Pandemie Spezial

Wirksam ja – aber sicher?

Was von der Impfung Fünf- bis Elfjähriger zu erwarten ist

Die Europäische Arzneimittel-Agentur hat die Zulassung des COVID-19-Impfstoffs von Biontech/Pfizer für Fünf- bis Elf­jährige empfohlen. Studiendaten zeigen eine vergleichbare Immunogenität wie bei Älteren. Doch um die Sicherheit fundiert beurteilen zu können, sind die Probandenzahlen noch zu gering. Bevor eine Kindervakzine Ende Dezember ausgeliefert wird, will die STIKO eine Empfehlung abgeben. Dabei muss sie viele Widersprüche unter einen Hut bringen. | Von Ralf Schlenger

Das „Committee for Medicinal Products for Human Use” (CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) entschied am 25. November 2021, die erweiterte Zulassung des COVID-19-Impfstoffs Comirnaty® von Biontech/Pfizer (BNT162b2) für Fünf- bis Elfjährige zu empfehlen [1]. Grundlage der Bewertung waren unter anderem Daten einer Phase-II/III-Studie zur Wirksamkeit und Sicherheit des Vakzins, das den Kindern in einer verringerten Dosis von 10 µg verabreicht wurde [2]. Gegenüber Kindern ab zwölf Jahren und Erwachsenen wurde die Dosis von 30 µg reduziert. Dies basiert auf einer Phase-I-Studie zur Reaktogenität und Immunogenität an 48 Kindern, an denen 10 µg, 20 µg oder 30 µg BNT162b2 getestet worden waren. In der randomisierten Studie erhielten 1517 Kinder zweimal 10 µg der mRNA-Vakzine im Abstand von drei Wochen und 751 eine Placebo-Impfung. Einen Monat nach der zweiten Dosis von 10 µg mRNA wiesen die Fünf- bis Elfjährigen vergleichbare Titer SARS-CoV-2-neutralisierender Antikörper auf wie 16- bis 25-Jährige nach einer 30 µg-Dosis (geometric mean ratio 1,04, 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,93 bis 1,18). Es gab keine schweren Akutreaktionen. Lokalreaktionen traten im Vergleich zur Kontrollgruppe um rund zwei Drittel häufiger auf. Drei von vier Kindern hatten nach jeder Verum-Dosis Schmerzen an der Injektionsstelle, 10% (nach der ersten Dosis) bzw. 19% (nach der zweiten) Rötungen und Schwellungen. Bei systemischen Reaktionen standen Fatigue (34% bzw. 39%), Kopfschmerzen (22% bzw. 28%) und Muskelschmerzen (9% bzw. 12%) im Vordergrund, jeweils von milder bis moderater Art. Seltener waren schwere Ausprägungen (Fatigue 0,9%, Kopfschmerz 0,3%, Schüttelfrost und Muskelschmerz je 0,1%). Fieber bekamen 8,3% der geimpften Kinder nach der ersten oder zweiten Spritze, unter Placebo-Impfungen trat bei 1% Fieber auf. In der Nachbeobachtungszeit von zwei Monaten nach der zweiten Dosis erkrankten drei geimpfte und 16 ungeimpfte Kinder an ­COVID-19.

Foto: Jacob Lund/AdobeStock

Zulassung ist keine Empfehlung

Professor Dr. Fred Zepp ist ehemaliger Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin Mainz und Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO). Er kommentierte die Studienlage so: „Um die Immunogenität des Impfstoffs zu beur­teilen, reichen die Daten aus. Um die Sicherheit des Impfstoffs zu beurteilen, ist das natürlich völlig unzulänglich. Wir sind im Augenblick besonders kritisch, was die Entwicklung von Herzmuskelentzündungen nach Impfung angeht.“ Die Ständige Impfkommission (STIKO) will nach bisherigen Plänen im Dezember eine Impfempfehlung herausgeben, sobald die dosisreduzierte Formulierung hierzulande auch ausgeliefert werden kann (siehe Kasten „Comirnaty® für Kinder“). Die Nutzen-Risiko-Abwägung muss eruieren, wie häufig Kinder in dieser Altersgruppe schwer an COVID-19 erkranken, eventuell versterben oder länger anhaltende Symptome erleiden. Gleichzeitig muss sie abwägen, inwiefern Risiken bestehen, dass die Impfung selbst zu schweren Nebenwirkungen führen könnte. „Anders als bei der Zulassung steht die Frage im Fokus, für welche Personen oder Menschengruppen in der Gesellschaft die Impfung sinnvoll, wichtig oder hilfreich ist“, betont Zepp.

Das Dilemma: Die Sicherheit werde man erst beurteilen können, wenn der Impfstoff breit eingesetzt werde oder Erfahrungen aus den USA ­bereitstehen [3].

Comirnaty® für Kinder

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gab am 25. November bekannt: Ab dem 20. Dezember sollen 2,4 Millionen Dosen einer speziellen Kinderformulierung von Comirnaty® verfügbar sein. Im Unterschied zu den Vials für Erwachsene ist die Kinder-Vakzine nach der Rekonstitution geringer konzentriert, sodass 0,2 ml der Kinderformulierung 10 µg mRNA enthalten. Die Standard-Vakzine ist doppelt so hoch konzentriert. Außerdem verwendet der Hersteller eine andere Pufferlösung, die den Impfstoff länger haltbar machen soll. Für die Grundimmunisierung sollen die Kinder im Abstand von 21 Tagen zweimal geimpft werden.

Foto: Mat Napo/Unsplash

Sind Erfahrungen aus dem Ausland übertragbar?

In den Vereinigten Staaten wurden bisher rund drei Millionen Fünf- bis Elfjährige mit Comirnaty® geimpft. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hatte dem Impfstoff am 29. Oktober 2021 eine Notfallzulassung für diese Altersgruppe erteilt. Auch in Israel und Kanada begannen die Impfungen in der letzten Woche. Das Gesundheitsministerium in Israel sprach seine Empfehlung am 14. November aus. Beide Behörden kamen zu dem Schluss, dass der individuelle Nutzen der Impfung die möglichen Risiken überwiege, auch wenn COVID-19 bei jüngeren Kindern in der überwiegenden Zahl der SARS-CoV-2-Infektionen milde verläuft [3]. Professor Zepp wendet ein, dass die Belastung dieser Altersgruppe durch die Krankheit oder krankheitsassoziierte Komplikationen von Land zu Land variiert. „Zum Beispiel ist die Krankheitslast im Kindesalter in den USA ungefähr zehnmal so hoch wie in Deutschland. Es sind bestimmte ethnische Gruppen zu 80 Prozent betroffen. Über 60 Prozent der betroffenen Kinder leiden an Adipositas. Insofern kann man im Ausland zu einer anderen Akut-Einschätzung kommen.“ Auch unter Fachleuten in den USA blieb bis zuletzt umstritten, ob die Schutzimpfung allen Kindern zwischen fünf und elf Jahren empfohlen werden sollte – oder nur besonderen Risikogruppen.

Kinder: geringe Krankheitslast

Derweil steigen in Deutschland die Infektionsraten der vierten Welle in fast allen Altersgruppen sprunghaft an. Neu ist der starke Anstieg bei Kindern und Jugendlichen. Sie sind derzeit in der Statistik des Robert Koch-Instituts (RKI) mit am stärksten von Infektionen betroffen, mit Inzidenzen von über 800 bzw. 900 bei den Fünf- bis 14-Jährigen [4]. Doch die Statistik schließt massenhaft asymptomatische Infektionen ein, erklärt Professor Zepp. Kinder und Jugendliche seien die einzige Alterskohorte, die regelhaft ohne einen Anlass getestet werde. „Wir identifizieren permanent eine große Zahl von Kindern und Jugendlichen, die eine symptomlose Auseinandersetzung mit dem Virus durchleben und nicht erkranken.“ SARS-CoV-2-Infektionen im Kindes- und Jugendalter verlaufen häufig asymptomatisch oder mild und bedürfen nur selten einer stationären Therapie. Menschen unter 18 Jahren belegen derzeit nur 0,7% der Intensivbetten [5]. Nach den Erhebungen der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie (DGPI) ist die Rate an Hospitalisierungen bei Kindern derzeit halb so hoch wie im November letzten Jahres. Dem COVID-19-Survey der DGPI wurden in Kliniken seit Beginn der Pandemie in Deutschland und Österreich rund 2000 Kinder und Jugendliche mit SARS-CoV-2-Direktnachweis gemeldet [6]. Davon waren 740 (37%) im Alter zwischen 12 und 17 Jahren und nur 320 (16%) zwischen fünf und elf. „Obwohl Kinder aus Vorsichtsgründen niedrigschwellig ins Krankenhaus aufgenommen werden, und trotz der akut hohen Inzidenzen müssen wir kaum Kinder wegen COVID-19 stationär aufnehmen“, bestätigt ­Philipp Henneke, Professor für klinische Infektionsimmunologie und Leiter der Sektion pädiatrische Infektiologie und Rheumatologie in der Klinik für allgemeine Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Freiburg. „Viel schwerere Verläufe sehen wir jetzt gerade durch Infektionen mit RSV, dem respiratorischen Synzytial-Virus.“ Für niedergelassene Pädiater sei COVID-19 eine milde Erkrankung. Erst recht sind Todesfälle bei Kindern eine Seltenheit. Unter den mittlerweile über 100.000 an oder mit COVID-19 Verstorbenen sind dem RKI bislang 35 validierte COVID-19-Todesfälle bei unter 20-Jährigen übermittelt worden. Bei 25 von ihnen waren Vorerkrankungen bekannt [4]. Diese Risikogruppen würden von der Immuni­sierung profitieren. „Ihnen darf man die Impfung nicht vorenthalten“, sagt Henneke. Beispielhaft nannte er Kinder mit Vorerkrankungen der Lunge, Immunschwäche, Trisomie und anderen Fehlbildungen. „Wir werden wahrscheinlich eine Impfempfehlung für fünf- bis elfjährige Kinder mit Vorerkrankungen erhalten plus Kinder, die im häuslichen Umfeld Personen gefährden könnten, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können“, resümiert Zepp.

„Es gibt für das einzelne zu impfende Kind durch den Impfstoff wenig zu gewinnen. Deswegen muss dieser Impfstoff über jeden Zweifel erhaben sein, was die Sicherheit angeht.“

Philipp Henneke, Professor für klinische Infektionsimmunologie und Leiter der Sektion pädiatrische Infektiologie und Rheumatologie am Universitätsklinikum Freiburg

Kinderimpfungen sind kein Ausweg aus der Pandemie

Inzidenzen und Krankheitslast driften bei Kindern und Jugendlichen weit auseinander, gerade in der Alters­gruppe der Fünf- bis Elfjährigen. Rechtfertigt dies angesichts der nicht abgeschlossenen Risikobewertung die generelle Impfempfehlung? Der Eigennutzen für das Kind müsse im Vordergrund stehen, betont die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Die Forderung, durch Impfungen der Kinder einen allgemeinen Lockdown zu verhindern, lehnt sie als nicht verhältnismäßig ab [7]. Modellierungen, die den Einfluss der Impfungen auf den Pandemieverlauf beschreiben, gibt es bislang aber nur für die Impfung der Zwölf- bis 17-Jährigen, erklärte Dr. med. Berit Lange, Leiterin der Klinischen Epidemiologie in der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung (HZI) in Braunschweig. Hier geht man davon aus, dass die Kinderimpfung die Krankheitslast bei den Erwachsenen um 5% bis 10% reduzieren könnte, in der Altersgruppe der 12- bis 17-Jährigen sogar um mehr als 50%. „Die Impfung der Fünf- bis Elfjährigen könnte einen positiven Einfluss auf die Erkrankungen bei den unter Fünfjährigen haben“, sagt Lange. Das ist relevant, weil die Ein- bis Zweijährigen die Hälfte aller hospitalisierten Kinder im DGPI-Survey ausmachen.

„Wir haben gesehen, dass die Impfung der 12- bis 17-Jährigen indirekt einen positiven Effekt auf das Infektionsgeschehen der unter Zwölfjährigen hat, aber keinen relevanten Effekt auf das der Erwachsenen“, meint hingegen Professor Zepp. Den richtigen Ansatz sieht er in der Impfung derjenigen, die auch die schweren Verläufe und die Hospitalisierungen ausmachen: Erwachsene und Ältere. Einig waren sich die Experten darin, dass jegliche Erstimpfungen, ob bei Jung oder Alt, die aktuell starke Infektionsdynamik nicht brechen werden. Denn erst nach vier bis fünf Wochen würde man die Effekte sehen können.

Österreich impft off label

Das Nationale Impfgremium (NIG) Österreichs hat noch am Tag der Empfehlung der EMA die Corona-Schutzimpfung für Kinder ab fünf Jahren empfohlen – unter Anwendung von einem Drittel der Dosierung des Impfstoffes Comirnaty® für Erwachsene. Das ist aus Sicht der Kinderärzte Zepp und Henneke ein „gesundheitspolitischer Schnellschuss“, der unnötigerweise Kinder gefährden könne. Der ab zwölf Jahren zugelassene Impfstoff enthält 0,3 ml mit 30 µg mRNA. Es gebe mehrere Unsicherheitsfaktoren beim Herstellen und Applizieren einer gedrittelten Dosis: Etwa das winzige applizierte Volumen von 0,1 ml, das Totraumvolumen der Spritze oder das versehentliche Aspirieren, bei der die winzige Menge leicht verloren gehe. So könnte die Impfung wirkungslos bleiben. „Da wir keine Not haben, was die Krankheitslast in dieser Altersgruppe angeht, sollte man nicht eine Erwachsenendosis verdünnen“, warnt Zepp. Die Kindervakzine von Biontech/Pfizer soll erst Ende Dezember zur Verfügung stehen [8]. |
 

Literatur

[1] Comirnaty COVID-19 vaccine: EMA recommends approval for children aged 5 to 11. Pressemitteilung der European Medicines Agency vom 25. November 2021, www.ema.europa.eu

[2] Walter EB et al. Evaluation of the BNT162b2 Covid-19 Vaccine in Children 5 to 11 Years of Age. N Engl J Med 2021, doi:10.1056/NEJMoa2116298

[3] COVID-19-Impfung für Fünf- bis Elfjährige – Wie wichtig ist die Impfung zum Schutz der Kinder? Press-Briefing des Science-Media Center Germany vom 26. November 2021, www.sciencemediacenter.de

[4] Wöchentlicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus Krankheit 2019 vom 25. November 2021, www.rki.de

[5] Aktuelle Altersstruktur der ITs-Belegung durch COVID-19-Fälle. DIVI-Intensivregister. Abgerufen am 29. November 2021, www.intensivregister.de

[6] Aktuelle Ergebnisse der DGPI-Datensammlung von stationären COVID-19-Fällen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Abgerufen am 29. November 2021, dgpi.de/covid-19-survey-update/

[7] SARS-CoV-2-Impfung bei fünf- bis elfjährigen Kindern. Gemeinsame Presseinformation der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) vom 25. November 2021

[8] Corona-Schutzimpfung: Aktuelle Empfehlungen. Information des öffentlichen Gesundheitsportals Österreich vom 26. November 2021, www.gesundheit.gv.at

Autor

Ralf Schlenger ist Apotheker und arbeitet als freier Autor und Medizinjournalist in ­München.

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