Arzneimittel und Therapie

Wenn Kinder unter Harnwegsinfekten leiden

Neue Leitlinie bietet Orientierung bei schwierig zu deutenden Symptomen

Harnwegsinfektionen treten bei Säuglingen und Kindern häufig auf und gehören in ärztliche Behandlung. Die im August dieses Jahres veröffentlichte 2k-Leitlinie „Harnwegsinfektionen im Kindesalter – Diagnostik, Therapie und Prophylaxe“ richtet sich aus diesem Grund an Pädiater, Urologen, Kinderchirurgen und weitere Facharztgruppen. Einige Aspekte können aber auch für die Beratung in der Apotheke hilfreich sein.

Die Leitlinie enthält Empfehlungen für das gesamte Kindes- und Jugendalter, also von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr. Somit schließt sie auch Jugendliche ein, für die eine Selbstmedikation in gewissen Grenzen möglich ist. Denn einige Mittel wie beispielsweise Präparate mit Bärentraubenblätter-Trockenextrakt (z. B. Arctuvan®) oder Extrakten aus echtem Goldrutenkraut (z. B. Cystinol® long) sind bereits ab zwölf Jahren zugelassen.

Unspezifische Symptome

Bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern führen Harnwegsinfektionen oft zu unspezifischen Symptomen. Vermuten Eltern beim Beratungsgespräch in der Apotheke eine Magen-Darm-Infektion, weil ihr Kind unter Fieber, Durchfall und Erbrechen leidet, kann auch eine Harnwegsinfektion die Ursache sein. Die Leitlinie differenziert hier nach Altersgruppen:

  • Bei Neugeborenen können Symptome wie Trinkschwäche, Gewichtsverlust, Ikterus, grau-blasse Haut oder Berührungsempfindlichkeit Anzeichen einer Pyelonephritis oder sogar einer beginnenden Urosepsis sein. Dagegen ist hohes Fieber bei Neugeborenen mit Harnwegsinfektionen eher ungewöhnlich.
  • Bei Säuglingen zwischen zwei und drei Monaten können dagegen hohes Fieber, erhöhte Erregbarkeit, Erbrechen, Trinkunlust und verminderte Aktivität auf eine Harnwegsinfektion hinweisen. Gelegentlich berichten Eltern über einen auffällig veränderten Uringeruch.
  • Bei Kindern und Jugendlichen sind bei einer Blasenentzündung häufiger Harndrang - wobei nur kleine Urinmengen entleert werden – typisch, außerdem schmerzhaftes Wasserlassen, Unterbauchschmerzen oder ein erneutes Einnässen nach erreichter Harnkontinenz.
Foto: Angelov/AdobeStock

Mädchen leiden häufiger unter Harnwegsinfektionen als Jungen. Ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist angesagt.

Eine sorgfältige Diagnostik ist bei kindlichen Harnwegsinfektionen auch deshalb unumgänglich, weil sie ein Hinweis auf Fehlbildungen des Harntrakts sein können. Darüber hinaus gehören oft wiederkehrende Harnwegsinfektionen zu den häufigsten Begleiterkrankungen bei Kindern mit Harninkontinenz, Blasenfunktionsstörungen wie beispielsweise der überaktiven Blase (Dranginkontinenz) oder einer Dyskoordination von Detrusor und Sphinkter sowie auch bei Problemen mit der Stuhlentleerung. Die Leitlinie gibt deshalb die Empfehlung, dass zur Prophylaxe von rezidivierenden Harnwegsinfektionen Störungen der Blasenfunktion und der Stuhlentleerung unbedingt behandelt werden sollen.

Gravierende Folgen möglich

Definiert sind Harnwegsinfektionen als Besiedlung des Harntraktes durch Infektionserreger, die mit einer lokalen und/oder systemischen Entzündungsreaktion einhergeht. Bei einer Zystitis beschränkt sich die Infektion auf die Harnblase. Dagegen ist bei einer Pyelonephritis (Nierenbeckenentzündung) das Nierenparenchym mit in die Infektion einbezogen. Eine Pyelonephritis im Kindesalter kann gravierende Konsequenzen wie jahrelang andauernde Verzögerungen des Nierenwachstums haben. Entstehen als Folge einer Pyelonephritis Narben im Nierenparenchym, erhöht sich das Risiko für eine renale arterielle Hypertonie. Chronifiziert die Pyelonephritis, kann sie zu einer Niereninsuffizienz führen.

Ohne Zweifel erfordern schwerwiegende Harnwegsinfektionen eine Antibiotika-Therapie. Zu deren Hauptzielen zählen laut der Leitlinie neben der ­raschen Beseitigung der Krankheitssymptome die Vermeidung einer Urosepsis und infektionsbedingter Komplikationen wie Urolithiasis und Nierenabszess sowie die Verhinderung von Nierenparenchym-Schäden.

Infolge der zunehmenden Resistenzentwicklung gegen Antibiotika, wegen ihrer Nebenwirkungen und auch wegen Akzeptanzproblemen gibt es jedoch Bestrebungen, bei unkomplizierten Harnwegsinfektionen nicht-antibakterielle Therapiemöglichkeiten zu etablieren. Dazu zählen auch pflanzliche Mittel und Antiphlogistika.

Mehr Kinderstudien gefordert

Zur therapeutischen und prophylaktischen Wirksamkeit von Phytopharmaka und Antiphlogistika bei Harnwegsinfektionen im Erwachsenenalter gibt es einige Studien, beispielsweise zu Arzneimitteln mit Isothiocyanat-haltigen Extrakten aus Kapuzinerkresse und Meerrettichwurzel (Angocin®), mit Zubereitungen aus Tausendgüldenkraut, Liebstöckelwurzel und Rosmarinblättern (Canephron®) sowie NSAR wie Ibuprofen und Diclofenac. Die Leitlinie bemängelt jedoch, dass für das Kindesalter nur sehr wenige Studien mit geringen Probandenzahlen existieren, sodass Pädiater und Kinderurologen oft auf die Erfahrungen aus der „Erwachsenen-Medizin“ angewiesen sind. Die Leitlinienautoren fordern daher, diese Lücke durch Therapiestudien bei Kindern zu schließen und bei der Prüfung von Antibiotika-freien Mitteln vergleichbare Anforderungen wie bei der Wirksamkeitsprüfung von Antibiotika zu stellen. Dennoch gab es bei der Leitlinienerstellung bei einigen Wirkstoffen einen starken Konsens bezüglich der ­Infektionsprophylaxe und -therapie (s. Kasten). Bei der symptomatischen Behandlung von Harnwegsinfektionen mit analgetisch und antiphlogistisch wirkenden Substanzen wie Ibuprofen oder Diclofenac trat in Studien zwar eine Symptomlinderung auf, es kam aber im Vergleich zu den antibakteriell behandelten Teilnehmern zu mehr Fällen von Nierenbeckenentzündung. Aus diesem Grund werden Antiphlogistika nur eingeschränkt empfohlen (s. Kasten).

Starker Konsens

Nicht-antibakterielle Therapie

„Bei unkomplizierten rezidivierenden Zystitiden im späten Kindes- und im Jugendalter kann eine Infektionsprophylaxe mit nicht–antibakteriell wirksamen Präparaten (z. B. mit D-Mannose, Phytotherapeutika, Isothiocyanaten) als supportive Maßnahme angewandt werden.“

Probatorische Phytotherapie

„Bei jugendlichen Mädchen mit rezidivierenden unkomplizierten Zystitiden kann bei akuter Zystitis die probatorische Behandlung mit einem Phytotherapeutikum erwogen werden, wenn dies nach Aufklärung über das Risiko einer Pyelonephritis ausdrücklich gewünscht wird.“

[Empfehlungen 7.11. und 9.7. der Leitlinie „HWI bei Kindern“, jeweils starker Konsens (d. h. Zustimmung von > 95% der Teilnehmer des Abstimmung)]

Probiotika und Cranberry

Präparate mit Probiotika wie Lactobacillus (L.) acidophilus, L. rhamnosus, Bifidobacterium (B.) bifidum und B. lactis waren in einigen Studien zur Prophylaxe von Harnwegsinfektionen erfolgreich. So führte beispielsweise in einer prospektiven, randomisierten Studie bei Kindern im mittleren Alter von acht Jahren eine Kombination von L. acidophilus und B. lactis mit Nitrofurantoin zu einer geringeren Rate fieberhafter Rezidive als die Verwendung von Nitrofurantoin allein. Die Leitlinienautoren empfehlen aufgrund der jetzigen Datenlage, dass der alleinige Einsatz von Probiotika nicht uneingeschränkt empfohlen werden kann, da deren Wirksamkeit zur Prophylaxe von Harnwegsinfektionen im Kindesalter unzureichend belegt ist. Als Adjuvans zur antibakteriellen Prophylaxe sind Probiotika möglicherweise geeignet (starker Konsens).

Zu Cranberry-Extrakten ist die Datenlage sehr heterogen. Dies spiegelt sich auch in dieser Leitlinie wider. Die Autoren verweisen unter anderem auf eine Cochrane-Analyse, die keine Evidenz zur Wirksamkeit von Cranberrys bei Harnwegsinfektionen finden konnte. Problematisch sei auch, dass die im Handel erhältlichen Produkte stark unterschiedliche Zusammensetzungen und Konzentrationen aufweisen.

Immunstimulation mit rezeptpflichtigen Präparaten

Eine weitere Empfehlung mit starkem Konsens betrifft die Immunstimulation. In Deutschland sind zurzeit zwei verschreibungspflichtige Vollkeimvakzine zugelassen: Uro-Vaxom® Hartkapseln für Erwachsene und Kinder ab vier Jahren bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen ohne funktionelle oder anatomische Anomalitäten, StroVac® ab 16 Jahren als Impfung zur Therapie und Prophylaxe rezidivierender Harnwegsinfekte bakterieller Herkunft. Für das Kindesalter existiert derzeit nur jeweils eine Studie zur Wirksamkeit, sodass die Autoren die prophylaktische Wirksamkeit einer oralen oder parenteralen Immunstimulation für das Kindesalter als unzureichend belegt betrachten. Dennoch kann deren Einsatz laut Leitlinie bei rezidivierenden Zystitiden ohne funktionelle oder anatomische Abnormalitäten erwogen werden.

Tab.: Empfehlungen für die Flüssigkeitszufuhr bei Kindern und Jugendlichen
Alter (Jahre)
1 bis < 4
4 bis < 7
7 bis < 10
10 bis < 13
13 bis < 15
15 bis < 19
Tägliche Flüssigkeitszufuhr über Getränke (ml/Tag)
820
940
970
1170
1330
1530

Primärprophylaxe und ­Gesundheitsförderung

Allgemeinmaßnahmen, die in der Leitlinie unter der Überschrift „Primäre Prophylaxe und Gesundheitsförderung“ subsummiert sind, können ebenfalls für die Beratung in der Apotheke hilfreich sein. So scheint beispielsweise häufiges Windelwechseln bei Säuglingen eine vorbeugende Wirkung auf Harnwegsinfektionen zu haben. Allerdings hatten sich in einer kleinen Studie besonders saugfähige Windeln als eher ungünstig erwiesen, was die Autoren auf eine unzureichende Luftzirkulation und möglicherweise geringe Wechselfrequenz zurückgeführt hatten. Die Phase des „Trockenwerdens“ bei Kleinkindern wird in der Leitlinie ebenfalls angesprochen. Eine möglichst gleichmäßig verteilte, angemessene Flüssigkeitszufuhr und regelmäßige Toilettengänge können nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen zur Prophylaxe rezidivierender Harnwegsinfektionen beitragen. Die Flüssigkeitszufuhr soll dem Alter des Kindes angemessen sein und möglichst gleichmäßig auf fünf bis sieben Portionen über den Tag verteilt werden. Wenn Kinder ausreichend über den Tag trinken (s. Tab.), kindgerechte Toilettenverhältnisse vorfinden und die Blasenentleerung nicht unterdrücken müssen, kann dies möglicherweise zur Primärprophylaxe von Harnwegsinfektionen beitragen. Begünstigend auf Harnwegsinfektionen könnten sich dagegen schlechte Hygienebedingungen auf den Schultoiletten auswirken, weil dann der Gang zur Toilette so lange wie möglich hinausgezögert wird. Nicht zuletzt wird auch auf die richtige Wischtechnik nach dem Toilettengang bei Mädchen („von vorn nach hinten“) verwiesen. Darüber hinaus sind bei Kindern, auch wenn sie bereits von einer Harnwegsinfektion betroffen sind, keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Übertriebene Genitalhygiene (z. B. der Einsatz von Desinfektionsmitteln) ist wahrscheinlich kontraproduktiv. |

Literatur

D-A-CH Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. 2.Aufl., 4.aktualisierte Ausgabe, Bonn 2018

Gesellschaft für Pädiatrische Nephrologie und Arbeitskreis Kinder- und Jugendurologie der Deutschen Gesellschaft für Urologie: Interdisziplinäre S2k-Leitlinie: Harnwegsinfektionen im Kindesalter: Diagnostik, Therapie und Prophylaxe. Version 1, 23. August 2021, www.awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/166-004.html, Zugriff am 22. Oktober 2021

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Lettgen B, Troster K Prophylaxis of recurrent urinary tract infections in children. Results of an open, controlled and randomized study about the efficacy and tolerance of cefixime compared to nitrofurantoin. Klin Padiatr 2002; 214(6): 353-8

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Weinberg GA Harnwegsinfektionen bei Kindern. Stand 2018, /www.msdmanuals.com/de-de/profi/p%C3%A4diatrie/verschiedene-bakterielle-infektionen-bei-s%C3%A4uglingen-und-kindern/harnwegsinfektionen-hwi-bei-kindern, Abruf am 23. Oktober 2021

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

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