinaus angestiegen. Dies hat die Existenz der Apotheken nicht wesentlich beeinträchtigt, der große Marktanteil der Versender bei OTC-Arzneimitteln hatte sicherlich größere Folgen. Doch dabei sind zwei zusätzliche Aspekte zu berücksichtigen. Erstens haben die Apotheker nach dem EuGH-Urteil sofort deutlich gemacht, dass eine massive Reaktion nötig ist. Lange Zeit stand ein mögliches Rx-Versandverbot im Raum. Die Versender hätten sich daher durch aggressives Marketing in diesem Bereich selbst geschadet. Wäre der Marktanteil der Versender in dieser Situation schnell erheblich gestiegen, hätte der Gesetzgeber vermutlich mit einem Rx-Versandverbot reagiert. Der lange gesetzliche Schwebezustand hat alle Beteiligten praktisch gelähmt. Die Entwicklung unter diesen Bedingungen sagt daher nur wenig darüber aus, wie sich der Markt langfristig bei gesicherten Rahmenbedingungen entwickeln würde. Der zweite Aspekt ist das erwartete E-Rezept, das den Zugang der Patienten zu Versendern vereinfachen wird. Die Versender betonen regelmäßig, dass sie im E-Rezept eine große Chance für ihre Geschäftsentwicklung sehen. Doch die Zeit nach dem EuGH-Urteil war zugleich die Zeit des Wartens auf das E-Rezept. Die Entwicklung in dieser Zeit erlaubt daher kaum Schlüsse, wie sich der Markt mit Boni und E-Rezepten verändern würde.

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Am 17. Mai 2017 überreichte ABDA-Präsident Friedemann Schmidt die 1,2 Millionen nach dem EuGH-Urteil in Apotheken gesammelten Unterschriften an die Mitglieder des Gesundheitsausschusses des Bundestags (v. l.): Reiner Meier (CSU), ­Elisabeth Scharfenberg (Grüne), Michael Hennrich (CDU), Edgar Franke (SPD), Friedemann Schmidt und Rudolf Henke (CDU) bei der symbolischen Übergabe im Foyer des Reichstagsgebäudes.

Lange Unsicherheit nach dem Urteil

Alle hier beschriebenen Befürchtungen standen im Raum, als der EuGH am 19. Oktober 2016 das von kaum einem Beobachter erwartete Urteil bekannt gab. Dass die Aufregung darüber so lange anhielt, erklärt sich aus der Entwicklung nach dem Urteil. Mit dem Plan für ein Rx-Versandverbot gab es schnell eine Lösungsidee. Der EuGH hatte argumentiert, den grenzüberschreitenden Handel könne es nur nach den EU-Regeln des freien Warenverkehrs mit freien Preisen oder gar nicht geben. Das abgestufte Konzept des deutschen Rechts, eher Preise zu regeln, als den Versand ganz zu verbieten, passte nicht zur europäischen Sicht. Damit lag die Konsequenz nahe, den Rx-Versand ganz zu verbieten. Der zähe Kampf um diese Antwort auf das Urteil hat das Thema sehr lange ganz oben auf der berufspolitischen Tagesordnung gehalten. Als der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe von Jens Spahn abgelöst wurde, ergab sich eine neue Lage, weil Spahn gegen das Rx-Versandverbot war. Die lange Suche nach einem tauglichen Ersatz sorgte dafür, dass das Thema jahrelang weiter ganz oben auf der Agenda blieb. Die Apotheker mussten immer wieder auf das Problem aufmerksam machen. Dabei wurde heftig gestritten, ob die Sorgen wirklich gerechtfertigt waren und wie eine angemessene Antwort aussehen kann. Das Ergebnis ist das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz. Es trat erst am 15. Dezember 2020 in Kraft, also mehr als vier Jahre nach dem Urteil, auf das es reagiert. Diese Reaktion ist das sozialrechtliche Verbot der Rx-Boni, das auch für ausländische Versender gilt, sofern sie Geld von der Gesetzlichen Krankenversicherung erhalten. Damit bleiben Boni ausländischer Versender für Privatpatienten und andere Selbstzahler zulässig.

Foto: BMG/Schinkel

Anfang September 2017 nahm Bundesgesundheits­minister Hermann Gröhe (CDU) das im Deutschen Apotheker Verlag erschienene wettbewerbsökonomische Gutachten zum „Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel“ ent­gegen. Die Auftraggeber der Expertise: der Chef der Apothekergenossenschaft Noweda, Michael P. Kuck (rechts), und der Geschäftsführer des Deutschen Apotheker Verlags, Christian Rotta (links).

Bisher wird das Verbot offenbar eingehalten. Es bleibt abzuwarten, ob das so bleibt, wenn das E-Rezept flächendeckend zum Einsatz kommt. Doch zunächst ist der berufspolitische Ausnahmezustand in dieser Hinsicht beendet. Zwischenzeitlich hat die Corona-Pandemie ohnehin alle anderen Themen überlagert. Im Rückblick bleibt die Erinnerung an Jahre, in denen es nur ein Thema zu geben schien. In der Vorausschau stehen wir nun vor vielen anderen Aufgaben, die in dieser Zeit liegengeblieben sind, allen voran eine bessere Honorierung für die Apotheken. |

Autor

Dr. Thomas Müller-Bohn, Apotheker und Dipl.-Kaufmann, DAZ-Redakteur

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